Guten Tag,
mich beschäftigt (ernsthaft!) folgende Frage:
Jesus von Nazareth soll als Sohn eines Handwerkers aufgewachsen sein (also nicht unbedingt in intellektueller Umgebung). Nun kann es wohl als hinreichend zuverlässig gelten, dass er später in den letzten Jahren vor seinem Tod als Prediger erfolgreich war, also überdurchschnittliche rhetorische Fähigkeiten angenommen werden können.
Zugleich hat er aber anscheinend selbst keine schriftlichen Werke hinterlassen (obwohl es durchaus schriftliche Zeugnisse noch wesentlich älterer Publizisten, wie Platon, Aristoteles gibt). Daran, dass sie etwa im Zeitablauf verlorengegangen sein könnten, wird es wohl nicht liegen. Vielmehr scheint es so, als ob er zu Lebzeiten nichts für die Nachwelt Relevantes in schriftlicher Form von eigener Hand hinterlassen hat, zumal auch in späteren Werken anderer Autoren ja nirgends auf Schriftwerke des Nazareners Bezug genommen wird.
Deshalb stellt sich mir die Frage: Konnte Jesus von Nazareth eigentlich selbst überhaupt lesen und schreiben?
Ja, mir ist die Story bekannt, dass er schon als zwölfjähriges Wunderkind mit den Priestern und Schriftgelehrten im Tempel diskutiert haben soll, was ja wohl einige Kenntnis der heiligen Schriften seiner Zeit voraussetzen würde.
Aber, sehen wir diesen Bericht einmal mit kritischen Augen:
1. Von wem stammt er? Vom Evangelisten Lukas. Nicht von irgendeinem Augenzeugen.
2. Wann wurde diese Sage aufgeschrieben? Ungefähr fünfzig Jahre nach Jesus’ Tod. Lukas wird also selbst kaum Augenzeuge der Begebenheit gewesen sein, da er bestenfalls ungefähr gleichaltrig wie Jesus war. Und falls doch: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Teenager sich für spätere Jahrzehnte merkt, wenn er zufällig Zeuge einer Diskussion eines anderen Teenagers mit der intellektuellen Elite wird? Wahrscheinlicher ist also, dass der Autor Lukas die Geschichte auch nur vom Hörensagen kennt. Er war also selbst nicht in der Lage, sie zu überprüfen und sich für ihren Wahrheitsgehalt zu verbürgen.
3. Angenommen, der Bericht des Lukas über den 12jährigen Jesus stimmt - muss sich der Knabe deshalb seine Schriftkenntnis zwingend selbst angelesen haben? Es ist zweifelhaft, dass Lesefertigkeiten zur damaligen Zeit im einfachen Volk weit verbreitet waren, auch in biederen Handwerkerhaushalten galiläischer Kleinstädte wird das nicht besser gewesen sein. Vorausgesetzt, dass der minderjährige Jesus sich also fachlich bereits auf Augenhöhe mit den Schriftgelehrten befand, wird er diese Kenntnis wohl auch nur infolge mündlicher Weitergabe erworben haben. Möglicherweise, weil er selbst - wie die meisten Zeitgenossen - überhaupt nicht lesen konnte?
Es ist auch kaum vorstellbar, dass Jesus vor lauter Predigen und Wundertun vielleicht nicht die Zeit gefunden hat, irgendeinen wesentlichen Gedanken, den er sonst in seinen Predigten unters Volk gebracht hat, selbst niederzuschreiben. Wenn man sich vorstellt, welchen Haufen von Papier kurze Zeit später der Apostel Paulus hinterlassen hat, der wohl nicht weniger beschäftigt war und nicht weniger in der Welt herumgereist ist als Jesus selbst, scheint es eher zweifelhaft, dass Jesus überhaupt in der Lage gewesen wäre, irgendetwas aufzuschreiben.
Und schließlich: Warum sollte jemand, der wie Jesus eine ganze Religion weiterentwickelt hat, nicht erkannt haben, welche Bedeutung schriftlichen Hinterlassenschaften auch für spätere Jahrhunderte zukommt und wie man mit ihrer Hilfe (siehe wieder Platon etc.) die eigenen Überzeugungen auch weit in die Zukunft tragen kann? Na sicher, er war noch nicht wie Luther in der Lage, seine Schriften mittels Buchdruck breit in die Massen zu streuen, aber Auf- und Abschreiben gab es auch zu Jesus’ Zeit bereits als Mittel der Vervielfältigung.
Mich interessiert nun, wie die oben gestellte Frage von Seiten theologischer Experten beantwortet wird.