Salve.
Entweder können die Kinder die Sache - dann brauchen sie keine
Hausaufgaben - oder sie können sie nicht.
Absoluter Schwachsinn in Reinstkultur.
Hausaufgaben dienen der Wiederholung und Festigung und können auch von leistungsstarken Schülern nicht einfach ignoriert werden. Das hängt mit dem sogenannten Matthäuseffekt zusammen, ein Phänomen, was u.a. die relative Leistungsschwäche des dreigliedrigen Schulsystems erklärt.
Worum geht es? Der Lernfortschritt ist umso größer, desto mehr sichere Vorkenntnisse ein Schüler hat. Umgekehrt gilt: Fehlen die Vorkenntnisse, versackt ein Schüler sehr schnell, wenn immer komplizierter werdende Themen auf die Grundkenntnisse aufsetzen. Hausaufgaben sind ein wichtiges Instrument, eine Form des „Selbststudiums“ bei Schülern auszuprägen und mittels Wiederholung den Unterrichtsstoff zu festigen.
Der Volksmund sagt lakonisch: „Übung macht den Meister.“ Lenin sagt: „Lernen! Lernen! Lernen!“ und bei uns hieß es frei nach Lenin „Üben! Üben! Üben!“, insbesondere in sehr anspruchsvollen Fächern wie Mathematik.
Es ist doch der Fehler der Lehrer und des Schulsystems, wenn die Hausaufgaben als verlängerte Tafel benutzt werden, um den Schülern noch mehr Lehrstoff vor den Latz zu knallen. Das kann man an der Universität machen und vereinzelt in der Abiturstufe, aber nicht in typischen zehnklassigen schulischen Bildungsgängen.
Hinzu kommt, dass die wenigsten Lehrer die Hausaufgaben auch
kontrollieren, weil dafür schlicht die Zeit fehlt.
Der Verweis auf die Unterrichtszeit kann nicht gelten, denn als ich in die Schule ging, haben die Lehrer immer und ausnahmslos die Hausaufgaben kontrolliert. Als Sichtkontrolle, als schriftliche Leistungskontrolle nach dem Einsammeln des Hefts auf Zensur, als mündliche Leistungskontrolle von Schülern an der Tafel auf Zensur.
In der Unterstufe der Einheitsschule (1.-4. Klasse) wurden die Hausaufgaben im Hort gemacht, unter Aufsicht von Erziehern (die eigentlich verkappte studierte Lehrer waren), und die streng auf preußische Tugenden bei der Anfertigung achteten. Das Ministerium für Volksbildung veröffentlichte in den 50ern eine Richtlinie, die über Jahrzehnte fast unverändert blieb, und die beinhaltete, wieviel Stunden pro Woche nach der eigentlichen Unterrichtszeit für Hausaufgaben aufgewendet werden sollten / durften. Die Lehrer einer Klasse mußten sich koordinieren und darauf achten, keinen Schüler zu überlasten.
Das staatlich vorgegebene Hausaufgabenvolumen war außerdem ein zentraler Bestandteil der Förderung von schwachen Schülern. Lehrer mußten damals desöfteren individuelle Lern- und Selbststudienpläne für Schüler aufstellen, wenn deren Versetzung gefährdet erschien, die Leistungen dauerhaft schlecht blieben, Prüfungen nicht bestanden und wiederholt wurden. Statt der üblichen, von den Fachlehrern gesteuerten Hausaufgaben bekamen die schwachen Schüler vom Klassenleiter (der alle Fachlehrer einer Klasse koordinierte und weisungsbefugt war) eine Spezialmischung, die - oh Wunder - den Matthäuseffekt beachtete und die schwachen Schüler vor allem auf die Wiederholung von Grundkenntnissen fokussierte.
Tagesschule („Ganztagsschule“) heißt darüber hinaus nicht automatisch, daß Hausaufgaben et cetera inbegriffen sind. Die DDR z.B. leistete sich eine offene Tagesschule; vormittags Unterricht und nachmittags „außerunterrichtliche Tätigkeit“, wie das genannt wurde. Keine Pflichtteilnahme, keine Zwänge, sehr beliebt.
Die Schulversuche in den 60ern und 70ern mit geschlossenen Tagesschulen schienen vielversprechend zu sein, doch der Quotient Leistungsniveau („Output“)/Kosten entpuppte sich als zu schlecht, um die Restrukturierung des gesamten Schulsystems zu rechtfertigen. Die DDR-Bürger hätten einen solchen Durchgriff der SED auch nie mitgemacht. Der Konsens zwischen Bürgern und Bildungsapparat erstreckte sich auf das Bildungsniveau und die preußischen Werte, die die DDR-Schule vermittelte, nicht auf ständige Zwangsteilnahme beschlossen von der Partei. Ich hätte es als Familienvater nie akzeptiert, wenn meine Kinder hätten den ganzen Tag zur Schule gehen müssen. Die gingen dahin, weil sie wollten und weil die Nachmittagsbetreuung überragend war, nicht weil das vom Zentalkomittee mir nichts dir nichts so entschieden wurde.
Es ist dahingehend irreführend, das Wort Tagesschule immer in der Bedeutung der geschlossenen Tagesschule zu benutzen, in der der Unterricht nachmittags stattfindet.
Wir brauchten damals nie Nachmittagsunterricht, obschon wir deutlich mehr Wochenstunden hatten. Schule muß einfach nur sinnvoll organisiert werden, so daß der Nachmittag für Sachen bleibt, die nichts primär mit dem Vormittagsunterricht zu tun haben. Lernen findet nicht nur im 45-Minuten-Takt mit dem Blick nach vorne auf die Tafel statt. Schüler und Lehrer brauchen Freiräume und Abwechslung, und die Möglichkeit alternative Lernformen zu gestalten (Interessenszirkel, Arbeitsgemeinschaften, Kindersport). Die DDR benutzte die Nachmittagsbetreuung z.B. auch für die systematische Förderung von Mädchen in Mathe, Naturwissenschaften und Technik beginnend ab dem Kindesalter. Oder auch für die Talentsichtung und -förderung von begabten Schülern, die später vielleicht Kandidaten für Spezialschulen sein konnten.
In einer geschlossenen Tagesschule sind solche für eine moderne Wissensgesellschaft dringend benötigten sozialpolitischen Aufgaben nicht umsetzbar.
Wie sähe denn der Nachmittagsunterricht an einem typischen bayrischen Provinzgymnasium aus, hmm? 08/15-Unterricht im altbekannten Stiefel des dreigliedrigen Schulsystems: „Wenn Du nicht mitkommst, dann hast Du hier nichts zu suchen. Ab auf die Hauptschule!“ und „Für das und das und das haben wir keine Zeit. Das kann ich nur kurz erwähnen. Den Rest müßt ihr zuhause nachholen!“.
Tschüß
reinerlein