Was berechtigt uns, von der kulturellen Einheit des Abendlandes zu sprechen?
Nichts, da es diese nicht gibt.
Der Gottesstaat-Traum Karls des Großen, der diese „kulturelle Einheit“ in weiten Teilen Europas mit äußerster Brutalität und vorübergehend zumindest einigermaßen erfolgreich hergestellt hat: Die nicht sehr vielen Überlebenden von Karls missionarischem Engagement bei den Sachsen belegen, mit welchen Mitteln sich so eine Einheit herstellen ließe.
Seit Karl geistert dieser Traum in den Ideologien herum, und immer dann, wenn die nötigen Macht- und Mehrheitsverhältnisse gegeben sind, zeigt er sich offen und unverblümt als das, was er auch bei Karl verkörpert hat: Ausrottung aller Religionen und Konfessionen in Europa, die nicht römisch katholisch sind, falls nötig auch durch Ausrottung ihrer Anhänger.
Wenn wir schon grad bei mittelalterlichen Kaisern sind: Das dem genau entgegengerichtete Konzept kannst Du heute auf Sizilien sehen und erleben, wo der Stauferkaiser Friedrich II. „der Schwabe“ herstammte und wo bis heute wie im Reich Friedrichs verschiedenste Völker, Stämme und Religionen in einem übergreifenden Gemeinwesen organisiert sind.
Schöne Grüße
MM
Hi,
die Vorbildwirkung der römischen und griechischen Kultur hinsichtlich Philosophie, Religion, …
die Franzi
zustimmung.
griechische philosophie und politik, römisches recht, christentum, judentum sind die pfeiler der abendländischen kultur.
pasquino
Das Judentum weniger, wenn man nicht gerade die jahrtausendelange Verfolgung von Juden durch Christen als Grundpfeiler der abendländischen Kultur ansehen möchte.
Auch die Sache mit den Christentum ist nicht ganz so einfach, da die Konfessionen teilweise doch recht unterschiedlich sind und sich über viele Jahrhunderte lang gegenseitig an die Gurgel gegangen sind.
nix. Und ich verstehe auch nicht, wozu es gut sein sollte
Hi,
auch das Sich-an-die-Gurgel-gehen ist Teil dessen, was typisch ist, auch wenn es keinen Spaßmacht(e). Christlich-buddhistische Konflikte gibt es - aber sie sind nicht typisch für die abendländische Kultur, in Ermangelung ausreichend großer buddhistischer Gemeinden.
Und die katholische und evangelische Kirche vereint, dass sie christliche Kirchen sind. Strenggenommen beten auch die Juden und die Araber den gleichen Gott an, aber es sind eben andere Kirchen. Wegen der in Europa immer vertretenen großen jüdischen Gemeinden ist es sicher nicht verkehrt, sie hinzuzunehmen, genauso wie die Germanen (deren Missionierung durch die Römer uns so schöne Traditionen wie unsere Art Weihnachten, Ostern, zu feiern und Fasching gegeben hat.
die Franzi
Allerdings sind beispielsweise Katholiken und Calvinisten hinsichtlich ihrer Werte und Überzeugungen so unterschiedlich, dass es sich schon fast um zwei unterschiedliche Religionen handeln könnte.
Was ist aber der speziell jüdische Anteil an der „Abendlandkultur“?
Das stimmt so nicht ganz. Der Weihnachtstermin wurde bereits sehr frühzeitig und ohne Beteiligung der Germanen festgelegt, da es im Mittelmeerraum etliche „Konkurrenzfeste“ in dem entsprechenden Zeitfenster gab, die Geschenktraditionen stammt vermutlich von den römischen Saturnalien, und das regionale Brauchtum rund um Ostern und Fastnacht ist frühestens im Mittelalter entstanden. Die weit verbreitete Annahme, dass diese Bräuche auf heidnisch-germanische Traditionen zurückgehen, ist ein Erbe der Nationalsozialisten, die diese Behauptung in Umlauf gebracht haben.
Eigentlich das ganze Christentum.
Eigentlich stimmt das nicht.
Paulus hat eine Menge Regeln weggelassen , ein paar neue hinzugefügt und das ganze bis Rom exportiert
Später hat das Jiddische dann auch seine Spuren in der deutschen Sprache hinterlassen (und umgekehrt).
Insbesondere mit der Erfindung der Demokratie (Auch wenn Obama zu wissen glaubte, die Amerikaner seien es gewesen. Das dachte der Schlaumeier allerdings auch von der Erfindung des Automobils )
Gruß
rakete
Na ja, Paulus hat die Kirche nur angeschubst - fertig gebastelt wurde sie dann im Herzen des römischen Reichs.
Und was das Jiddische angeht: Deutsch ist nicht die einzige Sprache im Abendland, und ich würde auch keine Wette eingehen wollen, ob mehr Wörter hebräischen oder arabischen Ursprungs in den europäischen Sprachen zu finden sind.
Hi,
es geht hier nicht um Sachen, die genau gleich sind seit Anbeginn der Zeiten oder einem festen Zeitpunkt, oder eindeutig unterschiedlich. Und schon gar nicht um feste Grenzen - wo fängt der eine oder andere Brauch an und beginnt der nächste. nicht mal Sprachgrenzen halten sich an Ländergrenzen, und selbst der Begriff Sprche ist ein ziemlich willkürlicher. Das Slowakische, das zu meinen Schulzeiten ein Dialekt des Tschechischen war, ist seit Mauerfall bzw. Zerfall der CSSR eine eigene Sprache, unterschiedlich vom Tschechischen. Beide sind sich ähnlicher als das Oberpfälzische und das Oberbayrische… usw. usf.
Doch diese ganzen feinen Unterschiede vergrößern sich mit Entfernung und mit Zeit, und sie häufen sich. So kommt es, dass man Kilometer für Kilometer kaum eine Änderung zu vorher hat, und plötzlich ist man in Japan, versteht die Sprache nicht, die Leute sehen anders aus, es gibt kaum Süßspeisen und kein Brot, und es gibt Leute, die sich umbringen, wenn sie die Ehre ihrer Familie verletzt haben. Wir sind immer noch unter Menschen, aber in einer anderen Kultur, einer anderen Welt. Und wenn man für Japan und Deutschland eine Sammlung anlegt von Ländern,die kulturell ähnlich sind, werden sich in der Sammlung von Deutschland andere Kulturen finden als in der von Japan. Und die Sammlung für Deutschland kann man germanisch nennen, oder europäisch, oder abendländisch - je nachdem, wie weit man sie gefasst hat, und die von Japan morgenländisch oder asiatisch.
Der Begriff des Abendlandes ist keine moderne Erfindung, und er ist nicht unwissenschaftlich, auch wenn er zu Zeit missbraucht wird. Weil Ethnologen eine Kultur nämlich über das definieren, was zu ihr gehört, was typisch ist - aber nicht über das, was nicht zu ihr gehört. Ich habe übrigens beim googlen gelernt, dass die USA erst seit neuestem zum Abendland gehört, und dass der Untergang des Abendlandes bereits am Ende des Zweiten Weltkrieges befürchtet wurde, damals waren die Russen schuld. Dem lag übrigens eine wissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung zugrunde.
die Franzi
Du musst mir nicht erklären, was Ethnologen tun, denn Ethnologie ist das, was ich in meiner lang vergangenen Jugend im Hauptfach studiert habe. Und als Ethnologin sage ich, dass es keine gemeinsame „abendländische“ Kultur gibt.
Der Begriff „Abendland“ basiert - vom Christentum einmal abgesehen - nicht auf gemeinsamen kulturellen Elementen, sondern entstand ursprünglich aus der Abgrenzung zur islamischen Welt heraus - und wird genau so heute wieder benutzt.
Wenn man etwas genauer hinschaut, wird man leicht feststellen, dass der Unterschied zwischen dem „Westen“ und dem „Orient“ wesentlich geringer ist als die Unterschiede innerhalb der „westlichen“ bzw. „muslimischen“ Welt. Und dabei spielen die heutigen Grenzen eine vergleichsweise geringe Rolle - die Kultur im Elsass , in der Schweiz und in Norditalien ist mir als Südbadnerin beispielsweise deutlich näher als die in Schleswig-Holstein oder Meck-Pom.
Im Übrigen ist das mit dem angeblichen Germanentum der Deutschen ohnehin so eine Sache. Meine Vorfahrinnen waren zumindest in mütterlicher Linie keltischer Abstammung mit einem Schuss Römer (dankenswerterweise hat meine Tochter kürzlich einen DNA-Test machen lassen), während im Osten der Republik die Leutchen mehrheitlich slawische Ahnen haben dürften.
Und damit hatte er wohl auch nicht ganz unrecht - zumindest ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die amerikanischen Gründerväter einiges von den Six Nations abgeschaut haben: https://en.wikipedia.org/wiki/Iroquois#Influence_on_the_United_States Und deren System ist unserem heutigen Verständnis von Demokratie deutlich ähnlicher (wenn auch nachgerade linksextrem) als es die antike Demokratie ist, bei denen nur ein winziger Bruchteil des Volks Berücksichtigung fand.
zum glück umfasst kulturwissenschaft etwas mehr als ethnologie und endet nicht an ethnischen grenzziehungen, sonst müssten wir das so hinnehmen.
es geht bei einer frage nach „kultureller einheit“ stets um den überblickenden zusammenhang, beispielsweise für ein „abendland“, um gemeinsamkeiten anstelle unterschiede, um gemeinsame kulturelle entwicklung, aber keinesfalls um einzeldisziplin. sie darf und muss ihren beitrag leisten für das ganze.
es dürfte unbestritten sein, dass alle kulturellen oder gesellschaftlichen veränderungen und entwicklungen stets von widersprüchen und unterschiedlichen auslegungen begleitet sind und waren. wenn wir heute von europäischen werten sprechen, dann hat jeder seine eigenen inhalte und interpretationen im detail. der große übergreifende konsens aber muss vorhanden sein.
bei einem begriff abendland wird viel zu sehr auf geographische abgrenzung/definition geschaut. hier wird aber nach abendländischer kultur gefragt.
- dass sich lokale grenzen verschieben
- dass sich machtverhältnisse verschieben
- dass teile von südeuropa (albanien, bosnien, spanien usw.) ab dem 14. jahrhundert islamisch beeinflusst wurde
- dass schon jahrhunderte vor den christlichen kirchen jüdische gotteshäuser in germanien oder britannien standen
- usw.
ändert doch nichts daran, dass dieses „abendland“ über jahrhunderte hinweg eine gemeinsame kultur - im streit wie im konsens - gelebt und entwickelt hat zu dem, was es heute ist. die von mir benannten pfeiler - griechische philosophie und politik, römisches recht, christentum, judentum - mögen vielleicht nicht die einzigen sein. aber sie waren stets präsent als rahmen, innerhalb dessen diese veränderungen stattgefunden haben.
pasquino
Hallo Kollegin Katze,
Bin grad ne Weile aufs Handy angewiesen und kann nicht zitieren und werde nur wenig schreiben.
Eigentlich habe ich mehr kulturgeographie beschrieben als Ethnologie, weil mein Argument Kultur, Bräuche und Traditionassen waren und nicht Gene. Wenn jemand mit polnischen Eltern und/oder keltischen Vorfahren heute in Deutschland aufwächst, wird er Deutsch sozialisiert. Normalerweise hat er dann auch einen deutschen Pass und ist also auch rechtlich Deutscher. Und diese Spezialisierung hat er in Kiel, Freiburg und Görlitz. Dass diese Gemeinsamkeiten dennoch so schwer zu fassen sind, gibt ethnographen und ethnologen Arbeit, macht die Welt interessanter und einigen Parteien das argumentieren schwer.
Die Franzi
Wobei es auch nicht wenige gemeinsame Züge der orthodoxen und der evangelischen Kirchen gibt, was jedoch die Eroberung und Plünderung von Byzanz durch das „christliche Abendland“ beim 4. Kreuzzug nicht verhindern konnte. Fehlten zu diesem Zeitpunkt einfach die evangelischen Fürsprecher im christlichen Abendland, oder hatte dieser Akt der Barbarei doch noch andere Motive?
Auch der Albigenserkreuzzug richtete sich gegen Christen, und das christlich-abendländische Konzentrationslager Jasenovac wurde einige Jahrhunderte später eingerichtet, um orthodoxe Christen umzubringen.
In den Käfigen, die man heute noch an der Lambertikirche in Münster besichtigen kann, wurden die Überreste von Christen ausgestellt, die das christliche Abendland als störend beseitigt hatte, und in der Bartholomäusnacht 23./24. August 1572 wurden vom christlichen Abendland ungefähr 20.000 französische Protestanten gelyncht.
Vielleicht nur, weil strenggläubige Protestanten keinen Karneval feiern und damit ein Grundpfeiler der abendländischen Kultur durch die Hugenotten gefährdet wurde?
Schöne Grüße
MM