Hallo,
ich verstehe dein Unbehagen und habe mir ähnliche Fragen gestellt. Wenn man sich übrigens amerikanische social media sites ansieht, ist die öffentliche Meinung nicht so krass auf Seiten der Sentinelesen. Allerdings ist es weniger eine Ablehnung von deren isolierten Lebensweise, eher ihrer Aktionen, aber hauptsächlich aus einer Sympathie für die Missionierung heraus. Und auf dieser Seite sehen sich wenige denkende Menschen gern, in Deutschland sieht man selbst bei den meisten praktizierenden Katholiken und Protestanten die Aktionen dieses selbsternannten Missionars kritischer. Zum Teil liegt das sicher daran, weil die Missionierungsgeschichte der großen Kirchen heute bei uns kritischer gesehen wird als vor 200 Jahren und bei an sich missionarisch denkenden Sekten.
Was die Schutzzone und Kein-Kontaktregel betrifft, so liegt für mich der Vergleich an Naturreservate nahe. Die Gorillas in Zentralafrika wären sicher für eine solche Schutzzone dankbar (wenn sie es verstehen würden). Was natürlich weitere ethische Fragen aufwirft.
Wir schützen das, was für schützenswert halten. Aber auch das, von dem wir denken, dass es sich nicht allein schützen kann. Die Handlungsweise der indischen Regierung und die Akzeptanz des Verbots bei vielen Menschen ist eine Art von Bevormundung bzw. ein Befürworten dieser Bevormundung, eine Bevormundung. Dieser Schutz hat einen Beigeschmack von Rassismus. Vom Englischen kenne ich den Begriff des „benevolent racism“ - ich weiß nicht, ob es dafür eine akzeptierte Übersetzung gibt, ungefähr „wohlmeinender Rassismus“ (= die Tendenz, Angehörige anderer Volksgruppen wohlwollend zu betrachten, aber sie für minderwertig zu erachten, vergleichbar mit Kindern).
Natürlich wissen wir heute, dass ein Kontakt mit unserer Zivilisation - egal wie behutsam - die Sentinelesen in relativ kurzer Zeit ausrotten würde - durch Krankheiten, aber mittelfristig auch kulturell (man vergleiche das mit relativ isoliert lebenden Volksgruppen in anderen Erdteilen). Die Sentinelesen können das nur instinktiv beurteilen, wir haben das Wissen der Geschichte hinter uns. Das ist allen Inselvölkern passiert (oder passiert gerade und wir wissen nicht, wie wir das verhindern können - außer durch Kontaktsperren, wobei wir - wie du richtig bemerkst - ganz andere Kriterien anlegen, als staatsintern) und den Völkern, die sich schon geographisch nicht so abschotten konnten, sowieso.
Es bleibt ein Dilemma, weil wir einerseits unsere Lebensweise in vielen Aspekten für richtiger halten (z.B. halte ich die Menschenrechte für nicht verzichtbar, allerdings gibt es ja durchaus Diskussionen, ob das Durchesetzen des westlichen Verständnisses von Menschenrechten nicht bereits ein Kulturimperialismus ist), wir aber hier eine Volksgruppe schützen, die offensichtlich diese Lebensweise ablehnt - ohne sie zu kennen. Würden sie sie aber kennen, könnten sie ihren Einfluss nicht mehr absolut verhindern.
Ich hoffe, das war nicht zu durcheinander. Auch ich finde, der junge Missionar hätte nicht dorthin gehen sollen. Er tut mir leid, weil er meiner Meinung nach verblendet war. Die Handlung der Sentinelesen halte ich für barbarisch und inakzeptabel, aber die Bestrafung dieser Handlung wäre unverhältnismäßig, weil sie das ganze Volk in Gefahr bestrafen würde. Sippenhaft lehnt unser Verständnis der Menschenrechte ebenfalls ab.
Grüße
Siboniwe