Nachdem ich heute Abend festgestellt habe, dass das Kölner Urteil häufiger missverstanden wird, als ich gedacht hätte, und meine eigenen Ausführungen auch, hier nun doch noch eine kurze Einführung in das Thema Grundrechte. Muss ja keine Diskussion draus werden, aber vielleicht interessiert es den einen oder anderen.
Die Grundrechte sind kein unverbindliches politisches Programm, sondern verbindliches Recht, das (grundsätzlich) nur den Staat bindet (Art. 1 Abs. 3 GG). In erster Linie (aber nicht ausschließlich) handelt es sich um Abwehrrechte der Grundrechtsträger: Abgewehrt werden Angriffe oder besser gesagt Eingriffe in die Grundrechte durch den Staat.
Folgende Fragen muss sich jeder Akt staatlicher Gewalt gefallen lassen:
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Wird durch dich der Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet?
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Wenn ja: Greifst du in dieses Grundrecht ein?
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Wenn ja: Darfst du das?
Bei 1. geht es einfach nur darum, ob überhaupt irgendein Grundrecht tangiert wird bzw. welche(s).
Die 2. Frage ist zu bejahen, wenn die Freiheit des Grundrechtsträgers, die das jeweilige Grundrecht gewährt, irgendwie verkürzt wird. Das ist bei jedem staatlichen, jedenfalls jedem hoheitlichen Handeln der Fall, das den Grundrechtsträger irgendwie in Anspruch nimmt, ihm etwas ge- oder verbietet oder ihm eine Duldung auferlegt. Wenn kein spezielleres Grundrecht tangiert wird, geht es immer („jedenfalls“) um die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Das ist im Verwaltungsrecht sehr wichtig, weil hier eine Klage etwa gegen einen Bescheid oder sonstigen Verwaltungsakt nur in Betracht kommt, wenn möglich erscheint, dass der Verwaltungsakt nicht nur rechtswidrig ist, sondern den Kläger in seinen subjektiven Rechten verletzt. Es gibt also sehr, sehr viele Eingriffe in Grundrechte, gerade in Art. 2 Abs. 1 GG.
Die 3. Frage entscheidet dann alles. Man könnte meinen, es sei absurd, Grundrechte zu gewähren, die dann doch eingeschränkt werden dürfen. Stimmt aber nicht, denn die Eingriffe müssen besondere Anforderungen erfüllen, um rechtmäßig zu sein. Wir Juristen nennen das verfassungsrechtliche Rechtfertigung, womit wir ja bei einem Begriff wären, den ihr als Religionsexperten alle auch so ähnlich kennt.
Einige Voraussetzungen muss jeder Eingriff in ein Grundrecht erfüllen. Dazu gehört insbesondere die Verhältnismäßigkeit (die im Grundgesetz nicht ausdrücklich genannt wird).
Im Übrigen kommt es darauf an, was das jeweilige Grundrecht sagt. Die Menschenwürde kann niemals eingeschränkt werden, sie ist unantastbar (Art. 1 Abs. 1 GG, nicht ohne Grund steht dieses Grundrecht ganz am Anfang). Einige Grundrechte können durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden, z.B. das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 1 S. 1 Var. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 S. 3 GG). Da kann man sich dann im Einzelfall fragen, was denn mit dem Wort „Gesetz“ gemeint ist, aber jedenfalls Parlamentsgesetze sind immer Gesetze. Ist ein Grundrecht ausweislich seines Wortlautes gar nicht einschränkbar, kann es gleichwohl eingeschränkt werden, wenn es mit einem anderen Grundrecht oder Rechtsgut von Verfassungsrang kollidiert. Das ist z.B. bei der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) der Fall.
Das Kölner Urteil besagt nun Folgendes: Der Straftatbestand der Körperverletzung wurde erfüllt. Rechtswidrig und strafbar kann die Tat aber nicht sein, wenn das höherrangige Grundgesetz sie erlaubt. Die verfassungsrechtliche Erlaubnis könnte sich aus der Religionsfreiheit der Eltern oder aus deren Erziehungsfreiheit (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) ergeben (oder aus Gesetzen ohne Verfassungsrang, aber darauf gehe ich jetzt nicht näher ein).
Somit stellt sich die Frage, ob in dem Verbot dieser speziellen Körperverletzung, der Beschneidung, eine Verletzung der Grundrechte der Eltern zu sehen wäre, die die Beschneidung veranlasst haben. Von einer Verletzung kann nur gesprochen werden, wenn ein Eingriff vorliegt, der verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist.
Also stellt sich nun die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Gerade die Religionsfreiheit wird ja grundsätzlich schrankenlos gewährt. Wenn das strafrechtliche Verbot der Körperverletzung in diesem speziellen Fall die Grundrechte nicht verletzen soll, dann muss ein anderes Rechtsgut von Verfassungsrang betroffen sein, hinter dem die Grundrechte der Eltern zurücktreten.
Genau hier beginnt die eigentliche Abwägung. Und mehr wollte ich bislang auch nicht gesagt haben, obschon nun beide Lager hier im Forum den Versuch unternommen haben, mir eine eigene Position zu unterstellen, gegen die dann argumentiert oder vielleicht auch etwas polemisiert wurde.
Annex:
Da der Arzt angeklagt war und nicht die Eltern, hätte man sich eigentlich noch mit dessen Grundrechten beschäftigen müssen. Auch hätte man zumindest kurz erläutern können, was denn der Arzt mit den Grundrechten der Eltern zu tun hat. Ich meine aber, dass das im Ergebnis so stimmt, denn wenn die Eltern die Beschneidung zwar bestimmen dürften, aber niemand sie ausführen, wäre das Grundrecht insoweit ausgehölt.
Ob überhaupt der Schutzbereich der Religionsfreiheit tangiert ist (Frage Nr. 1 in der obigen Trias) wäre auch zu diskutieren. Meiner Meinung nach wäre das nur der Fall, wenn die Eltern es als ihre eigene religiöse Pflicht sehen, das Kind beschneiden zu lassen, wenn darin also die Religionsausübung der Eltern zu sehen ist. Ob es sich so verhält, ist keine Rechtsfrage, sondern eine Tatsachenfrage. Es kommt nicht darauf an, was „die“ Religion, also die Lehrmeinung, besagt, sondern was die Eltern als ihre religiöse Pflcht betrachten.