Ich mag ja etwas altmodische Vorstellungen von Sexualität haben, aber ich sehe doch das Geben und Nehmen, die Interaktion als etwas essentielles. Wenn der be-sexte (sorry, aber anders mag ich das in dem Fall nicht nennen) keine Möglichkeit hat, das zu beeinflussen, was mit ihm geschieht, keine Rückmeldung zu geben, dann ist das, was Du vorschlägst nur ein mechanisches reizen von erogenen Zonen. Mag ja eine minimale Chance sein, dass es tatsächlich schön ist für den „Empfänger“, aber wie würde es Dir gehen, wenn jemand ungefragt intime Stellen stimuliert ohne dass Du die Möglichkeit hast, auch nur etwas Einfluss darauf zu nehmen?
Mit Sexualität im eigentlichen Sinne hat das für mich nicht wirklich zu tun.
Ich unterstelle Dir mal, dass Du Sex gegenüber grundsätzlich nicht abgeneigt bist.
Ich vermute mal, dass Du es trotzdem nicht so prickend findest, wenn jetzt mal irgendeine Person vorbeikommt, die gerade Zeit und Lust hat und sich mit irgendwas an Deinen erogenen Zonen zu schaffen macht.
Gehe ich recht in der Annahme oder übersehe ich etwas?
Nein, ich habs bewusst so abstrakt formuliert, weils mir bei meinem Thread um den Grundsatz geht.
Wie diese Umstände sein müssten, wäre in der Tat eine ziemlich komplexe Diskussion.
Weil Medizin und bloße Lebenserhaltung nicht alles ist, sondern Sexualität genauso zum Leben (auch eines Komatösen) gehört/gehöre kann.
Im ersten Fall geht nur teilweise der Zwang, Entscheidungen über sich zu treffen auf einen Stellvertreter über nur (nämlich nicht der Teil, bei dem ich erwarten kann, dass der derzeit Entscheidungsunfähige selbst wieder entscheiden können wird), im zweiten Fall vollständig.
Du stimmst mir bei meiner Unterscheidung zwischen vorübergehender und prinzipiell-irreversibler Entscheidungsunfähigkeit explizit zu (Asteiner: „Es ist zwar richtig, dass es einen qualitativen Unterschied macht, ob der Zustand nur vorübergehend ist oder nicht.“)- und bringst dann trotzdem dieses lächerliche Beispiel.
Da ist reine Polemik ohne Sachbezug.
Das ist in der Medizin doch gewöhnlich und unabdingbar, dass über und für diejenigen von gesetzlichen Vertretern und Experten Entscheidungen getroffen werden, die selbst keine Entscheidungen mehr treffen können bzw. die z.B. selbst in Patientenverfügungen Hinweise darauf gegeben haben, wie sie in dieser Situation zu entscheiden glauben.
warum? Ich bin ja immer sehr für Differenzierung, aber hier scheint sie mir keinen Erkenntnisgewinn zu bringen.
Wir sprechen von Menschen, die nicht einwilligungsfähig sind.
Und wir gehen davon aus, dass sie eine wie auch immer geartete Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit haben. Hätten sie die nicht, erübrigt sich die Frage, weil dann sexuelle Handlungen für die Person keinen Sinn hätten.
Welcher Art diese Wahrnehmungsfähigkeit genau ist, scheint mir hier wirklich unwesentlich.
Denn: Wir wissen von Menschen, die ohne ihr Einverständnis sexuelle Handlungen erlebt haben, dass das zutiefst traumatisch sein kann. Sei es, weil sie vorübergehend einwilligungsunfähig waren, sei es, weil sie in der Situation nicht in der Lage waren, ihren Willen zu äußern (Abhängigkeit, Scham, …).
Wir wissen auch, dass in solchen Situationen der Körper trotzdem auf die sexuellen Reize reagieren kann, u.U. auch mit einer körperlichen Lust, und dass gerade das ebenfalls traumatisch sein kann!
Allein die Möglichkeit, so etwas einem Menschen zuzufügen, den man eben nicht nach seiner Einwilligung fragen kann, muss doch Grund genug sein, davon abzusehen. Da hilft es auch nichts, wenn man meint, der Person damit etwas Gutes zu tun. Nein, da reicht mir auch kein „mutmaßlicher Wille“ aus. Man würde es in Kauf nehmen, möglicherweise einer handlungsunfähigen Person sexuelle Gewalt zuzufügen. Das ist unter keinen Umständen hinnehmbar. (Und ich formuliere nur deswegen so vorsichtig mit „möglicherweise“, weil ich versuche, mich in Deine Argumentation hineinzudenken.)
Weiter - und jetzt geht es mir wirklich nur um Koma-Patienten, also kein Locked-In: Aus Schilderungen von Menschen, die aus dem Koma wieder erwacht sind, habe ich in Erinnerung, dass sie oft das Geschehen um sich herum wahrnehmen, aber verfremdet und oft in alptraumhafte Zusammenhänge eingebettet. Ich kann das nicht belegen, weil das auf verschiedene Lektüren zurückgeht, die ich nicht mehr benennen kann. In solcher Situation ein möglicherweise überwältigendes Geschehen? Das ist nicht Dein Ernst, oder?
Auch ich kann mich nicht erinnern, dass ich in so einem Zusammenhang jemals davon gelesen hätte, dass ein Mangel an Sexualität thematisiert wurde.
„Hable con ella“ nennst Du einen wunderschönen Film - ja, er ist gut gemacht und hat sehr schöne Passagen. Aber die Vergewaltigungsszene (ja, ich nenne sie so!) habe ich schon damals als solche empfunden. Dass der Film das als Tat der Liebe mit dann auch noch segnungsreichen Auswirkungen schildert, sagt doch wohl mehr über Almodovars Vorstellungen als über das Erleben von Komapatienten in der Realität aus.
Nichtmal im Film finde ich das überzeugend. Da ist ein unprofessioneller Pfleger, der seiner Sehnsucht nach Intimität nachgibt, ohne die ihm anvertraute Frau zu schützen.
Dass Du bei der Abwägung zwischen einem möglichen Mangel an Sexualität und möglicher sexueller Gewalt ernsthaft in Betracht ziehst, die sexuelle Gewalt in Kauf zu nehmen, kann ich nicht glauben.
Interessanter ist doch unsere jeweilige Vorstellung, was wäre, wenn wir dauerhaft im Koma lägen (ist zwar extrem schwer vorstellbar, auch weil Koma nicht gleich Koma ist, aber dennoch). Meine Angst, dass eine Pflegerin in diesem Zustand meinen Penis in den Mund nimmt oder meinetwegen ‚sachgerecht‘ einen Dildo in meinen Anus führt (um auch Penetration mit ins Bild zu nehmen), ist meine allergeringste Angst bei diesem Szenario.
Der grundsätzliche Unterschied zwischen Koma und alkohol- oder sonstwas induzierter Bewusstseinseinschränkung hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit ist m.E. lediglich die Dauer der fehlenden Einwilligungsfähigkeit.
Das ist richtig, was du schreibst, aber dennoch versteht sich für mich nicht zwingend, dass diese „be-sexte“ Form von Sexualität partout schlechter ist als keine Sexualität. Die wünschenswerte interaktionelle Form ist halt einfach in der Situation nicht möglich und darum kein sinnvoller Vergleichsmaßstab aus meiner Sicht.
Das ist eine „philosophische“ Frage, wann die Quantität der Zeit in eine Qualität umschlägt. Für mich ist ein Zustand, der bald vorbei geht, etwas qualitativ völlig anderes als ein Zustand, der (zu Lebzeiten) nie vorbei geht.