Die Babylonische Theodizee
Hi.
Um das hier keineswegs unübliche Bibelstunde-Niveau dieses Threads auf eine wissenschaftlichere Ebene anzuheben, möchte ich auf Zusammenhänge hinweisen, die über den engen judo-christozentrischen Horizont hinausgehen und zeigen, dass das Thema Theodizee keine monotheistische Erfindung ist. Überlegungen dazu gab es schon lange vor den israelitischen und christlichen Theologen. Hier zeigt sich einmal mehr, in welchem Maße die jüdische und die christliche Religion in der Tradition der polytheistischen Religionen stehen, sie sind, wissenschaftlich gesehen, nicht anderes als ´genetische Mutationen´ der älteren Systeme. Das ist die einzig sinnvolle wissenschaftliche Betrachtungsweise, wenn auch eine für viele User nur schwer begreifliche.
Die ersten historisch fassbaren Ansätze einer Theodizee im Kontext des Zweifels am guten Willen der Götter traten in Mesopotamien erstmals im 3. Jt. BCE auf (im heute „Der sumerische Hiob“ genannten Text) sowie während des ägyptischen Mittleren Reiches um 2000 BCE, also etwa 2000 bzw. 1500 Jahre vor der endgültigen Ausformung des monotheistischen Denkens durch Deuterojesaja (6. Jh. BCE).
Die Zweifel richten sich im mesopotamischen Bereich aber nicht gegen die ohnehin menschenfernen Hoch- und Staatsgötter, sondern gegen den „persönlichen Gott“, also den Gott oder die Göttin, die ein Individuum als persönliche Schutz- und Hilfsmacht für sich erwählt bzw. von seiner Familie übernommen hat. Im AT ist z.B. der „Gott Abrahams“ (A. = fiktive Figur aus dem südmesopotamischen Bereich) ein solcher persönlicher bzw. Sippengott. Der spätere monotheistische Gott (also Jahwe und seine auf ihn folgenden Varianten) hat die Funktionen des Staats- bzw. Volksgottes sowie des persönlichen Gottes dann in sich vereint.
Um das Jahr 1000 BCE wurde auch das babylonische theologische Denken von Gotteszweifeln erfasst, was sich in der sog. ´Babylonischen Theodizee´ niederschlug, einer Dichtung in 27 Strophen, die ein Gespräch zwischen einem Zweifler am guten Willen der Götter und einem Rechtfertiger der traditionellen Theologie schildert. Die dargestellten Überlegungen weisen Parallelen auf zu den mindestens ein halbes Jahrtausend später verfassten Texten Hiob und Prediger und den Bußpsalmen sowie zu den Sprüchen Salomos und dem Hohenlied.
Ich zitiere zunächst aus dieser Dichtung und nenne dann einige Parallelen zu israelitischen Klage-Texten. Der Zweifler wendet sich u.a. mit folgenden Worten an den von ihm sogenannten Weisen:
(alle folgenden Zitate sind nur Auszüge aus dem Dialog)
Ich bin vernichtet, bin in tiefster Not.
Als ich noch ein Kind war, nahm mir das Schicksal den Vater,
Die Mutter, die mich gebar, ging ins Land ohne Wiederkehr,
Mein Vater und meine Mutter ließen mich unbehütet zurück.
Mein Körper ist erschöpft, schwach vor Auszehrung,
Mein Glück ist vergangen, meine Sicherheit dahin.
Meine Kraft schwand, mein Reichtum ist zerronnen,
Leid und Not haben meine Züge verdunkelt…
Der Weise antwortet, indem er auf den angeblichen Zusammenhang zwischen Schicksal und Schuld hinweist:
Für den Frevel, den der Löwe beging, erwartet ihn die Fallgrube.
Den mit Reichtum Begabten, den Emporkömmling, der die Gewinne aufhäuft,
Wird der König vor der ihm bestimmten Zeit im Feuer verbrennen,
Möchtest du den Pfad wandeln, den jene gingen?
Suche lieber deines Gottes bleibende Gnade!
Der Zweifler lässt das nicht gelten, weil er sich für unschuldig und gottesfürchtig hält:
Die, die ihren Gott nicht suchen, gedeihen wohl,
jene aber, die zu ihrer Göttin beten, verarmen und verkümmern!
Als ich jung war, forschte ich nach dem Willen meines Gottes,
Suchte meine Göttin mit Demut und Andacht,
Und doch musste ich gewinnlosen Frondienst leisten,
Statt Reichtums bestimmt mir mein Gott Armseligkeit.
Der Krüppel ist obenan, der Tölpel gewinnt,
Der Schelm ward erhöht, ich aber erniedrigt.
Dann zieht er die Konsequenz:
Ich will die Gebote meines Gottes missachten und seine Ordnungen mit Füßen treten.
Der Weise bemüht sich, ihm Hoffnung auf Besserung seiner Lage zu machen:
Den gottlosen Betrüger, der Reichtum gewann,Verfolgt der Mörder mit seiner Waffe.
Suchst du den Rat des Gottes nicht - wie könntest du dann gedeihen?
Doch wer das Joch seines Gottes trägt, hat sein Auskommen, sei es auch knapp.
Suche der Götter gnädigen Hauch
So wirst du, was in einem Jahr verloren ging, alsbald wiedergewinnen.
Der Zweifler beharrt auf seine skeptischen Sicht:
Ich schaute mich um unter den Menschen der Welt, aber die Zeichen waren voller Widerspruch.
Der Gott legt dem bösen Dämon nichts in den Weg.
Der Weise greift nun zur theologischen Allzweckwaffe, dem Hinweis auf Unerforschlichkeit des göttlichen Ratschlusses:
Dein Herz ist böse, und du schmähst Gott.
Das Herz des Gottes ist wie die Mitte des Himmels unergründlich,
Was er vermag, ist schwer zu begreifen, unverständlich den Menschen!
Am Ende zeigt sich der Zweifler nicht überzeugt und beschränkt sich darauf, seiner Hoffnung in zukünftige göttliche Gnadenerweise Ausdruck zu verleihen:
Möge der Gott, der mich verließ, mir aufhelfen,
Möge die Göttin, die mich verriet, mir Gnade bezeigen…
++++
Hier ist eine kleine Auswahl von Parallelen dieses Textes zu israelitischen Klage-Texten. Direkte Übernahmen aus der BTh durch israelitische Autoren sind zwar nicht beweisbar, werden aber doch von manchen Forschern für wahrscheinlich gehalten, da während des Babylonischen Exils die Priesterautoren viele sumerisch-babylonische Dichtungen kennenlernten und sich daraus (z.B. aus dem Gilgamesch- und dem Atramchasis-Epos) unbestritten Motive für den Toratext abschauten.
Babylonische Theodizee (BTh):
Das Herz des Gottes ist wie die Mitte des Himmels unergründlich,
Was er vermag, ist schwer zu begreifen, unverständlich den Menschen!
Dazu:
Hiob 11:
7 Meinst du, dass du wissest, was Gott weiß, und wollest es so vollkommen treffen wie der Allmächtige? 8 Es ist höher denn der Himmel; was willst du tun? tiefer denn die Hölle; was kannst du wissen?
BTh:
Die, die ihren Gott nicht suchen, gedeihen wohl,jene aber, die zu ihrer Göttin beten, verarmen und verkümmern!
(…)
Der Krüppel ist obenan, der Tölpel gewinnt,
Der Schelm ward erhöht, ich aber erniedrigt.
Dazu:
Hiob 21
7 Warum leben denn die Gottlosen, werden alt und nehmen zu an Gütern?
sowie:
Jeremias 12:
1 HERR, wenn ich gleich mit dir rechten wollte, so behältst du doch recht; dennoch muss ich vom Recht mit dir reden. Warum geht’s doch den Gottlosen so wohl und die Verächter haben alles die Fülle?
sowie:
Ps 73
3 Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich sah, dass es diesen Frevlern so gut ging. 4 Sie leiden ja keine Qualen, ihr Leib ist gesund und wohlgenährt.
BTh:
Für den Frevel, den der Löwe beging, erwartet ihn die Fallgrube…
Zum Bild des Löwen für den Frevler:
Psalm 58
7 Gott, zerbrich ihre Zähne in ihrem Maul; zerstoße, HERR, das Gebiß der jungen Löwen! 8 Sie werden zergehen wie Wasser, das dahinfließt.
Hiob 4
7 Gedenke doch, wo ist ein Unschuldiger umgekommen? oder wo sind die Gerechten je vertilgt? 8 Wie ich wohl gesehen habe: die da Mühe pflügen und Unglück säten, ernteten es auch ein; 9 durch den Odem Gottes sind sie umgekommen und vom Geist seines Zorns vertilgt. 10 Das Brüllen der Löwen und die Stimme der großen Löwen und die Zähne der jungen Löwen sind zerbrochen. 11 Der Löwe ist umgekommen, dass er nicht mehr raubt, und die Jungen der Löwin sind zerstreut.
Chan