Das Problem
Hallo,
deine Frage „Ist die christliche Religion die wahre Religion?“ enthält einige implizite und somit nicht sofort sichtbare Voraussetzungen, die aus philosophischer Sicht das eigentliche Problem ausmachen, die Frage angemessen zu beantworten. Ich vermute, dass es dir zunächst einmal weiterhilft, deine Frage als Frage zu präzisieren, bevor man eine Antwort sucht.
Zunächst einmal setzt du mit der Frage voraus, dass es eine „wahre“ Religion geben müsse, zumindest jedenfalls gibst du zu erkennen, dass du eine „wahre“ Religion suchst. Was aber bedeutet dieser Begriff? Ich vermute, dass du ihn als Gegensatz zu einer „falschen“ Religion verwendest, die dann vermutlich im Judentum, im Islam, im Buddhismus oder sonstwo anzusiedeln wäre.
Wenn du den Begriff „wahr“ in diesem Sinn gebrauchst, dann ist die zugrunde liegende Frage eine ziemlich alte, die schon Augustinus („Über die wahre Religion“, entstanden zwischen 389 und 391, also schon ziemlich früh) versucht hat zu beantworten. „Wahr“ ist demnach eine (hier die christliche) Religion, wenn sie sich auf ein Prinzip (hier: Gott, im Gegensatz zur Zweiprinzipienlehre des von Augustinus angegriffenen Manichäismus) stützt, also eine einzige Wahrheit sucht, die allem anderen zugrunde gelegt werden kann. Das ist das Entscheidende, auch wenn Augustinus in der Folge (insbesondere später) ziemlich umstrittene Thesen (Dreieinigkeit etc.) vertritt.
Diese Suche nach dem ersten Prinzip sieht Augustinus als Grundlage an und hat damit also das bezeichnet, was man heute nicht als „Religion“, wohl aber „Religiosität“ oder auch „Glaube“ nennen kann. Wenn wir jetzt einen Bogen zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts und insbesondere zu Lessing schlagen, dann wird deutlich, dass die in „Nathan, der Weise“ angedachte prinzipielle Gleichheit aller „Ein-Prinzip-Religionen“ (bei Lessing sind das Judentum, Christentum und Islam, wobei aber andere Religionen nicht prinzipiell ausgeschlossen werden) geradezu verbietet, seine eigene Religion als „wahre“ hinzustellen. In der Prinzipiensuche sieht Augustinus denn auch das Christentum vereinbar mit der Platonischen Philosophie.
Mit der Aufklärung freilich verbindet Augustinus allerdings auch der Glaube bzw. das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der eigenen jeweils angenommenen Prinzipien. Insofern ist also jedes Prinzip, das als Voraussetzung gesetzt wird, kein gewusstes, sondern immer ein geglaubtes Prinzip. Das aber bedeutet, dass wir, um die Frage nach der „Wahrheit“ jeweils unserer eigenen Voraussetzungen nie distanziert betrachten können, jedenfalls nicht, solange wir uns nicht ein anderes, tieferliegendes Fundament legen. Die Distanzierung ist also keine Frage der Fähigkeit, sondern der Methode.
Wer die Bibel liest, schleppt natürlich ganz selbstverständlich Wissen mit sich, das er nicht aus der Bibel entnimmt. Und wer sich dem Bibeltext nähern möchte, ohne eine kritische Distanz dazu einzunehmen, der hat von vornherein nicht etwa Unvoreingenommenheit zu seinem Prinzip gemacht, sondern lediglich Konsistenz, also sich selbst methodisch auf innerbiblische Fragestellungen beschränkt. Durch reine Bibellektüre aber kann man mitnichten etwas über die „Wahrheit“ der Bibel erfahren, sondern allenfalls etwas über die „Wahrheit“ in der Bibel.
Das wusste auch Thomas von Aquin sehr genau, als er in seiner „Summe der Theologie“ den Gegenstand des Glaubens sehr klar vom Gegenstand des Wissens abhob. Gleichzeitig aber betont er, dass Glauben und Wissen denselben Gegenstand betreffen. Wie geht das zusammen? Entscheidend ist der Aspekt , also der Gesichtspunkt, unter dem man den Gegenstand betrachtet. Und dieser Begriff des „Aspektes“, der vom Subjekt her gemeint ist, wirft dann wieder den Bogen zurück auf Augustinus, der fordert, nicht nach außen zu gehen, sondern nach innen, weil die „Wahrheit“ im Inneren des Menschen zu finden ist. Und diese „Wahrheit“, die im Inneren des Menschen zu finden ist, ist nicht „Wahrheit“ im objektiven Sinn, und deshalb kann auch eine Religion nicht „objektiv“ wahr sein, sondern diese „Wahrheit“ ist subjektiv und wird sehr treffend „Wahrhaftigkeit“ genannt.
Freilich: Was du suchst, ist Sicherheit, in der Erkenntnis, ob das Christentum die „wahre“ Religion ist oder nicht. Aber du implizierst mit dieser Formulierung unbewusst nicht nur, dass es die „wahre“ Religion ist bzw. sein soll, sondern auch, dass es die wahre Religion ist bzw. sein soll, dass also alle Alternativen „unwahr“ sein müssten. Aber ist das wirklich der Fall? Das kann ja nur so sein, wenn es eine objektive Instanz gäbe, die das festlegen würde. Dann wäre es in der Tat eine Frage von Interessen, wie schon in einer Antwort an dich geschrieben wurde. Da wir aber festgestellt haben, dass selbst Autoritäten des Christentums die Existenz einer solchen Instanz verneinen, denke ich, kann ich dir getrost empfehlen, dich darauf zu verlassen, dass du – selbst wenn es eine einzige Wahrheit gäbe – diese Wahrheit nicht von einer bestimmten Seite anzugehen gezwungen bist. So bist du also nicht nur von Seiten der Philosophie, sondern auch von religiöser Seite immer auf dich selbst gestellt. Bewahre dir deine Skepsis, und übernimm für dich nur das, was du vor dir selbst auch rechtfertigen kannst! Auch ein christlicher Gott würde nichts anderes von dir verlangen, denn er hätte dich so geschaffen, wie du eben bist - als Mensch - und das heißt: als glaubendes UND denkendes Wesen!
Herzliche Grüße
Thomas Miller