Hi zusammen.
Ein christliches Denk-Klischee, das in den Köpfen vieler (auch atheistischer) Forumsteilnehmer hartnäckig wirksam ist, sieht in der Adam-Gestalt des AT ausschließlich einen „Mann“. Eine ursprüngliche Zweigeschlechtlichkeit (Androgynität) hat in diesem starren Muster keinen Platz. Meine These ist, dass auf diese Weise der Genesis-Text verzerrt wird. Man liest unkritisch eine Interpretation („Adam wurde als Mann geschaffen“) in den Text hinein, die im manifesten Wortlaut gar nicht enthalten ist.
Die Frage ist also:
Trifft die christliche Interpretation zu oder sollte man einer anderen, nämlich der jüdischen Interpretation (Talmud und Midrasch) den Vorzug geben, welche eine Androgynität des ursprünglichen Menschen behauptet? Kann es angehen, dass Christen den jüdischen Genesis-Text verständiger interpretieren als Juden, die der gedanklichen Welt des Genesis-Textes doch viel näher stehen?
Ich möchte ein paar Gründe vorbringen, warum mir - und vielen anderen - die jüdische Version überzeugender erscheint. Ich beschränke mich bei der Argumentation auf die Version in Gen 2.
Hier wird der Urmensch Adam aus Erde geschaffen. Zunächst heißt es in 2,7:
Und Gott der HERR machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.
Bekanntlich heißt Adam „Mensch“, was die Menschengattung bezeichnet. Das Wort ist zunächst nicht als Eigenname gemeint. Als Name eines Mannes erscheint „Adam“ erst in Gen 3,8, als sich der Mann Adam vor Gott versteckt. Was liegt dazwischen?
Sehr viel. „Der Mensch“ mutiert nämlich innerhalb weniger Sätze vom „Menschen“ zum „Mann“.
21 Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloß die Stätte zu mit Fleisch.
Noch ist vom „Mann“ nicht die Rede.
22 Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er vom Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.
Auch hier keine Rede vom „Mann“. Die Rippe bzw. Seite (dazu später) wird vom „Menschen“ genommen. Jetzt aber kommt´s :
23 Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen, darum daß sie vom Manne genommen ist.
Eine heikle Logik: „Der Mensch“ sagt, dass die „Männin“ vom „Manne“ genommen wurde, obwohl es zuvor heißt, dass das notwendige Material (Rippe oder Seite, dazu später) vom „Menschen“ genommen wurde. „Der Mensch“ hat, kaum dass er ein „Mann“ ist, irgendwie vergessen, dass er vor dem Erscheinen der Frau ein „Mensch“ war statt ein „Mann“.
Seltsam ist überdies, dass der Mann nach dem Erwachen, als er die Frau sieht, sofort vermutet, dass sie von seinem „Fleisch“ genommen wurde. Wie das? Er war doch im Tiefschlaf, als das geschah. Woher weiß er, dass Eva vorher eine (angebliche) „Rippe“ von ihm war? Warum erkennt er sie als etwas ihm früher Zugehöriges wieder? Vielleicht, weil die Juden recht haben, wenn sie sagen, dass Mann und Frau ursprünglich einen gemeinsamen Körper (Mensch) hatten?
Die jüdische Tradition (Talmud und Midrasch) sagt im Unterschied zum Adam-Klischee des Christentums:
Adam ist (als „Mensch“) androgyn, also zweigeschlechtlich. Das stellt man sich wie beim Janus-Kopf vor, bei dem ein Kopf zwei Gesichter hat, die in entgegengesetzte Richtungen blicken. Der erste „Mensch“ ist nach der jüdischen Interpretation also ein Wesen, bei dem die eine Hälfte aus einem Mann und die andere aus einer Frau besteht, die wie siamesische Zwillinge Rücken an Rücken kleben. Die Hervorbringung von Mann und Frau geschieht, indem dieses androgyne Mischwesen in zwei selbständige Wesen geteilt wird.
Dabei wird diesem Wesen eine Hälfte (Seite, und eben nicht Rippe) entnommen (die weibliche Seite) und das entstandene Loch am Rücken der männlichen Hälfte „mit Fleisch geschlossen“. So entsteht Eva, und so entsteht auch erst der Mann, der den Gattungsnamen „Adam“ als Eigennamen behält.
Beispiele:
Rabbi Chemouel bar Nahman: "Als der Heilige … den ersten Menschen schuf, machte er Ihn mit zwei Gesichtern, dann teilte er ihn Rücken an Rücken …" (Midrach Rabba, Bd. 1, Genesis, VIII.1)
Rabbi Yirmeya ben Eleazar: "Als der Heilige … den ersten Menschen schuf, machte er ihn androgyn…" (wie oben)
(Zur Rippen-Version: nur bei Gen 2,22 wird das hebräische"zela" (= Seite) in modernen Fassungen mit „Rippe“ übersetzt, es gibt kein anderes Beispiel inner- und auch außerhalb des AT dafür, dass „zela“ jemals mit „Rippe“ übersetzt wird, auch nicht in der Septuaginta, der griechischen AT-Übersetzung, die sogar bei Gen 2,22 mit „Seite“ übersetzt. Auch die og. Rabbis interpretieren „zela“ als „Seite“)
Also, wie kommt es, dass das eingangs erwähnte christliche Interpretationsmuster, dass „Gott“ Adam als Mann erschaffen hat (statt als Androgyn), immer noch als selbstverständlich gilt, obwohl der manifeste Genesis-Text diese Deutung überhaupt nicht stützt, sondern ihr z.T. klar widerspricht?
Chan