Liebe Gemeinde,
ihr habt mir oft geholfen, nun hoffe ich wieder auf Eure Meinungen und Hilfe.
Ich hatte euch ja vor einem halben Jahr berichtet, dass die Tochter meiner Freundin vom Stiefvater sexuell missbraucht wurde.
Anfänglich stand auch der Verdacht im Raum, dass die beiden Mädchen sich das ausgedacht haben.
Es hat sich leider bestätigt, dass eine missbraucht wurde und die andere sich als 14-jährige gegen ihn zur Wehr setzte und letztendliich nicht missbraucht wurde (über die Auswirkungen einer sex. Belästigung möchte ich hier gar nicht reden).
Die „Wehrhafte“ hatte danach wohl die Hölle auf Erden, weil der Stiefvater sie für alles „Unglück“ in seiner Ehe verantwortlich machte und auch gewalttätig ihr gegenüber wurde(er hat sie verprügelt)
Erschwerend war auch die Situation, dass alle drei Kinder dem Stiefvater durch das Zeugenschutzprogramm und der dadurch entstandenen Isolierung hilflos ausgeliefert waren.
-keine Freunde, Verwandte oder Bekannte, kein leiblicher Vater, bei dem man um Hilfe hätte bitten können.
In dieser Situation war es ein sehr einfaches Spiel für ihn.
So, das zur aktuellen Geschichte.
Nun mein Problem: Meine Freundin und die Mutter der drei Kinder und ihr (für mich) seltsames Verhalten.
Sie will ihrer Tochter nicht zuhören, die gerne mehr über den Missbrauch bzw. die Vergewaltigung sprechen möchte. Für mich absolut verständlich,dass das Mädel das möchte, da das auch ein Weg der Verarbeitung bzw. ein Schritt in diese Richtung ist.
Ich verstehe meine Freundin nicht!!
Warum will sie ihrer Tochter nicht zuhören? Sie sagt, dass es zu schrecklich sei und sie ja selbst tief verletzt sei, da sie ja durch ihren Ex-Mann betrogen wurde über Jahre und das mit ihrer eigenen Tochter.
Ist dieser Gedanke nicht irgendwie pervers???
Wie kann ihr „Schmerz durch den Betrug“ für sie schwerer wiegen als die Vergewaltigung ihrer eigenen, leiblichen Tochter?
Wie kann sie immer noch eine Art Liebeskummer haben, wegen diesem Verbrecher?
Mir gehen halt Gedanken durch den Kopf, wie: das ist wohl das, was man als Rabenmutter bezeichnet oder dass sie einfach zu egoistisch ist.
Ich mochte sie immer sehr gerne, aber je öfter ich mit ihr über ihren Ex-Mann spreche, desto mehr „entferne“ ich mich von ihr!
Es fallen Sätze wie:" ich habe ihm mein ganzes Geld geopfert, ich habe mein ganzes Leben, wegen ihm hinter mir gelassen, ich habe13 kilo abgenommen, als er im Gefängnis saß (wegen Schutzgelderpressung usw), wie konnte er MIR das antun???"
Wie kann sie nur daran denken, was sie leidet und das Leid ihrer Tochter komplett ausblenden???
In meinen Augen hat sie es zu verantworten, dass ihren Kindern so etwas zugestoßen ist, da sie ja ganz bewusst einen kriminellen geheiratet hat.
Mir ist schon sehr bewusst, dass sie für die Vergewaltigung im Endeffekt keine Schuld trägt, die trägt der Vergewaltiger ganz alleine.
Aber sie hat es erst möglich gemacht, dass die Kinder isoliert wurden und der Täter somit ein gar zu einfaches Spiel hatte.
Er hat sich ja nicht mal die Mühe gemacht, zu warten bis die Mutter aus dem Haus ist, er hat das Mädchen in ihrem Kinderzimmer vergewaltigt, während seine Frau mit der anderen Tochter im Wohnzimmer saß. (Wie sicher muss er sich gewesen sein???)
Und bevor die Frage der Fragen kommt, warum das Kind nicht schrie: sie hatte ihre Gründe, die ich absolut nachvollziehen kann, aber selbst die Erklärung würde nur der verstehen, der selbst Missbrauchsopfer war. Leider ist das Verhalten ganz typisch gewesen.
Während der Vergewaltigung fand eine Abspaltung statt. Als der Täter ihr mit der Hand die Augen zuhielt, wäre sie dann plötzlich nicht mehr dort gewesen…kenne ich von mir auch.
Plötzlich ist man aus der bedrohlichen Situation herausgeflogen und sitzt wie im Kino und schaut sich teilnahmslos einen Film an, der scheinbar nichts mit einem zu tun hat.
Ihr fehlen ganze Monate im Gedächtnis und sie kann sich immer noch nicht an alles erinnern.
Sie verzweifelt fast daran, dass immer nur Stückchen für Stückchen was „hochkommt“. Sie verzweifelt daran, dass sie immer, wenn sie jetzt mit einem Mann intim wird, sich das Gesicht ihres Partners in das Gesicht ihres Vergewaltigers verwandelt…und sie muss wieder Schluss machen.
Aber, und da bin ich ganz stolz drauf, sie wird endlich eine Therapie machen, hat auch bereits einen Termin; anfänglich wollte sie nur vergessen!
Und ich frage mich immer und immer wieder, wie kann eine Mutter so mit sich selbst beschäftigt sein, so ihre Kinder ignorieren??
Ich stelle mir immer und immer wieder diese Frage. Ich komme auf keine Antwort.
Vielleicht bin ich nicht in der Lage, das zu beurteilen, weil ich selbst nie Mutter werden durfte.
Vielleicht projiziere ich meine eigene Mutter in sie, die eine „Rabenmutter“ war und finde deswegen, dass sie ihr Leid nun zurückstecken muss, als Wiedergutmachung für ihr Verschulden quasi?
Ich kenne keinen Liebeskummer, habe ich nie gehabt, weil das für mich ein Luxusproblem ist, ich hatte ja meist größere Sorgen als Verlassenwerden durch den Freund.
Vielleicht kann ich es deswegen nicht verstehen?
Ich merke, dass ich immer mehr Wut für sie empfinde.
Natürlich möchte ich nicht, dass auch noch unsere Freundschaft an der Tat dieses Spinners kaputt geht.
Wo liege ich falsch?
Wie muss ich meinen Blickwinkel verändern?
Mein Mann ist der gleichen Meinung wie ich, dass meine Frendin zurückstecken muss.
Aber er ist parteiisch, glaube ich. Vielleicht weil er hautnah tagtäglich erlebt, was es für Auswirkungen für das Leben des Opfers gibt?
Vielen Dank bereits jetzt für das Lesen.
Und noch mehr Dank für eure Gedanken, Meinungen und euer Wissen.
Liebe Grüße
Ayse