Hallo!
Wenn die Schweiz die Zuwanderung begrenzen moechte ist dies
eine nationale Angelegenheit die nur die Schweiz betrifft.
Wenn das Ergebnis der Volksabstimmung wie im vorliegenden Fall mit vertraglichen Regelungen zwischen der Schweiz und der EU kollidiert, handelt es sich nicht mehr nur um eine nationale Angelegenheit der Schweiz.
Aber nun warte man erst einmal ab, bis sich die Aufregung gelegt hat und auf allen Seiten etwas mehr Verstand einkehrt. Erstmal passiert noch gar nichts. Gut möglich, daß der Mehrheitswille der Schweizer Wähler in einer wenigstens ansatzweise EU-konformen Weise umgesetzt wird. Auch nicht ganz auszuschließen ist, daß in der EU noch einmal nachgedacht wird.
Freizügigkeit ist ein hohes Gut. Natürlich gehen mit jeder Freiheit auch unangenehme Begleiterscheinungen einher. So gibt es in der EU natürlich Leute, die billige Arbeitskräfte haben wollen und irgendwas von Fachkräftemangel erzählen. Tatsächlich ist es wohl nicht ganz einfach, etwa in Regensburg oder Stuttgart einen Ingenieur aufzutreiben und in Mecklenburg wird es zunehmend schwierig, Köche und Bedienkräfte für 6 € brutto pro Stunde zu finden. Dem Vernehmen nach soll die für 4 € brutto arbeitende Servicekraft einer Spielhalle vorsichtig nach Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gefragt haben und ihre freche Kollegin führte sogar das Wort Urlaub im Munde. Wobei tatsächlich weder Urlaub noch Krankheit ein Problem darstellen. Muß vom Arbeitnehmer nur gratis nachgearbeitet werden. Wegen der allgemein zunehmenden Unverschämtheiten der Untertanen sind manchen Arbeitgebern Leute am liebsten, die noch richtig hungrig sind. Im Osten und Süden Europas gibt es solche Leute. Schließlich darf sich nichts daran ändern, daß man in manchen Branchen Hochschulabsolventen über Monate kostenlos oder für ein Trinkgeld als Praktikanten beschäftigen kann. Sobald dafür ein Mangel an willigen Leuten ruchbar wird, muß man etwas von Fachkräftemangel hinausposaunen und gleichzeit das hohe Gut der Freizügigkeit erwähnen.
Freizügigkeit kann mißbraucht werden, sei es, um billige Arbeitskräfte zu rekrutieren oder um an Sozialleistungen zu kommen. Freizügigkeit kann aber auch mißbraucht werden, um die in einem armen Land für viel Geld ausgebildeten Leute abzuwerben. Dann fehlen die Fachkräfte in ihrem Herkunftsland. Das ist weder für das betreffende Land noch für die EU insgesamt als positiv zu betrachten.
Das Schweizer Abstimmungsergebnis könnte den Anstoß liefern, nachzudenken und zu diskutieren, wie man einerseits Freizügigkeit sichert, aber ihre negativen Begleiterscheinungen in den Griff bekommt. In solcher konstruktiven, nach Lösungen suchenden Diskussion sollte man sich 2 Gruppen möglichst vom Hals halten, nämlich Leute, die die EU und alles, was damit zusammenhängt, abschaffen wollen sowie Leute, deren Blickfeld am Kassenrand und spätestens am nächsten Quartalsabschluß endet. Die Stimmen der genannten Gruppen wird man immer hören, sie haben aber wenig Positives zum dauerhaften Gemeinwohl beizutragen.
Natürlich kann man Interessenvertretern, die etwas von Fachkräftemangel erzählen, etwas entgegen setzen, z. B. belegbare Fakten. Wenn ich damit anfange, sprenge ich hier den Rahmen. Deshalb nur ein einziges Beispiel, weil ich es gerade erst dieser Tage gesehen habe: In einem Anstellungsvertrag (irgendein Formdingens mit vorgedruckten Paragraphen) findet sich der Passus, daß der Vertrag mit Vollendung des 65. Lebensjahres des Arbeitnehmer automatisch endet. Das Renteneintrittsalter 65 existiert gar nicht mehr, vielmehr befinden wir uns in der Phase der Anhebung auf 67 Jahre. Tatsächlich gehen aber schon viele Jahre vorher die Einstellungschancen in vielen Fällen gegen Null, obwohl die Leute kerngesund und fachlich auf aktuellem Stand sind und einen großen Erfahrungsschatz einbringen könnten. Auch bei jungen Leuten bleibt viel Potential ungenutzt. Ein nennenswerter Prozentsatz verläßt ohne Abschluß die Schule, andere hangeln sich nach einer Ausbildung von einem Praktikum ins nächste, um schließlich in der Zeitarbeit zu landen oder eine niedrig bezahlte, befristete Anstellung zu finden. Soll heißen: Wir haben keinen Fachkräftemangel. Wir gehen aber mit vorhandenen Ressourcen nicht sinnvoll um.
Wer Waren in Verkehr bringen will, braucht gemeinsame Regeln (kaufmännischer, rechtlicher und technischer Art, Normen, Schutzklassen, Schutzrechte, Qualität, Gewährleistung u. v. m.) in einem möglichst großen Markt. Wer die Umwelt intakt halten will, kann Grenzen ebenfalls nicht gebrauchen. Auch wer dauerhaften Frieden sichern will, ist auf gemeinsame Interessen mit den Nachbarn angewiesen. Wer reisen will, braucht alles, nur keine Grenzen. Kurz: Die 4 Freiheiten der EU (freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) nützen allen Bürgern der EU, aber Partikularinteressen dürfen nicht zu schädlichen Nebenwirkungen ausufern, die das Ganze gefährden.
Gruß
Wolfgang