Aus der Sonntagsbeilage der Süddeutschen Zeitung:
Mach Dich locker, Mama!
Deutschland vergreist, weil wir es lieber romantisch als pragmatisch mögen. Leider entstehen durch Romantik weder Krippenplätze noch Schulen. Ein Plädoyer zum Muttertag.
von Jeanne Rubner
Madame hat vier Kinder und einen Mann in sogenannter hoher Position, den sie gelegentlich zu Empfängen begleitet. Und einen anspruchsvollen Job. Sie war Beraterin des Präsidenten, Ministerin, und sie ist jetzt Chefin der Region Poitou-Charentes. Mit ziemlicher Sicherheit hat man Ségolène Royale nie gefragt, wie sie das schafft. Vermutlich hat sie sich nach der Rückkehr aus einem Mutterschaftsurlaub auch nie die spitzen Fragen der Kollegen anhören müssen, ob sie denn jetzt nicht endlich auf Teilzeit umsteigen wolle. Denn Madame kann - abgesehen davon, daß sie sich als privilegierte Großverdienerin eine Haushaltshilfe hält auf Krippen, Ganztagskindergärten und Schulen zählen. Anders als ihre deutschen Kolleginnen.
Natürlich, so geht das Wehklagen, wollen deutsche Frauen nichts sehnlicher als Kinder bekommen - ach, wenn sie denn nur arbeiten könnten. Wir hätten kein demographisches Problem, gäbe es genügend Krippen, Horte und Ganztagsschulen. Akademikerinnen, von denen inzwischen fast jede Zweite auf Nachwuchs verzichtet, würden sich anständig vermehren. Jeder Politiker könnte das bürokratendeutsche Wort „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ im Schlaf buchstabieren. So wird es nicht kommen, selbst wenn jedes Kind einmal einen Krippenplatz hat und die Schulen von acht bis fünf geöffnet sind. Denn mehr als unter fehlender Kinderbetreuung leiden die Deutschen unter ihrem romantischen Lebensbild: Kinderkult, Mutterwahn und Zukunftsangst vermischen sich zu einem diffusen Erwartungsszenario, in dem für arbeitende Mütter mit glücklichen Kindern kein Platz ist.
Diese Welt kann man Kindern nicht zumuten, hieß es in den 80ern, als irgendwie ständig Kernkraftwerke zu explodieren drohten und Atomwaffen stationiert wurden. Man demonstrierte in Mutlangen und Brockdorf und weigerte sich, Kinder in die Welt zu setzen, die dann unter toten Tannen spielen und radioaktiv verseuchten Salat essen. Abgesehen davon, daß die Welt heute eine unsicherere ist als vor 20 Jahren, ist die Angst - dieses finstere Kind deutscher Romantik doch eine andere, und wenn man so will: provinziellere. Einst befürchteten wir den Weltuntergang, nun geht es nur noch um den Untergang des eigenen Heimatlandes: Kann man den Kindern unsere schlechten Schulen und faulen Lehrer zumuten? Gebärt man sie nicht in die deutsche Arbeitslosigkeit hinein? Werden sie sich gegenüber einer Schar von geldgierigen und pflegebedürftigen Alten in Deutschland behaupten können? Mit einer Rente können die 2000er Jahrgänge ohnehin nicht mehr rechnen. Wovon sollen sie überhaupt leben?
Wer das große Wagnis dennoch eingeht, dem stehen anstrengende Jahre bevor. Denn ein Kind ist nicht einfach ein kleines Wesen, das man in die Welt setzt und nach bestem Wissen und Gewissen aufzieht. Ums Kind in Deutschland wird ein beispielloser Kult betrieben. Kinderkriegen ist hierzulande so aufreibend, weil es schon so früh anfängt. Nicht daß die Frauen tatsächlich jung wären, wenn sie zum ersten Mal gebären - das waren sie nur in der DDR, wo als Gebärprämie die eigene Wohnung winkte. Nein, für Eltern jeden Alters fängt die Geburt nicht zehn oder auch zwanzig Stunden vor der Niederkunft an, sondern spätestens im vierten Monat. Dann pilgern Väter und Mütter als Kreißsaaltouristen durch die Stadt auf der Suche nach dem Krankenhaus mit der niedrigsten Kaiserschnittrate. Werdende Mütter tauschen Listen mit der Dammschnittstatistik aus. Das eine Krankenhaus meidet man wegen der unfreundlichen Hebammen, das andere, weil es keine Wassergeburten mit Aromatherapie gibt. Selbstredend müssen die zukünftigen Väter mit zur Schwangerschaftsvorbereitung, wo sie auch ihren eigenen Bauch streicheln und Atemübungen machen sollen. Wer sich als Vater vor der vorgeburtlichen Meditation drückt oder sogar den Kreissaal meidet, gilt heute nicht mehr als beinharter Macher, sondern als sozial inkompetent. Ist das Kind heil auf die Welt gekommen, muß es gleich mit aufs Zimmer. Wehe, man läßt sich nicht auf das politisch korrekte 24-hours-rooming-in ein, das Neugeborene könnte nachts auf der Säuglingsstation einen bleibenden Schaden davontragen, wenn es einmal Fencheltee und nicht gleich die Brust bekommt. Abgesehen von Allergien drohen Entfremdung, Vernachlässigung- und psychische Labilität, wenn Kinder nicht nach Bedarf und mindestens ein Jahr lang gestillt werden, auch wenn es dreimal pro Nacht ist.
Selbstverständlich ist Papa stets mit von der Partie und kommt mit rot unterlaufenen Augen ins Büro. Der Kleine wacht mit einem Jahr nachts zigmal auf und verlangt nach einer Milchflasche? Die Dreijährige findet, daß sie morgens um fünf Kaufladen mit Papa spielen muß? Die Kollegen nicken verständnisvoll. Da muß man durch. Tagsüber darf man das Baby nicht ins Bett legen, wenn es vor Müdigkeit schreit, sondern muß es im Tuch am Bauch tragen, damit es über den Körperkontakt das Urvertrauen aufbaut. Laufställe und Toilettentraining sind tabu, weil sie bleibenden Schaden verursachen könnten - schließlich ist die Mutter ja zuhause. paßt auf, baut Klötzchentürme und wechselt Windeln, und schau, da kommt doch schon wieder der Papa von der Arbeit heim, was schaut er denn so müde, er ist doch der Papa.
Nirgendwo hat die 68er-Revolte so grundlegend die Werte verschoben wie in Deutschland. galt es doch, endgültig mit der unseligen Geschichte von Kaiserreich und Nazidiktatur aufzuräumen, Sekundärtugenden wurden abgeworfen und durch antiautoritäre Erziehungsideale ersetzt. Man findet es noch immer in Ordnung. daß Kinder im Supermarkt das Regal mit den Überraschungseiern entern, im Bus nicht aufstehen, um älteren Damen Platz zu machen oder im Hausflur nicht die Nachbarn grüßen. So sind sie, die Kleinen, sie müssen lärmen, Aggressionen ausleben, Selbstbewußtsein demonstrieren. Ums Kind wird bei uns ein Kult betrieben, über den Eltern anderswo den Kopf schütteln. Kinder stehen in Deutschland nicht im fröhlichen Mittelpunkt, sondern unter einem bedrohlichen Artenschutz. Kindheit ist nach dem romantischen Ideal eine Lebensphase, in der man die Kleinen vor schädlichen Einflüssen schützen muß. Schädlich ist alles, was von außerhalb der Familie kommt.
Verwoben mit dem romantischen Kindheitsbild ist ein beispielloser Mutterkult. Mütterlichkeit bedeutet Wärme, Geborgenheit und ist damit das Gegenmodell zur harten Welt des Geldes und der Macht. Die überlassen wir den Männern, wir ziehen dafür die Kinder groß. Die Nationalsozialisten setzten dem romantischen Mutterbild eins drauf und deklarierten die deutsche Mutter zur gebärenden und erziehenden Kultfigur. Der Muttertag wurde schon Ende des Ersten Weltkriegs zum Feiertag in Amerika, in Deutschland geschah das erst auf Betreiben der Nazis im Jahr 1933. Die pragmatischen Amerikaner freilich haben den Tag inzwischen dem Kommerz preisgegeben, die Deutschen dagegen kultivieren weiter das Bild der aufopferungsvollen Mutter, die ihr Leben dem des Nachwuchses unterordnet. Dieses konservativ-romantische Mutterbild haben die Deutschen so internalisiert, daß selbst gut ausgebildete Frauen darin aufgehen. (Die Männer tun es sowieso, weil es für die eigene Karriere Annehmlichkeiten mit sich bringt, wenn die Frau daheim ist und sich um die Familie kümmert.)
Mütter glauben. daß nur sie ihr Kind richtig aufziehen können, weil nur sie seine Bedürfnisse kennen. Eifersüchtig wachen sie über das Kind, dem nur sie selbst gerecht werden können. Paradoxerweise galt der deutsche Kindergarten im 19. Jahrhundert anderen Ländern als Vorbild, wie auch die reformpädagogisch orientierten Landschulheime und Ganztagsschulen der 20er Jahre. Doch während man anderswo einsah, daß sich Familienstrukturen verändern und deshalb familiengerechte Kindergärten und Schulen baute, hielten und halten die Deutschen bis heute an ihrem Ideal der Mutter als der einzig wahren Erzieherin fest. Tagesmütter, Erzieher, Lehrer und die Gleichaltrigen könnten das Kind falsch behandeln und ihm seelischen Schaden zufügen. Krippe? Nur für Arme. Großeltern? Verstehen - was besonders komisch ist - angeblich nicht, wie man mit Kindern umgeht. Kindergarten? Höchstens drei Stunden am Tag, mehr Sozialkontakte außerhalb der Familie könnten schädlich sein. Ganztagsschule? Internate? Das arme Kind! Deutsche zeichnen sich durch eine tiefe Abneigung gegen Gemeinschaftserziehung aus. Die französische Maternelle gilt als Gefängnis für Kinder, weil dort schon Dreijährige auch nachmittags still sitzen müssen. Über DDR-Horte wird die Nase gerümpft, nicht so sehr wegen der sozialistischen Indoktrination, sondern weil die armen Kleinen dort alle gleichzeitig auf den Topf mußten.
Wer Kind ist, darf nicht überfordert werden, weder durch Krankheitserreger anderer Kinder in der Krippe, noch durch Buchstaben im Kindergarten oder durch Nachmittagsunterricht in der Schule. Mütter klammern an ihren Kindern, weil sie sich für die einzig wahren Erzieherinnen halten. Sie klammern aber auch, weil sie sonst keinen Sinn in ihrem Leben als Vollzeit- oder Nachmittagsmutter sehen. Wenn sie schon ihren Job aufgegeben haben, wollen sie ihre Kinder möglichst lange in Abhängigkeit halten. Wer sonst würde ihnen Mittagessen kochen, wenn sie von der Schule heimkommen? Wer sie zum Klavierunterricht und Reiten fahren, wer ihnen nachmittags bei den Hausaufgaben helfen? Mit ihrem Mutterwahn haben deutsche Frauen sich in eine Sackgasse manövriert. Sie glauben, nur sie könnten ihren Babys die nötige Nestwärme geben, nur sie würden ihre Kleinkinder richtig erziehen, nur sie seien in der Lage, ihren Schulkindern das richtige Mittagessen zu kochen –und jammern dann über verpaßte Chancen. Und vor allem unter der Last, alleine zu erziehen. Denn wer alleine erzieht, trägt die Verantwortung. Früher gab es noch Großeltern, Tanten und Nachbarn, Lehrer, die Kinder miterziehen durften. Eine solche Einmischung halten wir heute für unbotmäßig.
Wir sehen die Welt als Entweder-Oder-Modell, als gut oder böse. Wir haben Kinder oder Beruf, sind Mutter oder Chefin. Alles andere heißt „Doppelbelastung“ - als ob es nicht auch Freude bereiten würde, Kinder am Frühstückstisch, beim Abendbrot und am Sonntag beim Familienausflug zu sehen. Und warum sollte man gerade jetzt ein Kind bekommen, wo man gerade erst bei der neuen Firma angefangen hat oder der Chef endlich mit einer Beförderung winkt? Es gibt immer mindestens zehn gute Gründe, sich keinen Nachwuchs zuzulegen. Die Beziehung steht gerade nicht auf ganz festen Beinen, eben deshalb wollte man doch gemeinsam eine Weltreise machen, um sich gemeinsam neu zu entdecken, und, äh, auch ist der Job gerade ein wenig anstrengend. Ehrlicherweise ist es so: Wir sind zu behäbig und zu bequem und zu ängstlich für Kinder geworden. Kinder sind nicht nur teuer, sie erfordern auch ein Mindestmaß an Pragmatismus. Sie bekommen von einer Stunde zur anderen 40 Grad Fieber und machen jegliche Pläne für das Wochenende zunichte. Mit Kindern also muß man flexibel sein und nicht (über die Maßen) romantisch. Mit Kindern zu leben und zugleich einen Job gut zu erledigen, bedarf einer gewissen Wurstigkeit, die vielen Deutschen abgeht. Wer perfektionistisch ist, kann sich kaum vorstellen, daß man einen anspruchsvollen Beruf ausüben und Kinder großziehen kann. Dabei funktioniert das, vorausgesetzt man wirft einige lieb gewonnene Ideale von Bord. Es ist wunderbar und wichtig, daß Kinder umhegt werden, aber sie brauchen nicht drei Jahre lang ihre Mutter rund um die Uhr an ihrer Seite. Sie nehmen auch nicht seelischen Schaden, wenn sie acht Stunden am Tag von Erziehern oder Lehrern betreut und unterrichtet werden. Sie schaffen das Abitur auch, wenn Mama nicht jeden Nachmittag neben ihnen sitzt. Machen wir uns frei vom romantischen Perfektionismus, von der Vorstellung, das Leben sei bis auf die letzte Stunde planbar. Nehmen wir die Welt, uns und das Kinderkriegen weniger ernst. Lassen wir mal los, so haben wir einfach Freude daran mitzuerleben, wie ein Baby heranwächst, ein Kind sich tastend die Welt erobert und ein Jugendlicher seinen eigenen Weg findet. Kinder brauchen keinen Artenschutz. Sie brauchen Liebe und Pragmatismus. Wir hätten kein demographisches Problem. Und dafür fröhlichere Mütter.