Hallo Tigerlili!
Ich finde es erschreckend, in welchem Jahrhundert bzw. Jahrzehnt manche Leute immer noch zu leben scheinen. Und zusätzlich fragt man sich, ob diese Kinder im Alter deines Sohnes haben oder eventuell selbst einmal so was in ihrem Leben erlebt haben.
Ich selbst bin Studentin auf Lehramt. Uns wird beigebracht, dass wir dazu verpflichtet sind, starke Kinder zu fordern, damit sie unseren Unterricht gerade nicht als langsam und langwei-lig empfinden. Dies kann zum Beispiel durch zusätzliche, eventuell auch schwerere Aufgaben erfolgen. Anders müssen wir auch Rücksicht auf schwächere Schüler nehmen, sprich diese fördern und somit die gesamte Klasse auf ein einheitliches Lernniveau bringen.
Viele Lehrer sind jedoch damit überfordert. Wie soll man auch bis zu 35 (!) Kinder in nur 45 Minuten bei einem überfüllten Lehrplan unter einen Hut bringen und dabei auch noch jedes Kind individuell fördern? Umgerechnet bleiben in einer Stunde nur 1 Minute und 17 Sekun-den um jeden Schüler kennenzulernen. Hochgerechnet auf ein Jahr, muss ein Lehrer einen Schüler innerhalb von 5 Stunden, 8 Minuten und 34 Sekunden in- und auswendig kennenler-nen. Hinzu kommt, dass in der Regel ein Lehrerwechsel nach zwei Jahren stattfindet. Ist das wirklich genug Zeit?
Dies ist auch der Grund, warum viele Lehrer ihre Frust dann genau an den Schülern auslassen, die aus der Reihe tanzen, also nicht unter die „Käseglocke der Gesellschaft“, wie einer in sei-ner Meinung richtig erkannt hat, passen.
Die Folge kann Mobbing seitens der Lehrer sein. Mobbing ist oft dadurch gekennzeichnet, dass es innerhalb einer gewissen Hierarchie entsteht. Der Lehrer empfindet den „störenden“ Schüler als „minderwertig“. Minderwertig in dem Sinne, dass er nicht zum Rest der Klassen-gemeinschaft passt. Hierfür gibt es leider nach meinem Verständnis keinen anderen Begriff als den des Mobbings
Dabei ist Reinrufen eigentlich nur ein Hilferuf des Schülers. Entweder weil er sich unterfor-dert bzw. überfordert fühlt, oder weil er das Gefühl hat, nicht beachtet zu werden. Man kann gut verfolgen, dass dies ein Phänomen ist, dass man auch noch in höheren Klassen, bis zu 13ten Klasse existent ist.
Jedes Kind ist einzigartig und hat damit auch unterschiedliche Stärken und Schwächen, die auch sehr unterschiedlich von den anderen Klassenkameraden sein können. Wird dieses Kind auf Grund seiner Einzigartigkeit hin gemobbt, können gravierende bleibende psychische Schäden an dem Kind entstehen.
An dieser Stelle würde ich gerne aus meinem eigenen Leben erzählen. Mein Leben wurde von Lehrern regelrecht in einen Trümmerhaufen gelegt:
Mein Stärken lagen immer in Sport und Englisch. Was ich erlebt habe, beginnt auch in der fünften Klasse. Zunächst im Sportunterricht. Ich leide seit meinem neunten Lebensjahr an einem primären Lymphödem. Es schränkt mich sportlich nicht ein. Ich war sogar richtig gut in meiner „Paradedisziplin“ Schwimmen, belegte erste und zweite Plätze in Einzel- und Mannschaftswettkämpfen meiner Altersklasse.
Dennoch wurde ich von meiner Sportlehrerin als „unsportlich“ eingestuft. Dabei war ich eine quicklebendige, sportliche Schülerin. Und alles nur, weil ich keine perfekten Beine hatte, wie alle anderen Kinder meines Alters. Du wirst also direkt von Anfang an auf Grund deines äu-ßeren Erscheinungsbildes gleich in eine Schublade geschoben. Genauso, wie viele hier deinen Sohn in die Schublade „asozial“ geschoben haben, nur weil er ein „Reinrufer“ ist. Ob sie ihn kennen oder nicht ist dabei nicht relevant. Das einzig relevante ist das Erscheinungsbild. Ich habe seit diesem Erlebnis immer meiner Beine versteckt und verstecke sie auch heute noch.
Dein Sohn hat eine besondere naturwissenschaftlich-logische Begabung. Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Deutsch-Englisch. An meiner Schule war es nur möglich, mit Englisch als erster Fremdsprache zu beginnen. Für mich ein Vorteil. Für meine Englischlehrerin jedoch nicht. Ich war in ihren Augen ein „Störenfried“, da ich mehr konnte als meine Klassenkame-raden. Sie behauptete also immer, ich würde in ihrem Unterricht schlafen, da ich diesen als langweilig und langsam empfand. Begründung für die mündliche Note 5. Das schlimmste war für mich jedoch nicht, dass diese Schikane nicht nur die ersten beiden Schuljahre dauerte, sondern bis zur neunten Klasse. Diese Lehrerin war meine Englischlehrerin wie auch meine Klassenlehrerin durchgängig von der fünften bis zur neunten Klasse.
Und das sie zusätzlich meine Klassenlehrerin war, wurde mir dann in der sechsten Klasse zum „Verhängnis“. Nun war es so, dass meine Klassenkameraden angefangen haben, eine Fünft-klässlerin zu mobben. Ich habe mich damals gegen meine Klassenkameraden und „Freunde“ für diese Fünftklässlerin eingesetzt und mich schützend vor sie gestellt. Danach war ich das Mobbing-Opfer in der Klasse. Geschah irgendetwas, Prügeleien zum Beispiel, dann war im-mer ich der Unruhestifter. Für meine Klassenlehrerin war es einfach den anderen Schülern zu glauben, da sie mich eh nicht mochte. Das machte es den Klassenkameraden noch einfacher.
Kommen wir zum Sportunterricht zurück. Hier geht es weiter in der siebten Klasse. Schwim-men. Eigentlich hätte ich die „Vorzeige-Schwimmerin der Klasse“ sein müssen. Dem war aber nicht so. An einem Tag konnte ich aus gesundheitlichen Gründen nicht am Unterricht teilnehmen. Ich saß in einem gesonderten Raum, in dem ich durch eine Glasscheibe die ande-ren beobachten jedoch nicht hören konnte. Da ich meine Zeit sinnvoll nutzen wollte, fing ich an, meine Hausaufgaben für den nächsten Tag zu machen. Plötzlich stand die Lehrerin im Raum. Beschimpfte mich, was mir einfallen würde, mich mit anderen Dingen, als mit dem Unterricht zu beschäftigen. Sie entriss mir mein Heft. Gab mir auf über die nächste Stunde ein Stundenprotokoll zu verfassen. Ich erhielt einen Eintrag ins Klassenbuch. Und das Heft muss-te ich beim Direktor abholen. Dieser verdonnerte mich zum Reinigen der Schulflure.
Und das alles als Bestrafung, nur weil ich dem Unterricht zwar zugucken, aber nicht zuhören konnte?
Nach diesem Ereignis war ich bei sämtlichen Sportlehrern meiner Schule unten durch. Ich war nur noch die „Schülerin mit der Motivation einer Schlaftablette“. Keinem Lehrer konnte ich es recht machen.
Diese ganze Quälerei, von Seiten der Lehrer und der Schüler, ging bis zur neunten Klasse. Erst dann haben meine Eltern die Notbremse gezogen.
Ich war psychisch kaputt. Mein Körper entstellt von Narben, die ich mir selbst zugefügt hatte.
Ich finde es gut, dass ihr eurem Sohn vertraut, dass er euch die Wahrheit erzählt. Meine Eltern hielten es viel zu lange für die Launen einer Pubertierenden. Die Lehrer lobten mich ja immer vor ihnen. Dieser Glaube hielt aber nur bis zu dem Zeitpunkt als sie die Narben das erste Mal gesehen haben.
Ich habe immer versucht es all meinen Lehrern und Mitschülern und meinen Eltern gerecht zu machen. Ich erzählte zu Hause nichts mehr. Ich wurde in der Schule weiter ausgenutzt und weiter gemobbt. Auch nach dem Schulwechsel. Ich war einfach zu anders, zu kaputt.
Mich würde freuen, wenn es mehr Leute gebe, die den, besonders aber ihren Kindern so etwas ersparen möchten.
Ich bin heute noch davon geprägt. Jedes Mal, wenn ich etwas zum Thema „Mobbing“ höre, kommen die alten Erinnerungen hoch. Ich breche in Tränen aus und möchte mir am liebsten wieder wehtun, um diesen seelischen Schmerzen zu betäuben. Und ich möchte es immer noch allen recht machen. Ich bin zu einer Perfektionistin an mir selbst geworden. Immer wieder quälen mich Selbstzweifel. Ich verstecke mich hinter einer Maske, die mir eigentlich nicht steht.
Ich finde den Schulausschlusses eures Sohnes in soweit gerechtfertigt, da er euch ermöglicht, euch mit der Situation genauestens auseinanderzusetzen. Ist dies überhaupt die richtige Schule für ihn?
Ich wünsche mir für jedes Kind, das ihm so etwas erspart bleibt, wie das, was ich ertragen musste. Seht also den Schulausschluss als Chance, auch wenn er ungerecht erscheint, wenn euer Sohn begeistert lernen möchte.
Entschuldige bitte die Länge dieser Antwort.
Liebe Grüße
KnuddelGruftie