Hallo Tanja,
oh je, das ist wirklich eine sehr schwierige Situation, in der du und deine Tochter gerade stecken.
Entgegen einigen hier glaube ich nicht, dass deine Tochter alt genug sei, die Entscheidung über die Schulform selbst zu treffen. Ich glaube noch nicht mal, dass sie die zugrundeliegenden (ursächlichen) Probleme selbst sieht.
Weiterhin glaube ich nicht, dass der Weg des (momentan!) geringsten Widerstands automatisch der beste ist. Ich finde es vollkommen normal, ja, sogar gut, dass du dir Gedanken über die Zukunft deiner Tochter machst. Über die weiter in der Zukunft liegenden Konsequenzen hat sie selbst noch keinen Überblick, aber genau deswegen bist du ja erziehungsberechtigt.
So, nun zum konstruktiven Teil.
Deine Tochter ist frustriert. Wahrscheinlich hatte sie tatsächlich Schwierigkeiten, nach dem simplen Stoff in der Grundschule mit den Anforderungen des Gymnasiums klarzukommen. Als ich aufs Gymnasium gekommen bin, war ich plötzlich von lauter Leuten umgeben, die ebenso gut wie ich oder sogar (sic!) besser als ich waren! Und der Stoff flog mir nicht mehr einfach so zu, ohne zu lernen! Ziemlich wahrscheinlich ist, dass sie durch etwas länger gebraucht hätte, um sich in der neuen Schulform zurechtzufinden und dadurch den Anschluss verpasst hat. Bis sie gemerkt hat, dass sie lernen muss, um gute Noten zu bekommen, war es halt zu spät. Ich bin mir sicher, dass sie das nach den ersten schlechten Noten versucht hat. Da saß sie also, enttäuscht von sich selbst und ängstlich, dich zu enttäuschen, vor den Heftern und Büchern und hatte keine Ahnung, was jetzt von ihr erwartet wird. Imho ist der Kurs „Lernen lernen“ noch nichts für Elfjährige, die meistens nicht die nötige Reflexionsfähigkeit haben, um die dort erlernten Methoden tatsächlich ins Lernen für die Schule zu übernehmen. Hier wärst du also gefragt gewesen und wahrscheinlich hat sich deine Tochter auch tatsächlich Hilfe (von dir) gewünscht, traute sich aber nicht, danach zu fragen. Es war ein Teufelskreis: Sie versuchte zu lernen, wusste aber nicht wie, also schmiss sie frustriert hin, bekam die nächste schlechte Note (und sah, dass ihre Mitschüler gute Noten bekommen, auch diejenigen, die sie eigentlich für dumm hält!) und wurde immer frustrierter. Gleichzeitig sank ihr Selbstwertgefühl immer weiter. Sie fühlte sich dumm, da sie es nicht schaffte, diesen dämlichen Schulstoff zu lernen. Weil sie meilenweit von den guten Noten der eigentlich dummen Mitschüler war und damit also scheinbar selbst noch dümmer ist. Weil sie von dem Schulstoff überhaupt nichts mehr verstand, nirgendwo mehr mitkam und erst recht keine Chance mehr hatte, noch irgendwie mitzukommen.
Dann kam das Gespräch mit dir. Sie gelobte Besserung. Natürlich! Sie kann dir doch nicht einfach sagen, dass sie sich selbst für dumm und unfähig hält! Es ist doch viel „cooler“, alles auf ein „ich will nicht lernen“ zu schieben! Wahrscheinlich hat sie nach eurem Gespräch tatsächlich ein paar mal versucht etwas für die Schule zu lernen, ist aber - vorhersehbar - kläglich daran gescheitert. Jetzt ist sie endgültig frustriert, sieht keinen Ausweg auf dem Gymnasium mehr, nur ein Dickicht vor ihren Augen. Als Rettung erscheint ihr da die vermeintlich einfachere Realschule.
Was du jetzt tun kannst? Einerseits kannst du mit ihr zusammen lernen. Du hast geschrieben, dass ihr mittlerweile eine Stunde täglich lernt. Das ist ein guter Anfang! Ich bezweifle allerdings, dass in ihrer Situation eine Stunde genug ist! Eine Stunde ist ja noch nicht mal immer für normale Hausaufgaben genug, aber erst recht nicht, wenn wenigstens minimal noch die Grundlagen aufgearbeitet werden, um die aktuellen Hausaufgaben überhaupt zu verstehen! Da sie aber wohl kaum mehr als eine Stunde mit dir zusammen lernen wollen wird, halte ich Nachhilfe für einen guten Weg. Was Nachhilfe leisten kann?
- anderer, objektiverer Blickwinkel auf die vorliegenden Lernschwierigkeiten und Wissenslücken
- „Freiraum“ zum Lernen ohne Aufsicht ihrer Mutter (keine Angst, sich vor der Mutter zu blamieren), aber dennoch mit kompetenter Hilfe
- Möglichkeit, nach eingehendem Unterricht mit dem Nachhilfelehrer Erfolgserlebnisse zu haben, indem der Lehrer zum nächsten Termin Aufgaben aufgibt. Das sollte am Anfang etwas sein, was sich sehr, sehr nah an das in der Nachhilfestunde Geübte anlehnt und was deine Tochter alleine schaffen kann (aber nicht nur „mit links“, es soll ja keine „Grundschulsituation“ entstehen und sie soll sich auch nicht dumm fühlen). Dadurch lernt deine Tochter auch wieder, in sich selbst zu vertrauen und selbstständig an Aufgaben heranzugehen. Sie sieht, dass sie durchaus in der Lage ist, selbstständig zu lernen, verliert ihre Angst davor, wieder nur mit leerem Kopf vor den Hefter und Büchern zu sitzen.
Wichtig ist, dass der Nachhilfelehrer euch beiden gefällt und dass du vorher mit ihm sprichst. Der Unterricht sollte - auch wenn das nicht gerade billig ist, ich weiß - zweimal wöchentlich ca. 90 min (mit kurzer Pause zwischendurch) stattfinden.
Dringend empfehlen würde ich dir außerdem, dich mit den einzelnen Fachlehrern (erst einmal nur in den Kernfächern) in Verbindung zu setzen und diese um Hilfe zu bitten. Sie könnten deiner Tochter zusätzliche Aufgaben geben, um den bereits durchgenommenen Stoff aufzuholen (hier kannst du ihr durchaus selbst helfen). Außerdem kannst du mit den Lehrern die Situation ausdiskutieren, sodass sie Verständnis entwickeln und ihr letztlich die Chance auf eine Versetzung geben.
Auch für die Ferien solltet ihr einen Lernplan entwickeln. Natürlich braucht sie auch etwas Zeit, um sich einfach nur von allem zu erholen, keine Frage. Andererseits kann ein Teil der Ferien aber auch dazu genutzt werden, den Stoff vom ersten Halbjahr aufzuarbeiten. Dafür bleibt euch außerhalb der Ferien ja kaum Zeit.
Dringend abraten möchte ich hingegen davon, zu schnell darin zu vertrauen, dass deine Tochter das selbstständige Lernen beherrscht und sie wieder völlig allein lernen zu lassen. Mit 11 Jahren kann sie das noch nicht und das ist völlig normal. Sie soll mit der Zeit immer selbstständiger werden (das soll übrigens auch das Endziel der Nachhilfe sein, nicht die ständige Abhängigkeit!), aber überstürze nichts. Solange sie den Anschluss nicht wiedergefunden hat, wird sie auf jeden Fall deine Hilfe brauchen. Auch in der ersten Zeit danach wird ihr deine Hilfe etwas Sicherheit geben. Mit der Zeit kannst du dich dann ja immer mehr zurückziehen.
Das sind so meine Gedanken zu eurer Situation. Ich hoffe, dieser Beitrag ist für dich hilfreich. Euch beiden wünsche ich viel Kraft und Mut. Lasst euch nicht entmutigen und schmeißt nicht gleich das Handtuch (= das Gymnasium) hin. Ich bin mir sicher, dass ihr es gemeinsam schaffen werdet, wieder zu einem normalen Leistungsstand zurückzukehren!
Viele Grüße
Anja