Greifen Evangelisten das Judentum als solches an??
Hallo VIKTOR,
zunächst ist das Judentum für alle Akteure (bei den Synoptikern wie bei Johannes) inkl. Jesus und den Jüngern der religiöse Hintergrund. Man beruft sich in den Auseinandersetzungen auch darauf („sie haben Moses und die Propheten“ - „Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen usw.“ - „habt ihr nicht gelesen vom Dornbusch“ - „Geht [zunächst] nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ etc. etc. alles O-Ton Jesus) und zeigt anhand der religiösen Vorschriften, ob das Gegenüber sich moralisch verhält oder nicht. Zu den Passionen:
Die Verknüpfung
weil
ist sehr fragwürdig, und zwar mit Blick auf alle Evangelien (nicht nur Synoptiker) und den Sinn/die Interpretation des gesamten NT bis hin zu der Auseinandersetzung von Paulus mit den Juden.
Man könnte zwar - nicht zwingend übrigens - für möglich halten, dass der Widerspruch zum mosaischen Gesetz einen äusseren Anlass bot, wenigstens wenn man Johannes wörtlich nimmt („wir haben ein Gesetz, nach dem Gesetz muss Er sterben, denn Er hat Sich Selbst zum Sohne Gottes gemacht“). Selbst wenn man dies aber für wahrhaftig nähme (- was längst nicht nötig ist, Johannes kann auch gesagt haben, wie irgend jemand argumentierte, aber muss nicht die Repräsentanten des Glaubens als solche meinen -), also selbst wenn man die Behauptung aufstellte, Jesus habe Sich nach dem jüdischen Gesetz tatsächlich strafbar gemacht (was wir nicht glauben, da Er Wert darauf legte, Sich daran zu halten - „wer kann Mich einer Sünde zeihen?“), so ist das Motiv doch auch bei Johannes grundsätzlich ein ganz anderes:
„Denn er [Pilatus] wusste, dass sie Ihn aus Neid überantwortet hatten“ (Joh 12,19). Man hatte Jesus also um des schnöden Neides willen übergeben, nicht weil die Religion oder sonst ein hehrer Grundsatz entgegenstand. Meines Erachtens ist die Pointe der Passion, dass sowas wie sie hier und heute immer wieder geschieht, weil Menschen aller Völker dem niederen Egoismus vor dem Mitgefühl Vorrang geben - sei es dem Neid (Aufwiegler), sei es der Verantwortungslosigkeit (Pilatus), sei es der Feigheit (Jünger), sei es der Lästerung (Soldaten), sei es der Geltungs- und Genusssucht (Herodes im Markusevangelium), der Habgier (Judas), dem Trotz (einer der Schächer) oder der Ignoranz (Hauptmann, Offiziere).
Alles auf die Aufwiegler allein abzustellen und diese als Verantwortliche der jüdischen Religion zu identifizieren - bzw. die jüdische Religion sogar als solche für verantwortlich - ist wohl nicht nur eine sehr enge Kausalkette, sondern übersieht vor allem einen wesentlichen Teil der Botschaft, der nämlich lautet:
Mensch, in dir sind sämtliche Eigenschaften gegenwärtig, die es braucht, dass Jesus unschuldig gekreuzigt wird. Dies sage ich übrigens nicht nur im Geist des 20. Jahrhunderts. „Was ist denn nur die Ursach’ solcher Plagen, ach, meine Sünden haben Dich geschlagen“ (16. Jahrhundert).
So gesehen ist es ein Abwälzen von Verantwortung, wenn man irgend eine geistesgeschichtliche Strömung (geschweige denn eine Religion) für den Tod Jesu verantwortlich macht. Nur wenn wir den moralischen Anspruch der Evangelien an uns alle wahrnehmen, werden wir ihnen gerecht.
Natürlich sind Juden nicht ausgenommen. Das hat zur Folge, dass wir meinen, auch sie kämen um die Passion (als Warnung an den Menschen) nicht herum. Ihre Religion als verantwortlich hinzustellen, ist aber im Gesamtzusammenhang des NT nicht möglich (so wird z. B. Moses immer wieder von Jesus zitiert usw. - biblisch betrachtet eine Grundkonstante!).
Das Problem ist vielleicht noch (wieder einmal zum 1001.), was man unter „Juden“ versteht. Insofern als es um religiöse Bewegungen innerhalb des Judentums geht, ist keine auszumachen, die als solche für den Tod Jesu eindeutig verantwortlich ist. Insofern als es um die Anhänger der Weisungen von Moses und den Propheten sowie der jüdischen Riten (Beschneidung, Einhaltung der Gesetze) geht, ist Jesus samt den Jüngern sogar selber deren Anhänger. Insofern als es um den Sanhedrin (Hohen Rat) und seine Vorschriften geht, sind wir nicht im Bild über die damaligen Verhältnisse, wissen jedoch mit grosser Wahrscheinlichkeit, dass der Fall singulär ist und somit noch einmal mehr nicht durch die Religion bedingt, sondern durch einzelne Repräsentanten (deren Rolle es nicht ist, die jüdische Religion schlecht hinzustellen, sondern aufzuzeigen, dass „sogar“ sie nicht gegen Ungerechtigkeit gefeit ist, wenn die Menschen die Augen vor den Ungerechtigkeiten verschliessen!).
Paulus sagt auch nicht, Jesus sei etwa „folgerichtig“ wegen seiner Interpretation des Gesetzes umgekommen, sondern Jesus habe das Gesetz und die Notwendigkeit, sich daran zu halten, überwunden.
Auch die Apostelgeschichte kennt keine solche Interpretation, obwohl sie sich in kausallogischer und zugleich chronologisch geordneter Reihenfolge mit der Passion auseinandersetzt und sie sogar mit Fokus auf die obersten Repräsentanten des Judentums pfingstlich-nachösterlich interpretiert (Pfingstpredigt des Petrus an die Hohen Priester). Selbst dort, an dieser zentralsten Stelle der Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden mit Blick auf die Passion, bleiben Vorwürfe aus. Petrus (nach Lukas) legt dem Hohen Rat lediglich Unwissen zur Last! Da wollen wir es doch nicht ändern.
Gruss,
Mike