Maria als Miterlöserin und Himmelskönigin
Hallo,
wie bei allen Fragen ähnlicher Art bringt ein Blick in die Theologiegeschichte ein wenig Klarheit in die (fast bei allen Themen erst allmähliche) Entwicklung religiöser Bestimmungen. So auch hier:
Erstmal war ich überrascht, dass das die unbefleckten Empfängnis aus meiner Sicht erst sehr spät zum status quo erhoben wurde (r.k.). Ich hätte erwartet, dass das Thema schon in den ersten paar Jahrhunderten geregelt worden wäre. Warum wurde dies so spät ein Thema?
Das spezielle Maria-Attribut „immaculata“ konnte ja erst eine Rolle spielen, nachdem der Erbsünde-Begriff seine Karriere begann. Also nicht vor Augustinus. Das lag sicher daran, daß die ersten einflußreichen Theologen bzw Kirchenväter ja griechisch lasen und sprachen, und daher auch die Schlüsselstelle in Rö 5.12 - ἐφ’ ᾧ („deshalb haben alle gesündigt“) - nicht so lasen wie Augustinus es aus der problematischen lateinischen Falschübersetzung - in quo („in ihm [sc. Adam] haben alle gesündigt“). „Erbsünde“ war schlicht vor Augustinus kein Thema. Obwohl der Garten-Eden-Mythos durchaus entscheidend war, da ohne ihn die Rolle des (christlich interpretierten) Messias als „Retter“ gar nicht hätte konzipiert werden können.
Anders verhielt es sich mit der Bedeutung der Maria als „jungfräuliche“ Mutter Jesu: Wie schon vor einiger Zeit hier diskutiert, war dieses Attribut schon sehr früh geläufig. Für z.B. Ignatius, Justin, Irenäus, Origenes war das ein selbstverständliches Attribut. Es wurde aber auch darüber damals bereits heftig gestritten. Aber immerhin war es bereits im Symbolum apostolicum enthalten. Unterschiedlich waren auch damals schon die Kontexte, auf die sich parthenos bezog: Nur auf die Empfängnis Jesu? Oder auch auf die Geburt Jesu? Oder gar auf Lebenszeit (αειπαρθενεια, aeipartheneía, immerwährende Jungfräulichkeit). Die Dringlichkeit dieses Epithetons kam btw. nicht allein aus Auslegungen des AT und NT, aber das ist ein anderes Thema.
Auch das Epitheton „theotokos“. lat. dei genetrix, Gottesgebärerin, war bereits lange vor der konziliaren Festschreibung (Ephesus 431) ein gebräuchlicher Topos (Origenes, auch Basilius Ende 4. Jhdt). Allerdings war die Beschäftigung mit Maria in der lateinischen Kirche generell ein nur nebensächliches Thema, im Kontrast zu den östlichen Bewegungen, Ägypten, Syrien, Anatolien, Griechenland. Hier hat sich Mariologisches schon sehr früh sogar liturgisch manifestiert. Und von hier kamen dann auch die späteren entscheidenden Anstöße des Marienkultes in die westliche Kirche.
Um deine erste Frage also kurz zu beantworten: Es war in den ersten Jahrhunderten kein Thema, das mit den für wichtiger angesehenen Fragen der Christologie konkurrieren konnte.
Leider ist mir auch nicht klar geworden, warum für die Gottesmutter Maria die Freiheit von der Erbsünde notwendig wurde, und was aus Glaubenssicht schlussendlich für den Standpunkt der Empfängnis ohne Sünde gegenüber der Reinigung Marias von der Erbsünde durchgesetzt hat.
Um das Letztere vorwegzunehmen: Genau dies war der entscheidende Diskussionspunkt über Jahrhunderte. Da sich die paulinische Auffassung von der Heilsnotwendigkeit der Taufe durchgesetzt hatte (um der Teilnahme willen an dem durch Jesus bewirkten Heilsgeschehen = Befreiung von der Erbsünde), entstand die Frage, wie es sich denn mit Maria verhalten könnte, die ja qua Gottesgebärerin jedenfalls sündenfrei gewesen sein müsse, aber sie war ja nicht getauft.
Der erste Teil der Frage bedarf einer längeren Ausführung: Wie in diesem Zusammenhang hier schon mal erwähnt (Siehe meine Antwort auf eine Frage zum Ausdruck → Himmelkönigin) kam Ende des 5. Jhdts., also lange nach Ephesus, aus unbekannten Quellen in mehreren Varianten die Idee der leiblichen Himmelfahrt Mariens auf (ebenfalls aus ostkirchen Gebieten). Völlig unabhängig von Konzilien und dogmatischen Diskussionen. Die Legende zeugt jedenfalls von einer weitverbreiteten Marienverehrung, auf die die klerikale Theologie gar keinen Einfluß hatte.
Auch diese Legende transportierte sich in die lateinische Kirche nach Westen, wo sie unaufhaltsam ihre Wurzeln schlug, zumal sie durch die Marienhymnen des Kyrillos (im Anschluß an Ephesos) auf fruchtbaren Boden fiel. Immerhin hatte diese Legende ja auch das Theologoumenon der Sündenfreiheit schon impliziert. Und in diesem Zusammenhang kamen auch schon Ausdrücke wie „sitzt zur Rechten Gottes“ (neben ihrem Sohn, der ihre Himmelfahrt bewirkte) in die Literaturen.
Die nächste Epoche der Marienverehrung entstand dann ab 9./10. Jahdt mit Höhepunkt im 11./12. Jhdt in Südfrankreich. Und zwar im wechselseitigen Einfluß christlicher Bewegungen mit solchen im Judentum: Die Anfänge der Kabbalah mit dem Sefer haBahir, in dem eine personifizierte, weibliche(!) Präsenz Gottes in der Menschenwelt, die השכינה schechinah, eine wesentliche Rolle spielt.
Diese schechinah hat die gleiche Herkunft aus der jüdischen sog. „salomonischen“ Weisheitsliteratur (Hiob, Sprüche Salomonis, Jesus Sirach, Sapientia Salomonis, später vor allem Philo Alexandrinus, wo die chokmah, die Weisheit, sophia, als in der Gegenwart Gottes bereits vor, bzw während der Weltschöpfung präsentiert wurde) aus der auch die Marienverehrung in dieser Zeit rekurrierte: Maria wird nach und nach eine entscheidende Rolle beim Erlösungsgeschehen zugeschrieben. Die ersten deutlichen Epitheta „regina coelorum“ (Hrabanus Maurus 9. Jhdt) kamen auf. Der Benediktiner Petrus Damianus (1007-1072) schreibt von der „domina mundi“ (Herrin der Welt) und der „coeli regina“ (Himmelskönigin), sie sei „vor Erschaffung der Welt im Ratschluß der ewigen Weisheit erwählt und ausersehen“.
Weitere Stationen in dieser Entwicklung: Bei Hermann von Tourney wird Marias herausragende Rolle als „mediatrix“ zwischen Gott und Menschenwelt zur Sprache. Sie wird nicht nur neben Gott als „Vater der Schöpfung“ (pater rerum creatarum) als Mutter der Neuschöpfung (mater rerum recreatarum) besungen, sondern sie bekommt die Konnotation als „corredemptrix“ (Miterlöserin)…
Weiter seien hier nur als entscheidende Autoren benannt. Bernhard von Clairvaux, Hildegard von Bingen. Mit dem Resultat, daß man Maria geradezu als vergöttlicht betrachten kann. Ohne sie wäre die Erlösung nicht möglich gewesen. Und zwar nicht nur, weil sie dem Erlöser die Menschwerdung ermöglicht habe, sondern weil sie „vor aller Zeit“, eben wie die alttestamentliche chokmah und die schechina des Sefer haBahir, eine entscheidende Rolle beim Schöpfer selbst hatte. Teils als Tochter, teils als Schwester, teils als Geliebte. Sie sitzt auf dem göttlichen Thron bei der Trinität (!) als Vierte und ist die Geliebte Gottes, mit dem sie gemeinsam den Weltretter zeugt. Wo anders als dort sollte auch ihr Platz sein, da sie ja „regina coeli“ ist?
Von Marias Erbsündefreiheit (also ihre Geburt als Immaculata) ist in diesen Literaturen nicht die Rede. Wohl weil es in Anbetracht ihrer Quasi-Göttlichkeit überflüssig war zu erwähnen. Diese extreme Marienkonzeption ist theologieschichtlich aus diversen Gründen (wie könnte man es anders vermuten) wieder erheblich abgeschwächt worden. Besser gesagt: abgewürgt worden. Aber aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, hat Pius IX 1854 daraus ein Dogma gemacht, welches zwar nicht die Marienverehrung des 12. Jhdts wiederbelebte, aber zweifellos an diese Bewegungen anschloß.
Allenthalben, zB auch in Editionen der oben genannten Autoren, wird gerne betont, daß damit keineswegs eine Apotheose, eine Vergöttlichung der Maria gemeint gewesen sei. Warum wird das ängstlich betont? Nun, weil es tatsächlich ja eine Apotheose war.
Eine Feier der Empfängnis Mariens und ebenso ihrer Geburt war jedenfalls bereits in den ersten Jahrhunderten in den Ostkirchen liturgisch eingebaut, und Feste dazu gab es lokal ebenfalls zahlreich auch schon vor der Dogmatisierung. Aber jedenfalls hätte es das Dogma von Pius IX - ebenso wie das der „Assumptio Mariae“ von Pius XII knapp 100 Jahre später (die ja auf noch älterem Gedankengut aus dem 5. Jhdt fußt) - ohne diese Bewegungen im 11./12. Jhdt nicht gegeben.
Gruß
Metapher
PS: Literaturempfehlung.
Da du ja theologiegeschichtliche Vorkenntnisse hast (ohne die wäre es sinnlos):
Der fast konkurrenzlose Experte für die erwähnten Themen:
Peter Schäfer:
Mirror of His Beauty. Feminine Images of God from the Bible to the Early Kabbalah.
Princeton UP 2002
Dt.: Weibliche Gottesbilder im Judentum und Christentum.
Frankfurt/Leipzig 2008