Ich habe den Eindruck, dass sich unsere Auffassungen eigentlich nur marginal voneinander unterscheiden. Von daher bitte ich um Nachsicht, wenn ich auf einem bestimmten Punkt weiter herumreite. Zunächst Danke für Deine ausführliche Entgegnung - mir ist damit und insbesondere durch das längere Zitat (vermutlich) deutlicher und auch verständlicher geworden, worauf Du mit Deiner These (nochmals zur Erinnerung für evt. weitere hier noch Mitlesende):
hinaus willst.
Zusammenfassend: der europäische Kolonialismus hat da einen Metakolonialismus („doppelten Kolonialismus“) installiert - eine durchaus übliche und notwendige koloniale Herrschaftspraxis, bedingt durch zahlenmäßige Disparität von Kolonialherren und Beherrschten. Vor allem in Kontext des französischen und englischen Kolonialismus spricht man hier von der Rekrutierung einer ‚kolonialen Intelligenzija‘ und bezeichnend ist im Fall Ruanda, dass schon die Deutschen das Angebot schulischer Ausbildung auf die Tutsi beschränkt hatten; ein wichtiger Teil der wiederholt angesprochenen Privilegierung, die eindeutig rassistischen Kriterien folgte.
Insofern kann man den antikolonialen Kampf der benachteiligten Hutu, der sich zwangsläufig auch gegen die Tutsi als einheimische Sachwalter und ‚Agenten‘ der Kolonialherren, die sie an der Macht beteiligten und die ihre Interessen durch diesen Kampf bedroht sahen, durchaus auch als antirassistisch verstehen; als Gegenreaktion auf das durch den Kolonialismus installierte, dem phänotypischen Merkmal der Hautfarbe folgenden Machtgefälle weiß -> braun -> schwarz. Richtig ist sicher auch (ohne dass ich dies nun im Einzelnen recherchiert habe), dass Tutsi versuchten, ihre Machtposition - sei es nun als Klienten ihrer kolonialistischen Patrone oder als deren Erben - mit der rassistischen Ideologie zu verteidigen und zu bewahren. Das heisst, diese Gruppe übernahm spätestens während des Rückzugs der Mandatsmacht Belgien als ‚Erbe‘ ihrer früheren Kolonialherren im Kampf um die Nachfolge in der Macht deren gegen die Hutu gerichteten Rassismus.
So weit, so schlüssig im Sinn Deiner These. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sie der Komplexität der historischen Vorgänge schlicht nicht gerecht wird. Dass nicht nur Tutsi, sondern auch Hutu empfänglich für europäische Ideologien waren - zunächst für eine antikoloniale und antirassistische, in der Folge jedoch auch für Rassismus, der zu einem „Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen“ transformiert wurde. Wobei „mit umgekehrten Vorzeichen“ dafür steht, dass durch rassistische Ideologie ‚legitimierte‘ bzw. begründete Herrschafts- und Gewaltausübung eben nicht nur
stattfand, sondern (gerade im Fall Ruandas sogar in deutlich massiverem Ausmaß) in umgekehrter Richtung. Dies (nochmals) herauszustellen scheint mir angebracht, da Du in Deiner letzten Antwort zwar den Tutsi (mE durchaus zutreffend) eine ‚Infizierung‘ durch den Rassismus der Kolonialherren unterstellst, im Zusammenhang des von den Hutu betriebenen Genozids und der Hutu-Power-Ideologie eine solche Charakterisierung auffällig vermeidest. Da könnte man fast den Eindruck gewinnen, Hutu-Power sei tatsächlich eine antikoloniale Befreiungideologie (oder eine antirassistische Black-Power-Bewegung - wobei ich da Deine Klarstellung nicht überlesen habe) gewesen. Ich denke, schiefer kann man da gar nicht liegen. Zur Verdeutlichung ein längeres Zitat von [Leonhard Harding][1]. Auf Wiedergabe der (umfangreichen) Fußnoten habe ich dabei verzichtet, Hervorhebungen stammen von mir.
Im Zuge der Politisierung des öffentlichen Lebens in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre erlebte Rwanda den Aufstieg einer neuen Führungsschicht, der Hutu-Intelligenzia. Sie leitete eine Entlarvung der bestehenden Herrschaftsstrukturen als Feudalsystem, doppelten Kolonialismus und als das Monopol einer Rasse über die andere ein. Diese Begriffe waren dem europäischen Kontext entnommen und wurden bewusst auf die Verhältnisse in Rwanda angewandt, um die Auseinandersetzung zuzuspitzen. Die Folge war das Aufbrechen des Gewaltpotentials in den blutigen Auseinandersetzungen der Jahre 1959 bis 1961 und schließlich die Revolution und die Ausrufung der Republik im Jahre 1961. Das an der Basis des bisherigen Systems liegende Herrschaftswissen wurde nicht in Frage gestellt. Aber die neuen Machthaber griffen auf einen anderen Teil dieses „Wissens“ zurück: die Formulierung, die Tutsi seinen eine andere Rasse, sie seien eingewandert. Sie gehörten deshalb als Fremde nicht zum eigentlichen Staatsvolk Rwandas. General Habyarimana gab nach seinem Putsch im Jahre 1973 diese Politik langsam auf und strebte in einer „moral revolution“ eine Re-Integration der Tutsi an. Sie wurden nicht mehr als „race“, sondern als „ethnic group“, „as a Rwandan, and not an alien, minority“ bezeichnet.
Dies änderte sich erneut, in einer radikalen Kehrtwende, nach dem Einmarsch von Truppen der Rwandischen Patriotischen Front am 1. Oktober 1990. […] Die Invasion der RPF-Einheiten führte zu einer massiven Aufrüstung der Regierungstruppen und zu einer von der Regierung zur Hysterie aufgebauschten Angst vor der Rückkehr Zehntausender von Tutsi-Flüchtlingen, einer Umverteilung des knappen Landes und der Wiedereinführung der Tutsi-Herrschaft. Die Regierung schürte dieses Klima der Angst und kehrte zur früheren Politik des Ausschlusses der Tutsi zurück; sie bezeichnete sie erneut als fremde Rasse. Eine radikale Gruppe im Umkreis von Staatschef Habyarimana formierte sich zur „Hutu Power“, mit dem Programm: „the Hutu were not just the majority, they were the nation.“ Mit dieser Definition des Staatsvolkes war die Richtung im anstehenden Machtkampf gewiesen: es ging um eine neue Ordnung von Gesellschaft und Staat und um die existenzielle Frage der Zugehörigkeit oder des Ausschlusses. Das war der „Versuch einer spezifisch nationalen Lösung“, in der die Wortführer der Hutu „eine Bevölkerungsgruppe als nicht-integrierbar erklärten“ und ihre Ermordung im Sinne dieser nationalen Lösung betrieben. Diese Radikalisierung entsprach der Geschichtsdeutung der Kolonialzeit. Sie war aber nicht die einzige Option. […]
Unter den Bedingungen des Bürgerkrieges und der von der Regierung geschürten Angst vor den Invasoren und ihren potentiellen Verbündeten führte diese Radikalisierung de facto zu dem, was man „Kulturkampf“ nennen könnte, zum erneuten und konsequenten Ausschluss der Tutsi und aller Oppositionellen aus dem Staatsvolk. Dies war die letzte Konsequenz, die radikalisierte Gruppen aus dem von den Missionaren gezeichneten Bild der Tutsi als Einwanderern, aus dem Nordosten Afrikas zogen. Dahin sollten sie, wie Hetzkampagnen es ausdrückten, auf kürzestem Weg, das heißt auf dem Nil, zurückkehren.
So ist ein Geschichtsbild, das die Missionare aus ihrem Blickwinkel und in Abhängigkeit von den Herrschenden entworfen hatten, zum Herrschaftswissen und zum Ausgangspunkt von Herrschaftsstrukturen geworden, zunächst der Kolonialherren sowie der herrschenden Tutsi, sodann der radikalen Hutu-Power; es wurde von dieser zur Rechtfertigung ihres Völkermordes herangezogen.
Leonhard Harding, Mission, Geschichtsbewusstsein und Gewalt in Rwanda, S. 258ff
in:
Kolonialismus
Kolonialdiskurs und Genozid
Hrsgb. Mihran Dabag, Horst Gründer, Uwe-K. Ketelsen
Wilhelm Fink Verlag, München 2004
ISBN 3-7705-4070-0
Freundliche Grüße,
Ralf
[1]: https://de.wikipedia.org/wiki/Leonhard_Harding