Die Subjektvergessenheit im Materialismus
Hi Phil.
Ich antworte dir jetzt doch an dieser Stelle.
Vorausschicken möchte ich, dass ich versäumt habe, die Begriffe Esoterik und Spiritualität voneinander abzugrenzen, soweit das notwendig erscheint. Es erscheint hier dringend notwendig, weil du gegen esoterische Systeme wie Astrologie oder Tarot argumentierst, mit denen ich selbst genauso so wenig am Hut habe wie du. Konzentrieren wir uns sinnvollerweise auf die Entgegensetzung Spiritualität vs. Materialismus (bzw. Naturalismus).
Spiritualität ist das Herzstück der Esoterik, hat aber nicht unmittelbar etwas mit marginalen Systemen wie den vorgenannten zu tun. Sie leitet sich aus alten westlichen und vor allem östlichen Systemen ab und kann in ihrem Kern als „mystisch“ bezeichnet werden. In der europäischen Philosophie hat sie ihren stärksten Ausdruck bei Plotin, den Deutschen Idealisten und Schopenhauer gefunden, im Asien im Vedanta, im Buddhismus und im Taoismus. Für die Spiritualität bzw. Mystik ist das Weltganze „geistig“. Es reicht als solches bis in das Innerste jeder Manifestation des Geistigen hinein. Zu diesen Manifestationen gehören alle uns bekannten Phänomene der inneren und äußeren Erfahrung. Also auch die Objekte der Naturwissenschaften, der Psychologie und der Geisteswissenschaften. Auf der quantenphysikalischen Manifestationsebene bedeutet das nach David Bohm (nochmals zitiert aus „Das holografische Weltbild“):
"Verfolgt man die Immanenz (des geistigen Weltganzen, H.Tr.) immer tiefer in die Materie, könnten wir meines Erachtens schließlich auf das Fließen stoßen, das wir auch als Geist erfahren, so daß Materie und Geist miteinander verschmelzen. Die äußersten Höhen des Geistes nennen wir Transzendenz; in den Tiefen der Materie finden wir die Immanenz des Ganzen, dessen, was ist.“
Wenn du schreibst:
die Natur scheint auf fundamentaler ontologischer Ebene aufgebaut aus Teilchen, Feldern und einer Art Raumzeit, welche alle strukturell miteinander verflochten sind und dynamisch interagieren.
… dann suggerierst du eine Teilchen-Ontologie, die es so in der Quantenphysik nicht gibt. Ein quantenphysikalisches Phänomen k a n n als Teilchen erscheinen, aber auch als Welle. Real ist es nichts von beidem. Die Erscheinung hängt von der Relation Beobachter-Beobachtetes ab. Man spricht heute vornehmlich von „Wahrscheinlichkeitswellen“, um die subatomare Realität zu beschreiben. Das klingt beim besten Willen nicht mehr materiell. Eher klingt es so, als läge diesen Prozessen eine bisher naturwissenschaftlich nicht erkannte „Geistigkeit“ zugrunde. Das ist ja auch eine Ursache dafür, dass seit Heisenberg (vor ihm schon Planck) mehr und mehr Atomphysiker ins spirituelle Lager wechseln - ein Trend, der ungebrochen anhält.
„Bewusstsein“ gilt in der Spiritualität als das wichtigste Charakteristikum des geistigen Weltganzen. Für die Spiritualität gilt das gesamte Universum (und das Physikalische ist nur ein Teil davon) als „beseelt“ in dem Sinne, dass in allen Manifestationen das Potential von Bewusstsein steckt, auch im „Materiellen“, wenngleich dort natürlich in einer extrem latenten Form.
Erwin Schrödinger, der Begründer der Quantenmechanik, hat gesagt:
„Bewusstsein gibt es seiner Natur nach nur in der Einzahl. Ich möchte sagen: die Gesamtzahl aller ´Bewusstheiten´ ist immer bloß ´eins´.“
Schrödinger war, wie Planck und Heisenberg, spirituell orientiert (was heißt, dass die drei bedeutendsten Quantenphysiker spirituell waren - ein Faktum, das den Naturalisten nicht gefallen kann). Was Schrödinger hier ausspricht, ist eine alte spirituelle Weisheit, am deutlichsten im indischen Vedanta vertreten): das Weltganze hat Bewusstsein („kosmisches Bewusstsein“), das in den Manifestationen in abgeschwächter Form erscheint. Beim Menschen hat es den Status des persönlichen Bewusstseins, das durch die Kategorien Ich, Außenwelt, Kausalität usw. bestimmt ist. Dieses Ego-Bewusstsein hat einen sehr begrenzten Bewusstseinsradius. Es entsteht im Zuge des Hinwachsens des Subjekts in eine Intersubjektivität, die dem Subjekt die Normen für „Wirklichkeit“ vermittelt.
Das Bewusstsein des modernen Subjekts ist also intersubjektiv vor-strukturiert. Es hat definitiv keinen „objektiven Blick“ auf die Natur in dem Sinne, dass es diese Natur so sieht, wie sie „wirklich“ ist. Vielmehr sind es erst die intersubjektiv vermittelten Kategorien des Verstandes, die das Objekt „Natur“ hervorbringen - als Objekt. Das ist in der modernen Philosophie ein allgemein anerkannter Sachverhalt, dem auch du dich kaum wirst entziehen können.
Du schreibst:
Wissenschaft ist vom Selbstverständnis her der der Wahrheit und der Erkenntnis verpflichtet und strebt damit das Objektive und damit das Objektivierbare an. Nachdem aber die Anstrengungen konkret immer aus der subjektiven Warte des einzelnen Wissenschaftlers mit all denn erkenntnistheoretischen Einschränkungen vonstatten geht, ist nicht das absolut Objektive erreichbar und das Ziel muss als pragmatisch realisierbares die intersubjektive Objektivierbarkeit sein.
(„Objektivierbar“ heißt für mich: der Intersubjektivität (anderen Subjekten) direkt vermittelbar - das nur zu meinem Einwand)
Ich denke, das „absolut“ Objektive kann es deshalb nicht geben, weil das Objektive immer etwas Relatives ist - relativ zu den kognitiven Kategorien, den Messmethoden und dem Apparat der Sinnesorgane der Forscher. „Subjekt-Objekt“ ist eine dialektische Einheit, wie wir seit Hegel wissen. Das Objekt konstituiert sich als kognitive Leistung des intersubjektiv fundierten Subjekts, welches sich in diesem Prozess selbst herausbildet.
In diesem Sinne ist Objektivität also eine Bewusstseinsleistung. D.h. das Konzept der Materialität basiert einzig auf der psychoanalytisch beschreibbaren Bildung des Ego und dessen Projektion von Verstandeskategorien auf das Feld der Sinnesdaten.
Der Naturalismus unterschlägt genau dieses Moment, wenn er das Objekt vom Bewusstsein abkoppelt und so tut, als hätte es eine eigenständige Existenz. Statt zu bedenken, dass Natur ein sekundäres Phänomen ist (als Objekt, das vom Subjekt konstituiert wird), wird sie zur Substanz des einzig Wirklichen hochstilisiert. Die Subjektivität aber, das Bewusstsein, wird zum sekundären Phänomen degradiert und fällt unter den Tisch.
Damit werden, aus spiritueller Sicht, die Dinge auf den Kopf gestellt.
Entsprechend kühn geraten dann die Überlegungen des Naturalismus zur Genese des Mentalen. Die Spiritualität hat damit kein Problem: sie geht davon aus, dass Geistigkeit eine universale Substanz ist, die sich in abgestuften Formen manifestiert und von einem bestimmten Punkt an in Bewusstsein umschlägt - hier von „Emergenz“ zu sprechen, halte ich für sinnvoll, denn sie besagt dabei nicht „creatio ex nihilo“ wie beim Naturalismus.
Auch ich halte den Materialismus in einer strengen Form nicht für haltbar, sondern eher des umfassenderen Naturalismus unter Einbeziehung des Emergenzkonzepts.
Dieses naturalistisch begrenzte Konzept steht einfach vor dem Problem, plausibel zu machen, wie es aufgrund eines quantitativen Prozesses (Steigerung von neuronaler Komplexität) zu der Art von Qualität kommen kann, die charakteristisch ist für das menschliche Bewusstsein. In der dir sicher bekannten „Qualia“-Debatte innerhalb der Philosophie des Geistes wird genau dieses Problem vielfältig diskutiert. Den Emergenz-Standpunkt aus naturalistischer Sicht vertritt dabei vor allem Searle.
Die naturalistische Lösung bleibt aber in Anbetracht des evidenten Unterschieds von Qualia und damit korrelierenden Messdaten allzu abstrakt, sie vermag den Abgrund zwischen beiden Kategorien nicht überzeugend zu überbrücken.
Nehmen wir – geläufigstes Beispiel – die Farbe Rot. „Objektiv“ besteht Rot aus elektromagnetischen Schwingungen mit der Wellenlänge 650 - 750 nm und der Wellenfrequenz 462,5 – 400,5 Thz. Dagegen ist Rot in subjektiver Hinsicht eine sinnliche Wahrnehmung mit einer bestimmten - farblichen - Qualität. Manche „Rots“ wirken schön oder aufregend oder wie auch immer - was aber den dazugehörigen Frequenzen nicht anzusehen ist.
Aufgrund des Qualia-Arguments behaupten viele, dass das Mentale (also die Dimension der Qualia) eine von der physischen Dimension unabhängige Existenz hat, da nicht erklärbar ist, wie sich der Übergang vom Quantitativen (Frequenzen) zum Qualitativen (Farbe) innerhalb der quantitativen Dimension (dem Materiellen) vollziehen kann.
Hier hat der Naturalismus also ein gravierendes Erklärungsdefizit, das er mit Konzept zu füllen versucht, die abstrakt bleiben. Die Spiritualität geht dagegen von „feinstofflichen“ geistigen Feldern aus, die den „grobstofflichen“ physischen Körper einhüllen und beleben und Träger von Bewusstsein und Emotionen sind. Die Transformation der neuronal übertragenen qualitativen Sinnesdaten in Qualia findet eben innerhalb dieser Felder statt - Farben, Klänge, Gefühle usw. sind mentale Eigenschaften, Qualia.
Die Naturwissenschaft ist also auf die quantitative grobstoffliche Dimension beschränkt. Der Materialist differenziert diese aber nicht von der qualitativen (feinstofflichen) Dimension (er verdrängt ja ohnehin den Bewusstseinsaspekt) und konfundiert bei seinem Naturbegriff das Quantitative mit dem Qualitativen. Er denkt z.B.: Farben und Klänge - das ist etwas Äußeres. Gefühle sind etwas Inneres. Das ist so aber nicht richtig. Farben und Klänge werden meistens - nicht immer - zwar von quantitativen Sinnesreizungen verursacht, sind selbst aber nicht physisch, sondern mental.
Denker wie Wilber, Searle und Varela schlagen daher vor, Wirklichkeit unter mindestens zwei Aspekten zu erforschen: die Subjekt-Perspektive (Qualia) und die Objekt-Perspektive (Messdaten). Searle spricht dabei von „Erste-Person-Ontologie“ und „Dritte-Person-Ontologie“.
Und wann kommt Sheldrake oder gar Broers?
Keine Ahnung, die wollten um 6 hier sein, sind wohl im Verkehr hängengeblieben (heute Wies´n-Start). Vielleicht kommt aber Prof. Dürr, Leiter des Münchner Max-Planck-Instituts. Ein sehr spirituell orientierter Topwissenschaftler. Ist dieser hochintelligente Mann, zumindest indirekt, ein Opfer von - ich zitiere - „Halluzinationen, Cold Reading, Schizophrenie“? Das scheinst du implizit anzunehmen, wenn ich folgendes richtig verstehe:
Nach den Ausführungen möchtest Du ernsthaft noch über epistemische Überlegenheit der Spiritualität reden??? Die Spiritualität muss nicht integriert werden, sie wird im Materialismus/Naturalismus erklärt (Halluzinationen, Cold Reading, Schizophrenie etc.).
Ich verstehe außerdem nicht, warum du der Spiritualität unterstellst, sie verachte alles Naturwissenschaftliche. Sie sieht dieses als eine Erkenntnis-Ebene unter mehreren, die relative Geltung und große praktische Verdienste hat - mehr nicht. Klar kann uns die NaWi zum Mond bringen - aber sie kann uns n i c h t Aufschluss über die wahre Natur unseres Geistes geben.
Das kann nur die Spiritualität.
Spirituelle Erfahrungen auf Pathologisches zu reduzieren, wie es dir oben unterläuft, ist nicht gerade originell. Und in Anbetracht der Tatsache, dass zahlreiche hochrenommierte Wissenschaftler zur Spiritualität neigen oder neigten (Planck, Heisenberg, Schrödinger, Bohm, Dürr, Varela und viele, viele andere) eine doch s e h r gewagte These.
Um es milde auszudrücken.
Du unterschätzt eben die Tatsache, dass es gar nicht nur „die Esoteriker“ sind, die deiner Anschauung entgegenstehen, sondern auch und in sehr prominenter Weise viele Naturwissenschaftler selbst.
Gruß
Horst