So dachte Dieter E. Zimmer schon vor Jahr und Tag - lange vor der Reform, die dann das „ß“ beibehielt - und brach in seinem Zeit-Artikel: „Die Abschaffung des „Eszett““ eine dicke Lanze für die Abschaffung des „ß“.
Ich zitiere einen längeren Ausschnitt:
_… Einer der Versammelten habe gewarnt: In der Schweiz, wo es das „Eszett“ nicht gibt, sei er einmal der Überschrift „Busse für Walesa“ begegnet, und ein schauderhaftes Mißverständnis habe gedroht.
Auch eine Sprachwissenschaftlerin habe gewarnt: Wo alle anderen Staaten ihre Sonderzeichen mit Klauen und Zähnen verteidigen, dürften sich die Deutschen doch nicht „um ein Stück Kulturgut bringen lassen“. Und diese Betrachtungsweise habe schließlich obsiegt.
Aber so eine lebhafte Debatte bringt einen auf Ideen. Normalerweise hätte ich mich, wo es nun schon einmal da ist, ohne Murren mit dem „Eszett“ abgefunden, so wie mit dem Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. Aber ein Kulturgut, auratisch? Mit Klauen und Zähnen? Das schreit geradezu nach Widerspruch. Darum unterbreite ich hier den mit mir selbst abgestimmten Vorschlag: Ja, schaffen wir das „Eszett“ ab! Jedes Mal, wenn ich an dem Laden ÜBERGRÖßEN FÜR HERREN vorbeikomme, stört es mich. Es ist Unfug.
Aber das könne man so nun wirklich nicht sagen? Also gut. Versuche man doch einmal, einem wohlwollenden Ausländer, Zertifikat „Deutsch als Fremdsprache“ in der Tasche, klarzumachen, warum das „Eszett“ ein unverzichtbares Kulturgut ist.
Er: Sicher finden Sie es sehr schön, so als Buchstabe.
Sie: Na ja, schön? Es war eben einmal eine Ligatur, zwei zusammengewachsene Drucktypen – Schönheit kann man von so etwas nicht verlangen.
Er: Ligaturen gibt es in der Typographie überall, „ft“ oder „ck“ zum Beispiel. Aber überall lassen sie sich ohne weiteres wieder auseinandernehmen. Wo gibt es denn das, daß man so eine Ligatur zu einem eigenen Buchstaben ernennt? Das „ft“ ist im Deutschen doch auch kein eigener Buchstabe geworden. Warum so inkonsequent?
Sie: In der Sprache geht es nie konsequent zu. Da waltet schließlich nicht die Logik, sondern der Zufall.
Er: Übrigens, welche beiden Buchstaben sind denn da eigentlich liiert? Ein l und ein B? Es läßt sich gar nicht erkennen. Aßtraum.
Sie: Die Brezel dahinten soll ein Zett vorstellen, das allerdings etwas verrutscht ist. Der lange senkrechte Strich vorne ist ein „Es“. Darum heißt es ja „Es“-Zett.
Er: So ein „Es“ habe ich aber noch nie gesehen.
Sie: Das ist das gute alte deutsche „Es“. Es gab nämlich einmal zwei „Es“ in der deutschen Schrift, ein schmales langes und ein kleines rundes.
Er: Die Deutschen haben früher zwei Sorten von „Es“ gesprochen?
Sie: Gesprochen nicht. Geschrieben.
Er: War das eine Strafe nach einem verlorenen Krieg? Oder bloß Unentschiedenheit?
Sie: Reichtum, Fülle, Luxus war es.
Er: Jetzt ist das lange „Es“ aber eingespart.
Sie: Es kam in den alten deutschen Schriften vor, Gotisch, Schwabacher, Fraktur, die nun schon lange so gut wie nicht mehr geschrieben und gedruckt werden. Als alles noch mit der Hand geschrieben wurde, war das lange s leichter. Es war ursprünglich einfach ein mächtig in die Länge gestrecktes rundes s, das den Schreibern die Mühe dieser beiden schwierigen Rundbögen abnahm. Zur Zeit Karls des Großen haben sie es immer lang geschrieben. Erst später dann auch rund.
Er: Und wie war später die Regel? Wann mußte das lange genommen werden und wann das runde?
Sie: Das war gar nicht so einfach. Am Silbenanfang das lange. Wenn es doppelt war auch. Vor einem t oder ch oder hinter einem p am Silbenanfang dito. Am Wortende oder vor einer Wortfuge das runde. Manchmal konnte man es auch schreiben, wie man wollte. Die Regeln gingen über einige Seiten.
Er: Das „Eszett“ ist also einer von diesen gelben Öltanks: Ich bin zwei Öltanks. Es sagt einem: Ich bin zwei Buchstaben. So wurde es dann ja sicher auch gesprochen: die Stras-Ze.
Sie: Es wurde nur als einer gesprochen. Genaugenommen wurde der zweite niemals gesprochen, aber dafür wird der erste seit langem nicht mehr geschrieben. Gesprochen wird es, als wäre der erste Buchstabe doppelt, der, den es nicht mehr gibt. Klar?
Er: Wieso dann aber z, wenn ein zweites s gemeint war? Warum sz und nicht ss?
Sie: Das muß wohl ein Irrtum gewesen sein.
Er: Und warum existiert das „Eszett“ nur klein?
Sie: Weil der Laut, für den es steht, nie am Wortanfang vor- kommt. Es heißt eben Salat und nicht ßalat.
Er: Ach so, ein Sprechfehler. Die Deutschen können ein stimmloses „Es“ am Wortanfang nicht aussprechen. Darum haben sie unser schönes inßalata zu Salat gemacht.
Sie: Das können wir sehr wohl, wenn wir wollen. Denken Sie an die Szene. Oder das Szepter. Oder an ein Szintigramm.
Er: Da schreiben Sie das „Eszett“ also nicht als ein eigentümliches Zeichen, sondern als zwei Buchstaben, von denen der zweite aber eigentlich gar kein Zett meint, sondern ein zweites „Es“. Ein großes „Eszett“ könnten Sie also doch gut gebrauchen. Ss wird ja offenbar grundsätzlich nie geschrieben. Es ist doch wirklich ein Manko, wenn man in einer Schrift nicht klarmachen kann, daß der „Es“-Laut am Silbenanfang stimmlos gesprochen werden will. Wenn der „Duden“ erklärt, wie man Scylla zu sprechen hat, muß er ßzüla schreiben. Sie sollten der Kulturgutkonferenz der Länder die Vergrößerung des „Eszett“ zur Majuskel vorschlagen.
Sie: Die sähe ja noch scheußlicher aus. Außerdem würde die Umstellung Milliarden kosten.
Er: Aber irgendeinen Sinn muß das gute Stück doch haben oder einmal gehabt haben. Ich nehme an, das „Eszett“ steht oder stand für einen ganz besonderen Laut, der sich mit keinem Buchstaben des normalen Alphabets wiedergeben läßt. Die anderen europäischen Sprachen haben zwar alle ihre eigenen diakritischen Zeichen, allerlei Häkchen und Striche, das å und ø und è und ñ und š und so weiter, wie das Deutsche seine Umlaute hat, aber sie haben keine Extrabuchstaben wie das ß. Sogar die Engländer haben ihre praktische alte Dornrune Þ aufgegeben und schreiben ihren gefürchteten Lispellaut th. Das ß war wohl ein ganz spezieller Laut, so deutsch, daß ein Außländer dießeß feine Lißpeln gar nicht hört?
Sie: Ach was. Der Laut, für den das „Eszett“ steht, ist überhaupt nichts Besonderes. Einfach ein stimmloses „Es“. Normalerweise schreiben wir es doppelt, ss, um es vom stimmhaften s zu unterscheiden.
Er: Und warum nicht immer? Sie: Ja, warum eigentlich nicht? Ah, ich hab’s. Das „Eszett“ bedeutet gar nicht, daß hier ein besonderer Laut gesprochen wird. Es heißt einfach: der Vokal davor wird lang gesprochen. Es ist sozusagen ein uneigentlicher Buchstabe, der gar nicht sich selber meint, sondern einen anderen. Die Masse, aber die Maße. Sonst würde man Sätze wie „Tu Busse!“ Ja völlig falsch verstehen. Oder Busse & Bahnen.
Er: Und warum schreibt ihr dann du haßt und du hast, zweimal kurzes a, aber nie du hasst, wie beide eigentlich geschrieben werden müßten?
Sie: Eine Zusatzregel. Weil vor einem Konsonant ein ss immer zu einem ß wird. Aber nach der Rechtschreibreform wird das einfacher. Dann schreibt man wirklich du hasst.
Er: Und nicht mehr du hast?
Sie: Doch, das auch noch.
Er: Und warum das?
Sie: Wir reformieren doch nicht die Inkonsequenz weg.
Er: Bei der Rechtschreibreform streicht ihr es nicht ganz, weil das eigentliche Kulturgut die Inkonsequenz ist und das ß nur ein Symbol dafür?
Sie: Wenn Sie es unbedingt so auslegen wollen, bitte sehr.
Er: Sonst tastet ihr ausländische Wörter fast nie an. Ausgerechnet bei der Miss aber versagt euer Respekt. Aus ihr macht ihr eine Miß.
Sie: Wegen des kurzen i wahrscheinlich, aber das ist ein Mißgriff. Der „Duden“ empfiehlt es nicht.
Er: Ihr schreibt aber auch der Haß und der Spaß - beide Male „Eszett“, obwohl das a einmal kurz und einmallang ist und kein Konsonant folgt. Oder der Sproß, aber die Sprosse, beide Male kurz, aber einmal ß, einmal ss.
Sie: Noch eine Zusatzregel: Am Wortende steht nie ss, sondern immer ß. Nach einem kurzen Vokal wird es künftig auch dort zu ss. Hass und Spross.
Er: Wieso heißt es dann nicht dass Gass und der Greiß? Sie: Hm.
Er: Ja, warum?
Sie: Credo quia absurdum!
Er: Dann fasse ich zusammen. Das deutsche „Eszett“ ist ein nicht gerade schöner Buchstabe, den es groß leider nicht gibt, obwohl es ihn geben sollte, und der eigentlich zwei Buchstaben ist, von denen aber der zweite nie gesprochen wurde und der erste nicht mehr geschrieben wird und der eigentlich gar kein Buchstabe für irgendeinen besonderen deutschen Laut ist, sondern das Dehnungszeichen für den davor, welcher aber manchmal auch ohne ß dahinter gedehnt wird und manchmal auch mit ihm nicht, und im übrigen wird er jetzt manchmal wegreformiert, manchmal aber auch nicht. Alles klar.
Die Schweiz, wie gesagt, kommt ganz ohne das „Eszett“ aus, und sie leidet darob nicht Mangel. Und wir? PC-Schreiber ärgern sich schon lange mit dem ß herum, das sie manchmal als großes B, mal als griechisches ß, mal als Pesetazeichen Pt überrascht. Bei der E-Mail, in der sich meist kein ß verwenden läßt, da man nicht weiß, in welcher Gestalt es den Empfänger erreicht, steht man jedesmal wieder vor der Entscheidungsfrage: Strasse oder Strasze? Keiner weiß, wo er das ß im Telefonbuch und in ähnlichen Listen suchen soll. Und den Fremden stürzt es unweigerlich in Zweifel. Manchmal bekommt man eine Ahnung seiner Ratlosigkeit, wenn ein Brief mit den Anschrift «Fa. HeiBenbüttel MeiBen FaBstraBe" trotzdem eintrifft-.
Verteidigen wir also dieses Kulturgut nicht mit unseren Klauen und Zähnen. Bringen wir es Europa dar. Man setze ein Zeichen! Man setze zwei Zeichen, und zwar ss!_
Ich behalte das „ß“.
Gruß Fritz