Theologische Sophismen
Hi.
ich dachte immer, daß Religion zumindest in der Theorie viel
mit Moral, sogar mit Vernunft zu tun hat. Warum mit Moral
sollte klar sein, das schreibst Du selbst, aber mit Vernunft?
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Für zwischenmenschlich-moralisches Verhalten ist Religiosität nicht erforderlich. Forscher haben längst nachgewiesen, dass auch manche Tiere zu moralischem Verhalten (Kooperation und Empathie) innerhalb der eigenen Gruppe fähig sind, ebenso kann man das für die frühesten Formen des Homo sapiens annehmen, die noch ohne einen nennenswerten Ansatz von Religiosität auskamen. Das Prinzip ist das der solidarischen Kooperation in einer Gruppe: Bist du gut zu mir, dann bin ich gut zu dir, und umgekehrt. Je effektiver dieses Prinzip umgesetzt wird, desto höher die Überlebenschancen der Gruppe. Inwieweit das bereits angeboren ist, ist unklar; moralisches Verhalten wird aber ohnehin durch die Sozialisation des Nachwuchses vermittelt.
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Die Selbstverständlichkeit, mit der du Vernunft mit Religion assoziierst, beruht auf deiner Parteilichkeit zugunsten des Christentums, andernfalls würdest du die Inkompatibilät von Vernunft und (christlichem) Glauben erkennen. In dem von dir angesprochenen „Dei filius“ (von 1870) heißt es u.a.:
_25 Wenn nun auch der Glaube über der Vernunft steht, so kann doch zwischen Glaube und Vernunft niemals ein wirklicher Widerspruch bestehen. Hat doch derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben daran eingießt, der Menschenseele auch das Licht der Vernunft gegeben. Gott aber kann sich doch nicht selbst verneinen, noch kann je eine Wahrheit der andern widerstreiten.
26 Wenn je ein, in Wirklichkeit unbegründeter, Widerspruch vorhanden zu sein scheint, so entsteht er vorzüglich darum, weil man die Glaubensdogmen nicht im Sinn der Kirche versteht und erklärt, oder weil man unbegründete Aufstellungen für Forderungen der Vernunft ausgibt. Wir erklären deshalb jede Behauptung, die einer Wahrheit des erleuchteten Glaubens widerspricht, für durchaus falsch (Fünftes Laterankonzil, Bulle Apostolici regiminis)._
Der Satz in (25)
Hat doch derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben daran eingießt, der Menschenseele auch das Licht der Vernunft gegeben. Gott aber kann sich doch nicht selbst verneinen, noch kann je eine Wahrheit der andern widerstreiten.
ist ein Zirkelschluss. Daraus, dass „Gott“ die Vernunft „gegeben“ hat, wird geschlossen, dass die Vernunft mit dem Glauben nicht im Widerspruch steht. Das zu Beweisende (Kompatibilität der Vernunft mit Religion) ist Teil der Prämisse (die Vernunft kommt von Gott).
Der Satz in (26)
Wenn je ein, in Wirklichkeit unbegründeter, Widerspruch vorhanden zu sein scheint, so entsteht er vorzüglich darum, weil man die Glaubensdogmen nicht im Sinn der Kirche versteht und erklärt, oder weil man unbegründete Aufstellungen für Forderungen der Vernunft ausgibt.
macht es sich ebenfalls sehr leicht. Widerspruch (zwischen Vernunft und Glaube) ist per definitionem „unbegründet“ und entsteht „vorzüglich“ wegen des Nichtverstehens der kirchlichen Dogmen (die ohnehin nie eindeutig auslegbar sind).
Für rationale Denker sind Sophismen dieser Art eine Zumutung.
Zum Thema Vernunft noch zwei Zitate:
Die Vernunft ist eine Teufelsbraut und die höchste Hure, die der Teufel hat.
(WA 51, 126; vgl. 10 I, 1.326; 18, 164; 24, 182)
Wer … ein Christ sein will, der … steche seiner Vernunft die Augen aus.
(Martin Luther, Gesamtausgabe in 25 Bänden, herausgegeben von Johann G. Walch, Concordia Publishing House St. Louis 1880-1910, Band V, S. 452)
Letzteres Statement ist auch ein Indiz für religiöse Friedfertigkeit im Sinne des großen atheistischen Denkers Schroeder.
Chan