Materie und Struktur der Gedanken
Hi.
Für das Alltagsbewusstsein haben „Gedanken“ ja einen seltsam abstrakten Status, sie sind sprachliche Symbole, die spontan aus dem Nichts erscheinen und wie etwas Fremdes, wie ein Objekt, durch den Bewusstseinsraum ziehen, um wieder im Nichts zu verschwinden. Gedanken erscheinen als etwas Schattenhaftes und völlig Körperloses. „Wir“ scheinen sie mit einem „inneren Ohr“ wahrzunehmen, als seien wir von ihnen getrennt.
Was aber sind Gedanken? Woraus bestehen sie? Und was ist es, das denkt? Das Ich - oder das Unbewusste?
Zwei Fragen, auf die ich kursorisch zwei Antworten andeuten möchte, eine aus dem esoterischen Lager, die zweite aus dem philosophisch-strukturalistischen.
- Was sind Gedanken?
Folgt man der esoterischen Tradition, wie sie in den Büchern von Arthur E. Powell zusammengefasst wird, dann sind Gedanken keineswegs etwas Körperloses, sondern Materielles. Allerdings nicht materiell im physikalischen Sinn, sondern im Sinne einer viel feineren Materieform, die die Esoterik ´mental´ nennt: Gedanken bestehen aus mentaler Materie. Diese Materie wird deshalb mental genannt, weil sie der Stoff ist, aus dem das, was wir unter ´mental´ verstehen, erzeugt wird: eben die Gedanken. WIE wir Gedanken wahrnehmen, ist eine Frage der Bewusstseinsebene: auf dem Level des Alltagsbewusstseins erscheinen sie wie eingangs beschrieben. Auf höheren, erweiterten Levels erscheinen sie ganz anders, als ästhetische farbenprächtige Muster oder als lebende Bilder, zum Beispiel.
Die Esoterik unterscheidet mehrere Ebenen des Materiellen, die den verschiedenen Körpern entsprechen, aus den der „Mensch“ besteht: physikalisch, ätherisch, astral, mental, kausal und buddhisch. Der Feinheitsgrad steigt mit jeder Ebene zunächst mal um ein Billionenfaches, d.h. die jeweiligen „Atome“ einer Ebene sind entsprechend kleiner als die der darunter liegenden Ebene. Die kausale Ebene ist so etwas wie das höchste Selbst, das Bewusstsein auf der Stufe des universellen Geistes, der sich selbst als solchen wahrnimmt. Buddhisch ist dann die allerhöchste Ebene, auf der der universelle Geist einfach nur noch IST - als „Nirvana“, um ein nicht-esoterisches Wort zu gebrauchen. Zugleich ist diese Ebene die „Energiequelle“, aus der sich die Vitalität aller unteren Ebenen speist.
Auch die unterste, die grobstofflich-physikalische, ist von einer fundamenten Vitalität erfüllt, denn das Universum kennt nichts „Totes“. Der biologische Leib des Menschen entspricht der physikalischen Ebene. Der ätherische, ihn umgebende (und durchdringende) Leib dient nur dazu, die höheren Energien aus der astralen, mentalen usw. Ebene mit ihm zu verbinden, und vergeht, wenn sich der astrale vom physischen Leib nach dem biologischen Tod trennt. Dieser Astralleib hat ein eigenständiges Sein, auch losgelöst vom Körper, und gilt im wesentlichen als Sitz der Emotionen, also der Gefühlswelt, der Leidenschaften. Er ist ständig in die höheren Körper eingebettet, also den mentalen, kausalen und buddhischen. Der ihn umgebende (und durchdringende) Mentalleib wiederum ist der Leib, mit dem der Mensch denkt. „Dem hellsichtigen Menschen erscheint der Mentalkörper … als ein Gebilde aus dichtem Nebel von der Gestalt edes physischen Körpers… Er ist eine Gestalt von großer Schönheit und erhält durch die Zartheit und schnelle Bewegung seiner Partikel den Anschein lebendigen irisierenden Lichts… jeder Gedanke lässt im Mentalkörper Schwingungen aufsteigen, begleitet vonn einem Farbenspiel ähnlich dem in der Gischt eines Wasserfalls im Sonnenlicht, aber um ein Vielfaches intensiver in den Farben und in seiner lebendigen Schönheit.“ (Powell, Der Mentalkörper, 20-22)
- Was ist es, das denkt?
Hierauf geben die französischen Strukturalisten wie Lacan und Deleuze interessante Antworten. Es ist kein Ich, das denkt, denn ebenso wie die Buddhisten wissen die Strukturalisten, dass es kein substantielles Ich gibt, dass ein solches nur eine Illusion ist. Es sind viel mehr unbewusste Strukturen, die das Denken hervorbringen und formen. Relevant sind z.B. die Strukturen des Ökonomischen (wie Marx sie analysierte), die familär-sexuellen Strukturen (wie Freud sie analysierte) und die sprachlichen Strukturen (wie z.B. Saussure sie analysierte). Diese Strukturen formen während der Sozialisation des Individuums dessen Unbewusstes und damit die Quelle des Denkens. Denn es ist das Unbewusste, das denkt (Lacan), bzw. die Struktur ist das eigentliche Subjekt (Deleuze).
Nimmt ein konkretes Individuum z.B. innerhalb der ökonomischen Struktur einen bestimmten Ort ein, so ist es dieser Ort und die von ihm ausgehenden komplexen differentiellen Beziehungen, welche dem Subjekt seine Rolle zuweisen. Seine Rolle heißt u.a., die Art, wie er die Welt und die anderen Menschen sieht. Er ist im ökonomischen Prozess zur Ware geworden, er ist ein Instrument, das Zwecken dient, er ist, wie Marx sagte, entfremdet, er hat eine künstliche Identität angenommen - in der Regel, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein Fetischismus der Warenwelt durchdringt ihn und determininert sein Wesen bis in die Haarspitzen. Sein DENKEN ist nicht sein eigenes: es sind affektbesetzte Symbole, die ihm von außen, von anderen Mächten, aufgezwungen wurden. Er ist so frei wie ein Gefangener, der mit seinen Ketten spielt.
Mit Freud und Lacan kommt das Sexuelle in die Rechnung hinein. Die Struktur des sexuellen Begehrens und seiner Objekte ist gleichfalls ein Faktor, der vom Unbewussten aus das Denken determiniert. Das Subjekt lernt, dass sein Überleben und sein Wohlergehen von „Objekten“ abhängig ist. Sein DENKEN ist fortan von Kategorien wie Innen-Außen, Ich-Du, Mein-dein, Da-nicht da usw. fundamental geprägt. So konstituiert sich ein Wirklichkeitsbegriff, der - in den Augen z.B. der buddhistischen Philosophie - einen Zustand verblendeter Wahrnehmung anzeigt: wir leben in einer Subjekt-Objekt-Welt, in der substanzhafte Wesenheiten getrennt voneinander existieren.
Ein dritter Faktor ist das Sprachliche. Lacan meinte, das Unbewusste sei strukturiert wie eine Sprache. D.h. die Inhalte des Unbewussten stehen zueinander in Verhältnissen, die man mit Begriffen aus der Sprachwissenschaft (Linguistik) beschreiben kann. Als Quasi-Sprache ist das Unbewusste eine komplexe Struktur von Bildern, denen sprachliche Symbole zugeordnet werden, und die mit linguistischen Relationen in Bezug gesetzt sind. Interessant dabei ist, dass kein Element (Wort) der Sprachstruktur erschöpfend definiert werden kann. Es müsste mit einer Anzahl von Worten definiert wirden, die wieder erst definiert werden müssen, usw. usf.
Das mag mit ein Grund sein, warum das Bedürfnis nach einer obersten Begriff, der alles zusammenhält, seit jeher so groß war. Die diversen Religionen und Philosophien gaben unterschiedliche Antworten.
Der Motor hinter den Denkprozessen ist das BEGEHREN. Auf eine kurze Formel gebracht, würde ich sagen, dieses fundamentale Begehren setzt sich aus zwei Hauptkomponenten zusammen, die sich konträr gegenüberstehen: das sexuelle Begehren und das spirituelle Begehren (nach Erleuchung bzw. Befreiung).
Das einzelne Individuum hat aufgrund jenes spirituellen Begehrens das Potential, sich von der Determinierung durch die Strukturen schrittweise zu lösen. Denken ist nicht nur determiniert, sondern hat die Kraft des Kritischen und Befreienden. Das Denken kann erkennen, dass das Denken auch eine Schranke ist. Hier kommt die Frage des Willens und seiner Freiheit ins Spiel. Zu diesem Begriffsfeld hat Ralf Boeck aus buddhistischer Sicht ja kürzlich Sinnvolles beigesteuert.
Gruß