Im russischen Internet:
Gestern, 16.9., wurde der Generalstaatsanwalt der Provinz Luhansk während einer Besprechung mit seinen Mitarbeitern durch eine Explosion getötet. Keine Info über weitere Opfer.
Offenbar war letzteres der Fall und die ukrainische Armee beginnt mit der nächsten Phase der Gegenoffensive:
Dass die russische Armee nicht in der Lage ist, ihre Stellungen entlang des Oskil zu halten, spricht Bände über den desolaten Zustand. Man weiß, dass viel Material bei der Flucht über den Oskil zurückgelassen wurde. Offensichtlich sind die restlichen Verbände nicht in der Lage, selbst die vorteilhaftesten Stellungen zu halten.
Nächstes Ziel der ukrainischen Offensive dürfte die Stadt Svatove (gelbe Markierung) sein:
Die Stadt wurde relativ am Anfang des Überfalls von russischen bzw. LPR Truppen erobert. Wie man sieht führt von hier die letzte große Straße nach Norden an die russische Grenze. Sollte es gelingen, diese Straße einzunehmen bzw. wenigstens in Reichweite der russischen Artillerie zu bringen, kann das Gebiet im Süden um die beiden Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk nicht mehr direkt aus Russland versorgt werden.
Gleichzeitig würde auch südlich vom Oskil ein Fluss erfolgreich überquert. Ukrainische Truppen haben mehrere Ortschaften nördlich des Siverski Donets erobert und stehen nun direkt vor Lyman:
Lyman wurde erst Ende Mai nach mehrtägigen Kämpfen von der russischen Armee erobert und bedroht seit dem die ukrainische Flanke im Oblast Donezk. Ein Verlust von Lyman würde die gesamte nördliche russische Flanke bedrohen und einen Vorstoß auf Svatove massiv erleichtern.
Eine erfolgreiche Eroberung von Svatove hätte auch eine politische Bedeutung, da sich die Stadt im Oblast Luhansk befindet, der nahezu vollständig von Russland besetzt wird. Gleichzeitig wäre damit der Oblast Charkiw vollständig befreit, was ebenfalls ein wichtiger Erfolg für die Ukraine wäre.
Putin ist so besorgt wegen eines Angriffs der NATO, dass er die Verteidigung der wichtigsten Stadt in Grenznähe massiv schwächt. Das zeigt einerseits, wie absurd dieses Narrativ ist und andererseits, wie prekär die Versorgungslage der russischen Armee ist.
Ich bin heute zufällig über einen Artikel aus 2019 gestolpert:
https://russialist.org/one-russian-in-four-lacks-an-indoor-toilet-one-of-many-signs-there-are-now-four-distinct-russias/
According to a new report by Russia’s state statistical agency, Rosstat, 35 million Russians live in houses or apartments without indoor toilets, 47 million do not have hot water, 29 million don’t have any running water inside their residences, and 22 million do not have central heating (ehorussia.com/new/node/17679).
In fact, only 62.7 percent of the Russian population has the usual accoutrements of modern existence – water in the house, plumbing, heating and gas or electric ranges, Rosstat says
- 35 Millionen Russen haben keine indoor Toilette
- 47 Millionen haben kein heißes Wasser
- 29 Millionen haben kein laufenden Wasser
- 22 Millionen haben keine Zentralheizung
- Nur 62,7% verfügen über moderne Standards wie Wasser im Haus, Wasserinstallationen, Heizung, Gas oder Stromanschlüsse.
Anstatt das Leben seiner Landsleute zu verbessern, bunkerte Putin hunderte Mrd. und subventionierte eine völlig nutzlose Armee. Niemand hasst die russische Bevölkerung mehr als Putin…
Was natürlich vor allem die Landbevölkerung und darunter wiederum vor allem die Bevölkerung jenseits des Urals betrifft. Viele indigene Völker, die in der Zaren- und auch in der Sowjetzeit in damals karge Regionen umgesiedelt (teilweise wiederholt) wurden, deren Sprache und Kultur unterdrückt und ausgelöscht wurde. Deren Kinder in fernen Internaten russifiziert und von den Eltern und deren Lebensweise entfremdet wurden. Keine Perspektiven, Armut, Gewalt, Alkohol usw.
Hier schreibt eine Russin, die auf Sachalin aufgewachsen ist:
Wieso sind russische Soldaten so brutal? | Karenina
Das erklärt, warum so viele Soldaten dort ausgehoben werden konnten und es erklärt auch, warum sich diese so gebärden, wie sie es in der Ukraine tun.
Hm. Also ich als Angehöriger einer solchen Minderheit, mit vielen Verwandten in Jakutsk und umliegenden Städten, bin nicht ganz sicher, ob die Erfahrungen von Irina sich in dieser Form ohne Weiteres auf alle russischen Regionen und alle Minderheiten übertragen lassen. Mein Eindruck ist ein gänzlich anderer - wobei ich zugeben muss, dass ich Sibirien seit 20 Jahren nicht mehr besucht habe, nur was mir meine Verwandten auf fb&Co an Bildern schicken erweckt nicht den Eindruck fürchterlichster Trostlosigkeit oder eines Lebens in der Hölle.
Die Autorin schreibt ja aus ihrer Kindheit. Ich denke vor 20 Jahren waren die Verhältnisse durchaus trostlos. Aber es ist natürlich auch ein fokussierter Blick auf eine bestimmte, kleine Region.
Wenn wir in ähnlicher Weise in Deutschland auf entsprechende soziale Problemgebiete blicken würden, käme uns das auch völlig fremd vor.
Aussagekräftiger finde ich die statistischen Werte über Toiletten, Wasserversorgung, Heizung usw.
Das war - glaube ich - auch nicht der Ansatz der Autorin. Sie schildert die Erlebnisse aus ihrer Heimat und die ist ja weit entfernt von Irkutsk. Ich für meinen Teil hörte neulich einen Vortrag über die indigenen Völker insbesondere im Norden Sibiriens und das deckte sich schon sehr mit dem, was die Dame da berichtet hat.
Morgen hält Putin eine Rede an die Nation.
Im russischen Internet sind sie sich sicher, dass er die Mobilisierung verkündet und außerdem die Durchführung der Referenden in den vier Provinzen von Luhansk bis Cherson.
Er will jetzt mit aller Gewalt die Illusion herbeiführen, dass Russland im Süden und Osten der Ukraine auf russischem Boden kämpft.
Völkerrechtlich ist das alles nicht von Bedeutung. Mich wundert nur, dass Russland sich vor der Welt so lächerlich machen will. Man kann es eigentlich nur mit dem befürchteten innenpolitischen Druck aufgrund der Mobilisierung erklären.
Laut russischer Regierung siegt Russland allenthalben. Merkwürdig ist nur, dass Strafen für Desertion verschärft wurden.
Ich hörte, dass man munkelt, dass ab Mitternacht Männern zwischen 18 und 65 die Ausreise untersagt wird. Das passt dann zu einer Generalmobilmachung.
Natürlich nicht. Das kleine Problem, was daraus erwächst, ist, dass sich Russland vorbehält, Kernwaffen zur Verteidigung des eigenen Territoriums einzusetzen.
Ich vermute er will dieser Drohung mehr Gewicht verleihen, aber ich gehe nicht davon aus, dass er das tatsächlich umsetzt.
Die wichtigsten Punkte:
- Die ursprünglichen Ziele (Eroberung des Donbas) bleiben bestehen
- Russland unterstützt wenig überraschend die Pseudoreferenda
- Es wird eine teilweise Mobilisierung geben, die aber nur Personal der Armeereserve betrifft
- Putin erinnert die Welt mal wieder, dass Russland Atombomben hat
Im Grunde viel Lärm um nichts.
Wir werden auch in den kommenden Wochen in Russland von der unheimlichen Reservistenepidemie hören, welche nur Reservisten befällt und dauerhaft kampfunfähig macht.
Einige Bekannte im weiteren Umfeld fühlen sich schon sehr unwohl.
Ich kann mir gut vorstellen, dass das russische Gesundheitswesen im Zusammenhang mit der Ausfertigung von Gutachten und Attesten für monetäre Anreize durchaus empfänglich ist.
Schöner Thread zum Thema Mobilisierung und deren Erfolgsaussichten und möglichen Ausgang:
Kamil Galeev auf Twitter: „Regarding mobilisation, Putin can declare it, indeed. But it will be a risky decision. The USSR maintained a massive infrastructure for the total mobilisation which has been mostly dismantled in post-Soviet Russia. Mobilisation is more likely to trigger political chaos short🧵“ / Twitter
Oh ja den Ärzten und Pflegern wird es jetzt bald noch besser gehen.
Aber mal im Ernst: ich glaube, dass Putin sich mit dieser Teilmobilisierung selber ins Knie geschossen hat. Wer wird eingezogen, was sind das für Menschen? Zur Reserve werden vor allen Dingen immer Leute geholt, die sogenannte „Kampferfahrung“ haben.
Außerdem eine gute Ausbildung und vermutlich auch einen guten Beruf. Alles in allem werden also in der Reserve vor allen Dingen Offiziere vorhanden sein.
Was braucht Putin in der Ukraine? Ich meine: Kanonenfutter, das direkt an vorderster Front verheizt wird. Werden die Reservisten sich so verwenden lassen? Ich bin mir sicher: nein!
Was braucht Putin in der Ukraine mit Sicherheit nicht? Da meine ich: unfähige Offiziere, wie sie schon zur Erzeugung des bisherigen Desasters zugange waren.
Um die „Kampferfahrung“ der Reservisten bewerten zu können, sollte man sich die damaligen Gegner ansehen. Osetzien, Georgien, Tschetschenien, Syrien. Welcher Gegner hatte die Ausbildung, die Kampferfahrung und die Moral der ukrainischen Armee zu Beginn 2022?
Keine, von der Materialausstattung, schweren Waffen und dergleichen gar nicht zu reden.
Es ist eine Sache, sich hinter den sicheren Linien zu befinden und mit schwerer Artillerie die Städte und Stellungen der Gegner, die nicht mit gleicher Münze zurückzahlen können, zu zerstören
Oder
Einem Gegner gegenüber zu stehen, der zurückschießen kann, wenn auch bisher nicht so stark wie sie selbst, dessen Kampfmoral der Russischen Armee vielfach überlegen ist und der außerdem auch noch ausgesprochen geschickt geführt wird.
Wenn arme Schlucker aus Burjatien oder Dagestan in der Ukraine verbluten, interessiert das in Russland nur sehr wenige Menschen.
Wenn die gut situierten Reservisten abgeschlachtet werden, werden die Menschen aktiv, die ihn nahestehen: in aller Regel gut ausgebildet, mit guten Kommunikationsmittel, eventuell auch guten Verbindungen. Genau das wollte Putin ja eigentlich mit der Vermeidung der Mobilisierung erreichen: den Krieg nicht in die „wohlhabenden Gesellschaftsschichten“ tragen.
Er erreicht mit seinen Vorhaben ständig zielsicher genau das Gegenteil von dem, was er erreichen will.
Schon gestern Abend, als diese Pläne nur Gerüchte waren, kursierten im Internet Russlands schon die Aufrufe, dass die Kinder der „Elite“ diesem Ruf zu den Waffen zuallererst folgen müssten.
Die Anhänger Putins werden jetzt auch an der Front Farbe bekennen müssen.
Was anderes geben die Strukturen auch nicht her (s. a. verlinkten Twitter-Thread). Die Offiziere, die ausbilden könnten (wenngleich nicht auf einmal 300.000 Leute) sind im Einsatz, es fehlt an Logistik, an Gerät, was die Leute bedienen (lernen) könnten, an Unterkünften und im Zweifel auch an Leuten, die das ganze wenigstens halbwegs koordinieren könnten.
Stattdessen hat man dann 300.000 Leute mit Schusswaffen und leichter Ausrüstung, die unmotiviert und schlecht ausgebildet in der Gegend herumstapfen und - genau wie Du richtig schreibst - nicht hinter einer Artillerie, die vorne alles kaputtschießt, sondern zu Fuß durch ein Gelände, das sich eine hochmotivierte ukrainische Armee zurückholen möchte, während sie von hinten mit westlichen Raketenwerfern und Artillerie den Nachschub, die Leitstände und die Reste des schweren Geräts zerschießt.
Ich weiß nicht, wie das alles ausgeht, aber ein russischer Mann unter 50 wäre ich jetzt ungern.
Jetzt verstehe ich, was Teilmobilisierung heißt
https://twitter.com/ukraine_map/status/1572587427231072257?t=qle6Khm6ol8INSN_-2gHfQ&s=09