Ein Toter, 219 Festnahmen und 516 Verletzte auf beiden Seiten - so lautet die offizielle Bilanz der Ausschreitungen in Genua. Auf die Sicherheitskräfte kommen ernste Ermittlungsverfahren zu - nicht nur wegen des toten Demonstranten. Beim Sturm auf ein Zentrum der Organisatoren ging die Polizei äußerst brutal vor.
Berlin/Genua - Auf einer Pressekonferenz zogen die italienischen Ermittlungsbehörden am Montag ihre Bilanz der letzten drei Tage. Demnach war ein Demonstrant getötet worden, 561 Demonstranten wurden verletzt und 219 zeitweise festgenommen. Militante Anarchisten verwüsteten laut den Angaben der Polizei in der norditalienischen Hafenstadt 41 Geschäfte, 83 Autos gingen in Flammen auf. Die Schäden werden auf mindestens 100 Millionen Mark geschätzt.
Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi stellte sich hinter seine Polizisten und gab den Demonstranten und deren Organisatoren die Schuld für die Eskalation der Gewalt. Sie hätten militanten Anarchisten Deckung geboten und diese dadurch letztendlich unterstützt. Der Polizei sei es bei den Unruhen praktisch nicht möglich gewesen, zwischen friedlichen Globalisierungsgegnern und Militanten zu unterscheiden.
Organisatoren wollen gegen Polizei klagen
Dagegen sprachen die Organisatoren von gezielten Übergriffen und Racheakten der italienischen Polizei gegen friedliche Demonstranten. Dazu zählen die Kritiker des Polizeieinsatzes insbesondere den Sturm von Sondereinheiten auf die Zentrale der Gipfel-Kritiker. Wegen dieses brutalen Einsatzes wollen die Veranstalter der Demonstrationen nun Ermittlungen erzwingen. „Auch wir verurteilen die Gewalt der Autonomen, doch das war kein Grund, uns dafür zu betrafen“, sagte ein Sprecher am Montag.
Am frühen Sonntagmorgen hatte die Polizei in einer „Blitzaktion“ zwei Häuser geräumt, in denen Aktivisten der Gruppe „Attac“ und des „Social Forum Genua“ untergebracht waren. Bei der Razzia in einem der beiden Gebäude, einer örtlichen Grundschule, am frühen Sonntagmorgen wurden 50 junge Leute verletzt und 93 zeitweise festgenommen, darunter 42 Deutsche. Die Aktion sei nötig gewesen, um weitere Krawalle zu verhindern, sagte ein Polizeisprecher.
Blut an den Wänden und auf dem Boden
Die Gipfel-Gegner sehen das anders. In Dutzenden von E-Mails, die auch bei SPIEGEL ONLINE eingingen, beschreiben Augenzeugen den Einsatz als äußerst brutal. Die Polizisten, so die Darstellung in der unabhängigen Internetnachrichtenagentur Indymedia, hätten die jungen Leute im Schlaf überrascht und sofort ohne Grund losgeprügelt. Die eingesetzten Beamten seien Mitglieder gefürchteter Sondereinheiten gewesen, die vermummt und mit Schlagknüppeln bewaffnet die Schule stürmten. Vorher habe ein gepanzertes Fahrzeug die Tür aufgebrochen, berichten verschiedene Augenzeugen.
Kaum einer der Aktivisten kam ohne Blessuren davon
Journalisten wurden nicht hineingelassen. Doch die am Ausgang aufgenommenen Fotografien sprechen eine deutliche Sprache: Kaum einer der Abgeführten kam ohne blutende Wunden aus dem Haus, viele mussten auf Tragen hinausgebracht werden. Bilder, die Indymedia aus dem Gebäude selbst publizierte, gehen darüber noch hinaus. Auf den Bildern sind große Blutlachen auf dem Boden und an Heizkörpern zu erkennen. Die Inneneinrichtung ist komplett zerstört. Augenzeugen berichten, Polizisten hätten die jungen Leute mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, bis die Opfer am Boden lagen und sich nicht mehr bewegten.
Niemand hatte etwas von Gewalt gesehen
Italienische Zeitungen berichten überwiegend kritisch über die Aktion. Von angeblichem „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ wollen weder die jungen Menschen in der Schule noch Anwohner, die die Szene beobachtet haben, etwas bemerkt haben, schrieb die angesehene „La Repubblica“. Auch Journalisten seien bei der Razzia misshandelt worden.
Auch eine deutsche Journalistin geriet dabei in die Fänge der Polizei. Die 33-jährige Kirsten Wagenschein war für die linke Berliner Tageszeitung „Junge Welt“ in Genua, um über die Proteste zu berichten. Doch auch eine offizielle Akkreditierung hinderte die Polizei offenbar nicht daran, die Journalistin festzunehmen. Ob sie verletzt wurde, ist nicht bekannt. „Wir wissen bisher gar nichts, doch das ist eine Fortsetzung der Sanktionen gegen linke Medien, die schon vorher stattfand“, sagte der stellvertretende Chefredakteur der „Jungen Welt“, Rüdiger Göbel, gegenüber SPIEGEL ONLINE. Bereits vorher seien Mitarbeiter seines Blattes unnötig behindert worden.
Gute Basis für Verschwörungstheorien
Als Beweis für die angebliche Gefahr präsentierte die Polizei am Montag Waffen, die in der Schule gefunden worden sein sollen
Der italienische Journalistenverband hat bereits gegen die Polizeiaktion Beschwerde eingelegt. Die Polizei dagegen präsentierte am Sonntagmorgen auf einer Pressekonferenz die Waffen, die in der Schule beschlagnahmt worden sein sollen: Zwei Molotow-Cocktails, zwei Maurerhämmer, 25 Messer (darunter etliche Küchenmesser), ein Stock, Taucherbrillen, Verbandszeug, Latex-Handschuhe, Fotoapparate und Damenbinden. Offenbar sollten diese Gegenstände Bände sprechen und die gewalttätige Aktion der Polizei rechtfertigen. Auf Fragen der Journalisten antworteten die Beamten jedenfalls nicht.
Unter den Globalisierungskritikern ist eine Begründung schnell gefunden. Viel ist im Internet von Rache die Rede, weil man es trotz des massiven Polizeiaufgebots geschafft habe, die Tagung der Staatschefs zu stören. Eine andere Vermutung lautet, die Polizei habe nach Fotos und Filmaufnahmen gesucht, die bei den Demonstrationen gemacht wurden.
Fragen an den Innenminister
Die Bilder sollen angeblich belegen, was immer wieder bei Gewalteskalationen von Demonstranten behauptet wird: Die Polizei habe mit dem so genannten „Schwarzen Block“ zusammengearbeitet. Die Sicherheitskräfte, so die Verschwörungstheorie, unterstütze den gewalttätigen Block, um hinterher eine Legitimation für ihr eigenes gewalttätiges Vorgehen zu haben. Für diese Kooperation habe man nun Beweise, kündigen die Protestler im Internet an. Diese seien jedoch an einem sicheren Ort und würden schon bald der Staatsanwaltschaft übergeben.
Bisher ist nicht klar, wo die Festgenommenen aus der Schule jetzt sind. Das Auswärtige Amt in Berlin hat zwar konsularische Hilfe angeboten, doch bisher weiß niemand, ob die im Internet als „Vermisst“ geführten Personen verletzt im Krankenhaus liegen oder in einem Polizeigefängnis sitzen. Im Bundesinnenministerium liegt bisher nur eine Liste mit Namen vor, die Vorwürfe sind auch hier nicht bekannt.
Doch das Schweigen der italienischen Polizei wird nicht lange halten. Die Oppositionsparteien Grüne und Rifondazione Comunista haben bereits den Rücktritt von Innenminister Claudio Scajola gefordert. Der muss am Montag dem Parlament wegen der Vorfälle Rede und Antwort stehen. Sein Regierungschef steht zwar hinter ihm, trotzdem wird er sich einiges einfallen lassen müssen, um die Gewalt in der Schule zu rechtfertigen.
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