Sexuelle Deviationen

Liebe Experten,

ich poste diesen Artikel bewusst nicht unter „Lust&Liebe“, obwohl es sich auf den ersten Blick um ein sexuelles Problem handelt.

Erstens glaube ich, dass mein Problem in erster Linie ein psychisches ist, zweitens denke ich, dass mir in diesem Brett besser geholfen werden kann.

Es geht um sexuelle Deviationen, die sich auf die menschlichen Ausscheidungen, insbesondere Kot und Urin, beziehen.

Nun zu meine Fragen:
Gibt es Erkenntnisse über die Ursachen einer solchen Deviation (ich habe mal etwas von einer analen Phase in der Entwicklung gehört, in der man stehen bleibt, wenn mit der sexuellen Entwicklung etwas nicht stimmt. Hat das etwas damit zu tun?)

Gibt es Möglichkeiten, eine solche Deviation erfolgreich zu behandeln? Wenn ja, welche? Gibt es auch welche, die ohne einen Arzt zu konsultieren auskommen?

Gibt es einen Grund dafür, dass diese Art der Deviation hauptsächlich auf Männer beschränkt ist? Diese Erkenntnis habe ich zumindest bei einschlägigen Recherchen im Internet gewonnen.

Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mir als Betroffenem zu diesem Thema Ratschläge geben könntet. Mir ist bewusst, dass es sich bei solchen Phantasien um eine Krankheit handelt und ich bin ernsthaft daran interessiert, diese Phantasien loszuwerden.

Mit bestem Dank,

Martin

Koprophilie und andere Paraphilien
Hallo Martin,

ich gehe mal davon aus, daß Dein Problem „echt“ ist und nicht nur ein Versuchsballon.

ich poste diesen Artikel bewusst nicht unter „Lust&Liebe“,
obwohl essich auf den ersten Blick um ein sexuelles Problem
handelt.

Weil Du von Koprophilie schreibst, ist der Verdacht, daß es sich um ein sexuelles Problem handelt genauso richtig wie der Verdacht auf ein psychisches. Wie Du sicherlich gelesen hast, zählt Koprophilie zu den so genannten Paraphilien, die zu den Sexualstörungen gemäß DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) gehören.

Erstens glaube ich, dass mein Problem in erster Linie ein
psychisches ist, zweitens denke ich, dass mir in diesem Brett
besser geholfen werden kann.

Wenn Du mit „in erster Linie psychisch“ meinst, daß kein identifizierter organischer Defekt für die Symptome verantwortlich gemacht werden kann, dann trifft es sicherlich zu.

Gibt es Erkenntnisse über die Ursachen einer solchen Deviation
(ich habe mal etwas von einer analen Phase in der Entwicklung
gehört, in der man stehen bleibt, wenn mit der sexuellen
Entwicklung etwas nicht stimmt. Hat das etwas damit zu tun?)

Wahrscheinlich nur wenige. Das besagte DSM-IV, in dem 395 Störungen mit über 1000 Kriterien für deren Diagnose, Statistiken zu Häufigkeiten, Erblichkeit usw. befinden, erwähnt nur die Existenz der Störung „Koprophilie“ unter Nicht Näher Bezeichnete Paraphilie.

Ursachen für die Störung sind nicht bekannt. Das trifft auf alle Paraphilien zu. Es gibt nur Vermutungen. Aus der Psychoanalyse stammen viele Vermutungen zu vielen Störungen. Wissenschaftlich (im Sinne der akademischen Psychologie) nachgewiesen ist von dem Gedankengebäude der Psychoanalyse so gut wie nichts. Die wenigen wissenschaftlich anmutenden Untersuchungen sind methodisch ziemlich unbefriedigend. Also gibt es zum Thema „Ursachen“ kaum etwas Gültiges zu sagen. Sicherlich - die Psychoanalyse kennt die anale Phase und behauptet, daß einige Störungen auf eine so genannte Regression auf diese Phase zurückzuführen sind (z.B. die Zwangsstörung als prominentes Beispiel), aber nachgewiesen ist es nicht. Außerdem ist der psychoanalytische Behandlungsstil alles andere als erfolgreich, was z.B. die Zwangsstörung angeht.

Gibt es Möglichkeiten, eine solche Deviation erfolgreich zu
behandeln? Wenn ja, welche? Gibt es auch welche, die ohne
einen Arzt zu konsultieren auskommen?

Der verhaltenstherapeutische Ansatz ist bei Sexualstörungen einigermaßen erfolgreich (bei einigen Problem recht gut, bei anderen weniger). Es gibt verschiedene Methoden bei der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Paraphilien:

  1. Aversionstherapie: Einige Fetischisten erhielten im Rahmen einer Studie Elektroschocks, wenn sie sich ihre Wunschobjekte vorstellten. Nach 2 Wochen Behandlung war ihren Symptome etwas gebessert.

  2. Verdeckte Sensibilisierung: Dabei sollen sich die Behandelten ihre lustbetonten Objekte zusammen mit einem unangenehmen Objekt vorstellen, bis sie das Objekt des einstigen erotischen Verlangens nicht mehr begehren.

  3. Masturbatorische Sättigung: Der Behandelte soll bis zum Orgasmus masturbieren, während er laut über ein konventionelles sexuelles Objekt phantasiert. Im Anschluß soll er über das Objekt der Paraphilie phantasieren, während er bis zum Organismus masturbiert. Die paraphile Phantasie soll über eine Stunde lang fortgesetzt werden. Mit dem Verfahren soll ein Überdruß erzeugt werden, der mit dem Objekt der Paraphilie verknüpft ist.

  4. Orgasmische Neuorientierung: Der Patient betrachtet Bilder oder stellt sich sein begehrtes Objekt vor, um eine Erektion zu bekommen, dann masturbiert er allerdings auf konventionelle Objekte bis zum Orgasmus. Wenn die Erektion zurückgeht, dann soll er sich wieder die Bilder oder Vorstellungen des begehrten Objekts herbeiholen, bis die Erektion wieder eintritt und dann wieder auf die konventionellen Objekte masturbieren. Kurz vor und während des Orgasmus soll er sich sehr stark auf das konventionelle Objekt konzentrieren. Das Training dauert mehrere Wochen und kann durch verdeckte Sensibilisierung ergänzt werden.

Diese Therapieformen sind v.a. bei Fetischisten, Pädophilen und Exhibitionisten eingesetzt worden, können meines Wissens aber auch bei anderen Paraphilien eingesetzt werden.

Gibt es einen Grund dafür, dass diese Art der Deviation
hauptsächlich auf Männer beschränkt ist? Diese Erkenntnis habe
ich zumindest bei einschlägigen Recherchen im Internet
gewonnen.

Dazu ist mir auch nur bekannt, daß es sich bei den bekannt gewordenen und als Paraphilien eingestuften Fällen zum weitaus überwiegenden Teil um Männer handelt. Warum es so ist, ist mir unbekannt.

Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mir als Betroffenem zu
diesem Thema Ratschläge geben könntet. Mir ist bewusst, dass
es sich bei solchen Phantasien um eine Krankheit handelt und
ich bin ernsthaft daran interessiert, diese Phantasien
loszuwerden.

Die Frage der Behandlung hängt auch damit zusammen, wie stark die Paraphilie ist, ob sie das Sexualverhalten stark oder ausschließlich dominiert oder ob der Betroffene auch noch konventionelles Sexualverhalten zeigt. Wenn die Paraphilie stark dominiert, dann ist sie sicherlich behandlungswürdig. Die Frage richtet sich übrigens auch auf das Leiden. Wenn jemand darunter leidet, dann ist auch Behandlungswürdigkeit gegeben. Bei Pädophilie und sexueller Sadismus kommen natürlich noch weitere Aspekte hinzu.

Auf jeden Fall würde ich Dir empfehlen, falls Du darunter leidest und die Paraphilie einen wesentlicher Bestandteil Deines Sexualverhaltens darstellt, einen Fachmann aufzusuchen und eine Sexualtherapie zu machen.

Ich hoffe, daß Du Dein Leiden verringern kannst.

Oliver

Hallo Martin,

ich möchte Oliver eigentlich nichts hinzufügen außer den folgenden Link

http://www.volker-faust.de/psychiatrie/texte/sexuell… ,

der für dich ganz interessant sein könnte.

Das Wichtigste scheint mir der letzte Satz dieser Seite zu sagen, nämlich dass du dich an einen Fachmann wendest, wie ja auch schon Oliver geraten hat. Versuchte Eigentherapien hingegen schaden in der Regel mehr als sie nutzen.

Herzliche Grüße und viel Erfolg

Thomas Miller

hi martin,

leider schreibst du nicht, warum du diese spielarten der sexualität als problem und störung ansiehst.
zumindest ns ist nicht auf männer beschränkt, links dazu bekommst du natürlich nicht. ich kenne eine interessengemeinschaft in der genug frauen mitmachen.
es handelt sich hier mitnichten um eine sexuelle störung, sondern um eine variante der menschlichen sexualität.solange mindestens 2 menschen den freien willen dazu haben, also niemand zu etwas gezwungen wird, ist das verlangen danach völlig ok.
vielleicht solltest du deine einstellung zur sexualität überprüfen.

cu

strubbel

Lieber Strubbel!

Gerne will ich auf deine Frage eingehen, warum diese „Spielart der Sexualität“, wie du es nennst, für mich ein Problem darstellt.

Zum einen werden diese Gedanken und Phantasien immer stärker, so dass sie es mir schon bald unmöglich machen, meinem Beruf nachzugehen.

Zum anderen empfinde ich, wenn ich über diese ganzen Dinge genauer nachdenke, richtigen Ekel. Einerseits ist doch unzweifelhaft, dass die Einbeziehung von Kot und Urin in die Sexualität zu ernsthaften gesundheitlichen Schäden führen kann. Andererseits muss es bei solchen „Spielarten“ in einer Beziehung doch zwangsläufig zu einem Respektsverlust vor dem Partner kommen. Vor jemandem, den ich angepinkelt oder angeschissen (man verzeihe mir bitte an dieser Stelle die vulgäre Ausdrucksweise) habe, kann ich keinen Respekt mehr haben. Ebenso wird es meinem Partner mit mir gehen.

Dadurch bringen mich also meine Gelüste und Phantasien und die rationale Beschäftigung damit in einen schweren Konflikt. Das ist das Problem, das ich dahinter sehe. Einschlägige Recherchen im Internet, wie auch deine beiden Vorredner, bestätigten mich in der Annahme, dass es sich dabei um eine Krankheit handelt. Eine Krankheit aber, die leider noch wenig erforscht zu sein scheint.

Ohne dir oder jemand anderem zu nahe treten zu wollen, behaupte ich jetzt einfach mal, dass die Menschen, die an diesen „Spielarten“ Gefallen finden, einfach nicht genug darüber nachdenken, was sie sich und anderen damit antun können. Da ich mich aber nun einmal fast ausschließlich in Kreisen bewege, wo viel, manchmal zuviel, nachgedacht wird, werde ich es wohl schwer haben, solche Menschen zu treffen, was ich aus oben dargelegten Gründen auch gar nicht will.

Ich hoffe dir mit diesen Zeilen dargelegt zu haben, dass ich mein Verhältnis zur Sexualität durchaus überprüft habe.

Viele Grüße,
Martin

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Hallo Oliver,

ich danke dir für deinen aufschlussreichen Artikel, durch den ich einige Erkenntnisse gewinnen konnte, die mir bei meinen bisherigen Recherchen noch verborgen geblieben sind.

Nun ist es womöglich weder ratsam noch ungefährlich, eine Selbsttherapie zu versuchen. Allerdings halten mich auch nach wie vor zwei Dinge vor dem Aufsuchen eines Fachmannes ab: Erstens die Scham, über solche Dinge offen zu reden, zweitens, dass es dafür kaum Fachleute gibt, wie ich im Internet in Erfahrung bringen konnte.

Über kurz oder lang werde ich aber wohl um eine Therapie nicht herumkommen.

Noch einmal vielen Dank für deine Antwort!

Martin

‚not straight‘ ist nicht immer ‚Deviation‘
Hi Martin

es ist zwar richtig, daß die von dir erwähnten Angelegenheiten auch unter sog. sexuellen Deviationen bzw. Sexualstörungen im DSM und ICD zu klassifizieren versucht wurden. Es ist aber absolut zu kurz gegriffen, hier zugleich auch von „Krankheit“ zu sprechen: Es ist durchaus unklar und weitgehend umstritten, unter welchen Bedingungen als Störungen bezeichnete psychische Erscheinungen als „Krankheit“ zu bewerten sind.

Hauptkriterium dafür ist zu allererst nicht die Beschreibung und die daraus sich ergebende Einordnung in ein Klassifizierungssystem (die Diagnose), sondern die Frage, ob eine Person selbst unter einer Erscheinung leidet, oder ob sie mit bestimmten Eigenschaften ihre Fähigkeit zur sozialen Interaktion destruiert.

Deine Andeutungen der Erscheinung, nämlich als Form von Phantasien, die z.B. auch dein Berufsleben überfluten , würden dieses Kriterium schon erfüllen. Und daß du darunter leidest, sagst du ja selbst. Dieses Kriterium (daß du dich gestört fühlst und die Phantasien unkontrollierbar sind) wäre aber auch schon erfüllt, wenn der Inhalt deiner Phantasien „harmloser“ wäre, z.B. darin bestünde, daß du in den Bergen des Himalaya herumkrakselst. Soll heißen: Diese speziellen Inhalte deiner Phantasien selbst sind so unmittelbar überhaupt nicht psychodiagnostisch relevant, sondern zunächst nur ihr Überflutungscharakter.

Dazu kommt das, was strubbel dir schon schrieb: Ich weiß nicht, wo du deine „Recherchen“ durchgeführt hast, aber zumindest im Bereich des BDSM/Fetisch mit seinem überaus weitgefächerten Spektrum an Neigungen und Praktiken ist der Umgang mit Kot (weniger häufig, im BDSM/Fetisch euphemistisch als „KV“ bezeichnet) und mit Urin (häufiger, im BDSM/Fetisch euphemistisch als „NS“ bezeichnet) durchaus nicht ungewöhnlich. Wenn es auch dort häufig explizit persönlich abgelehnt wird, so wird es aber zumindest als spezifische Neigung anderer respektiert.

Da alle Praktiken in diesen Bereichen die Voraussetzung wechselseitiger Zustimmung haben, somit innerhalb bestimmter Diskretionsgrenzen (die durch gesellschaftliche Tabus bestimmt werden) auch sozialverträglich sind, pflegt man sie in der Sexualtherapie auch nur dann als pathologisch zu betrachten, wenn genau diese Voraussetzungen des gegenseitigen Einverständnisses und Interesses durchbrochen werden. In diesem Fall wären sie also als therapiebedürftig einzuschätzen (wie die meisten Paraphilien auch). Wir hatten ja vor Kurzem dieses Thema hier im Brett bereits einmal andiskutiert (unter dem Stichwort „narzißtische Persönlichkeitsstörung“).

Nebenbei: Ob die von dir angedeuteten Phantasien (Achtung! Ausschließlich im Fall der Realisierung!) überhaupt unter die Paraphilien einzuordnen sind, ist in Fachkreisen der Sexualtherapie durchaus strittig. Als reine Phantasien sind sie es jedenfalls nicht. Darüberhinaus hinge das entschieden von den detaillierteren spezifischen Inhalten deiner Phantasien ab…

Nach dem, was du schreibst, dürfte dein Problem (von der Überflutung mal abgesehen, das ist klar) aber ein anderes sein: Nämlich deine eigene Bewertung , die mir ziemlich heftig von unkundigen Vorurteilen durchdrungen scheint.

Einerseits ist doch unzweifelhaft, dass die Einbeziehung von Kot und Urin in die Sexualität zu ernsthaften gesundheitlichen Schäden führen kann.

Das könnte höchstens bei oralen Degustierungen der Fall sein, sonst nicht. Aber nach medizinischem Konsens ist es bei NS auch dann nicht der Fall (es gibt sogar gegenteilige Vermutungen). Über KV habe ich keine Infos - ist aber wahrscheinlich, wird aber wenentlich von der Intensität abhängen.

Andererseits muss es bei solchen „Spielarten“ in einer Beziehung doch zwangsläufig zu einem Respektsverlust vor dem Partner kommen.

Das ist eine Fehlinformation (siehe oben). Da es aber zu deinem persönlichen Bewertungssystem gehört (das mit dem in der Öffentlichkeit üblichen natürlich weitgehend übereinstimmt), ist diese Bewertung sicher ein Teil deines Problems, das du angesprochen hast.

Dadurch bringen mich also meine Gelüste und Phantasien und die rationale Beschäftigung damit in einen schweren Konflikt. Das ist das Problem, das ich dahinter sehe.

Das ist richtig. Deine Gelüste stehen in einem Konflikt zu deinen rationalen Bewertungen, und das ist wirklich ein heftiges Problem. Hier würde man dir gerne den Vorschlag machen, zunächst einmal nicht die Gelüste zu bearbeiten, sondern dich entweder mit einem sachkundigen Sexualtherapeuten oder auch in einem BDSM-Gesprächskreis über deine Bewertung (die ja wohl auch Grundlage deines Ekelaffektes sein dürfte) auszutauschen. Du wirst dir dabei erfahrbar machen können, daß man das auch unter bestimmten Bedingungen anders sehen kann. Nochmal, um Mißverständnisse zu vermeiden: Die Bewertung einerseits und die Phantasieinhalte andererseits wären als zwei verschiedene Themen anzusehen.

Eine Krankheit aber, die leider noch wenig erforscht zu sein scheint.

Erforscht ist die durchaus. Heftig umstritten ist dagegen, ob und, falls ja, wie es als pathologisch einzuschätzen ist.

Ohne dir oder jemand anderem zu nahe treten zu wollen, behaupte ich jetzt einfach mal…

Da solltest du vorsichtig sein. Damit arbeitest du bereits gegen dich selbst, woraus natürlich ein psychologisches Problem entsteht. Kundig machen darüber, wie ander Menschen denken, ist immer nützlich, sonst verbort man sich schnell… und es gibt unzählig viele, die so „denken“, wie es dir deine Phantasien (im Ggs. zu deinen Bewertungen) vorgeben. Da kannst du ganz beruhigt sein.

… dass die Menschen, die an diesen „Spielarten“ Gefallen finden, einfach nicht genug darüber nachdenken, was sie sich und anderen damit antun können.

Das läßt einen schon aufhorchen! Zu behaupten, daß andere nicht genug nachdenken, ohne auch nur den geringsten sachbezogenen Austausch mit anderen darüber gehabt zu haben, insbesondere mit anderen, die längst über diese Inhalte auch halböffentlich diskutieren, die Dinge praktizieren, Erfahrungen gesammelt haben, in problemlosen Partnerschaften leben (incl. solcher Praktiken) - das gibt zu denken. Da solltest du vorsichtiger urteilen - das wäre auch in einer ggf. gezielten Therapie, über die su ja nachdenkst, das erste Thema.

Da ich mich aber nun einmal fast ausschließlich in Kreisen bewege, wo viel, manchmal zuviel, nachgedacht wird, werde ich es wohl schwer haben, solche Menschen zu treffen…

Ich kann dir aus meiner Praxis und aus anderen Erfahrungsquellen versichern, daß du dich wundern würdest, wieviele am Thema interessierte Gesprächspartner du finden könntest, auch solche, die darüber ganz anders denken als du :smile: übrigens vorzugsweise in Kreisen, wo „viel nachgedacht“ wird. Das Problem ist (hier für dich), daß solche Themen weitgehend nicht zum öffentlichen Inhalt gemacht werden können (was auch richtig ist) - aber wenn du mehr Gelegenheit hättest, mal hinter die Kulissen zu schauen: Da sieht die Phantasiewelt der Menschen ganz anders aus… und darin könnte zunächst eine vorläufige Beschwichtigung deiner verständlichen Sorge liegen.

was ich aus oben dargelegten Gründen auch gar nicht will.

Darin liegt, wie gesagt, möglicherweise (d.h. im Rahmen deiner bisherigen Äußerungen) das Hauptproblem für dich, durch daß du einen inneren Konflikt schürst, der sich allein schon logisch eskalieren muß - und psychologisch daher erst recht.

Ich hoffe dir mit diesen Zeilen dargelegt zu haben, dass ich mein Verhältnis zur Sexualität durchaus überprüft habe.

Mein Vorschlag für dich aus der Praxis psychologischer Beratung wäre, in diesem Punkt mal vorab nicht so sicher zu sein. Denn mit einem vorausgesetzten resultativen Urteil kann man keine neuen Erfahrungen und Perspektiven gewinnen.

Gruß

Metapher

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Einwände gegen eine Verharmlosungstendenz
Grüße an Metapher!

Ich habe einige Anmerkungen zu der Kontroverse „sexuelle Varianten als Krankheit oder Störung“, weil mir der Verdacht auf das Vorliegen einer Verharmlosungstendenz naheliegt:

es ist zwar richtig, daß die von dir erwähnten Angelegenheiten auch unter sog. sexuellen
Deviationen bzw. Sexualstörungen im DSM und ICD zu klassifizieren versucht wurden.

Es muß festgehalten werden, daß Koprophilie und andere Paraphilien sowie weitere Varianten des Sexualverhaltens als Störungen eingestuft wurden, weil diese Klassifikationen von Experten der WHO für die International Classification of Diseases ICD in der 10.(!) Revision und von Experten der American Psychiatric Association für das DSM in der 4. Revision vorgenommen wurden und diese wohl mehr als andere darüber eine Einschätzung vorzunehmen berechtigt sind.

Es ist aber absolut zu kurz gegriffen, hier zugleich auch von „Krankheit“ zu sprechen
Es ist durchaus unklar und weitgehend umstritten, unter welchen Bedingungen als Störungen
bezeichnete psychische Erscheinungen als „Krankheit“ zu bewerten sind.

Dieser Satz muß doppelt unterstrichen werden. Ob Verhalten jeglicher Art als Krankheit bezeichnet wird, hängt vom Betrachter ab und dem Modell, das er zur Bewertung des Verhaltens heranzieht. Der Begriff „Krankheit“ entstammt hauptsächlich einer medizinischen Betrachtungsweise, die für eine Vielzahl von Verhaltensauffälligkeiten auch meiner Meinung nach nicht zutreffend ist. Jedoch haben sich die Experten des DSM - IV in diesem Punkt als sensibel gezeigt, denn ihre Klassifikation betrachtet die Syndrome nicht als Krankheiten im medizinischen Sinn, sondern als Störungen (daher auch der Name „disorder“ statt „disease“).

Für Paraphilien gilt diese Unterscheidung in besonderen Maßen, so daß ich auf dem jetzigen Kenntnisstand auch niemals von Krankheit sprechen werde (wer meine Artikel genau liest, der wird mir zustimmen). Der Begriff „Störung“ ist jedoch angemessen, um schwere Verhaltensauffälligkeiten begrifflich zu fassen. Was als „Störung“ bezeichnet wird, ist dann wieder eine Frage der Betrachtung. Wie gesagt, halte ich die Experten der WHO und der APA als erste für berechtigt, darüber eine Einschätzung abzugeben. Dieser schließe ich mich - bei kritischer Betrachtung - an.

Hauptkriterium dafür ist zu allererst nicht die Beschreibung und die daraus sich ergebende
Einordnung in ein Klassifizierungssystem (die Diagnose), sondern die Frage, ob eine Person
selbst unter einer Erscheinung leidet, oder ob sie mit bestimmten Eigenschaften ihre Fähigkeit : zur sozialen Interaktion destruiert.

Persönliches Leiden für die Einschätzung einer Verhaltensauffälligkeit als Störung heranzuziehen, ist grundsätzlich richtig. Aber es ist nur EIN Faktor, der WEDER NOTWENDIG NOCH HINREICHEND ist.
Gegen Leiden als Notwendigkeit spricht, daß es einige Störungen gibt, bei denen subjektiv kein Leiden (im Sinne eines Gefühls, selbst gestört zu sein) vorliegt. Beispiele sind Schizophrenie in der floriden Phase, Bipolar I Störung in der manischen Phase (früher manisch-depressive Störung) und Anorexia nervosa. Trotzdem stellen diese Verhaltensauffälligkeiten Störungen dar, die - was Schizophrenie und Bipolar I Störung - angeht, möglicherweise die Bezeichnung Krankheit verdienen. Andererseits gibt es wohl viele Menschen, denen ihr Verhalten Leiden bereitet, aber die wir nicht als psychisch gestört betrachten würden.

Es ist daher viel zu kurz gegriffen, Leiden zu einem Hauptfaktor bei der Einschätzung „Störung oder nicht Störung“ zu erklären. Genauso wenig kann eine Störung sozialer Interaktion als NOTWENDIG oder HINREICHEND angesehen werden, um etwas als psychische Störung zu bezeichnen.

Da alle Praktiken in diesen Bereichen die Voraussetzung wechselseitiger Zustimmung haben, somit : innerhalb bestimmter Diskretionsgrenzen (die durch gesellschaftliche Tabus bestimmt werden)
auch sozialverträglich sind, pflegt man sie in der Sexualtherapie auch nur dann als
pathologisch zu betrachten, wenn genau diese Voraussetzungen des gegenseitigen
Einverständnisses und Interesses durchbrochen werden. In diesem Fall wären sie also als
therapiebedürftig einzuschätzen (wie die meisten Paraphilien auch).

Ich stimme Dir zu, daß die wechselseitige Zustimmung einen weiteren wichtigen Punkt in der Bewertung der Situation des Betroffenen darstellt. Wenn zwei Paraphile mit gleichen oder komplementären Neigungen zueinander finden, ist die Sache aus ihrer Sicht heraus manchmal als sehr positiv zu bewerten (es gibt auch Gegenbeispiele). Jedoch kann das Nichtvorliegen des gegenseitigen Einverständnisses nicht alleiniges Kriterium für eine Sexualtherapie der Paraphilien sein. Leichen können z.B. nicht nach ihrem Einverständnis gefragt werden, Tiere auch nicht. Bei Kindern ist es eine sehr heikle (für mich aber eindeutige) Sache. Außerdem: Was machen Deiner Auffassung Paraphile ohne Partner, die unter ihrer Neigung leiden und die eine Therapie machen möchten? Werden die dann abgelehnt, weil bei ihnen die Frage nach dem gegenseitigen Einverständnis nicht beantwortbar ist?

Nebenbei: Ob die von dir angedeuteten Phantasien (Achtung! Ausschließlich im Fall der
Realisierung!) überhaupt unter die Paraphilien einzuordnen sind, ist in Fachkreisen der
Sexualtherapie durchaus strittig. Als reine Phantasien sind sie es jedenfalls nicht.
Darüberhinaus hinge das entschieden von den detaillierteren spezifischen Inhalten deiner
Phantasien ab…

Wenn die Phantasien dominieren und der Betroffene darunter leidet, halte ich es für ein Problem, das behandlungswürdig ist - abgesehen davon, ob es eine Störung im Sinne von DSM-IV oder ICD-10 ist. Wer da streitet oder nicht, dürfte dem Betroffenen ziemlich egal sein, wenn er seine Phantasien loswerden will und nicht seine Bewertungen derselben ändern will. Ist aber eine Frage der Problematik und der Therapieziele / -vereinbarung.

Nach dem, was du schreibst, dürfte dein Problem (von der Überflutung mal abgesehen, das ist
klar) aber ein anderes sein: Nämlich deine eigene Bewertung, die mir ziemlich heftig von
unkundigen Vorurteilen durchdrungen scheint.

Ich rate von Diagnosen und Einschätzungen via Internet ab (besonders bei der dürftigen Informationsbasis) und empfehle, die Einschätzung einem Fachmann zu überlassen, der den Betroffenen kennenlernt. Ist eine Frage des Berufsethos.

Außerdem sehe ich die Bewertungsfrage sehr kritisch. Etwas pauschal zur Bewertungsfrage zu machen, halte ich für sehr problematisch.

Ich kann dir aus meiner Praxis und aus anderen Erfahrungsquellen versichern, daß du dich
wundern würdest, wieviele am Thema interessierte Gesprächspartner du finden könntest, auch
solche, die darüber ganz anders denken als du :smile: übrigens vorzugsweise in Kreisen, wo „viel
nachgedacht“ wird. Das Problem ist (hier für dich), daß solche Themen weitgehend nicht zum
öffentlichen Inhalt gemacht werden können (was auch richtig ist) - aber wenn du mehr
Gelegenheit hättest, mal hinter die Kulissen zu schauen: Da sieht die Phantasiewelt der
Menschen ganz anders aus… und darin könnte zunächst eine vorläufige Beschwichtigung deiner
verständlichen Sorge liegen.

Das ist wohl alles richtig. Dennoch kann von der relativen Häufigkeit eines Verhaltens nicht unbedingt auf die Frage „Störung oder nicht Störung“ geschlossen werden. Major Depression ist sehr häufig („Schnupfen der Psychiatrie“) und dennoch ein Problem / eine Störung.

Und: Wenn sexuelle Sadisten oder „Kinderschänder“ z.B. sich im „kleinen Kreis“ austauschen und sich an ihren Praktiken „aufgeilen“, dann mögen diese Leute es o.k. finden. Ich habe dazu eine andere Einstellung. Auch bei harmloseren Paraphilien trägt Kontakt zu „Gleichgesinnten“ möglicherweise zu einer Verfestigung von Verhaltensweisen bei, die ich in Übereinstimmung mit DSM-IV und ICD-10 als gestörtes Verhalten bezeichne. Ob die Verfestigung solchen Verhaltens sinnvoll ist oder nicht, beantwortet bei Straftatbeständen die Justiz auf Grundlage von Gesetzen, bei psychischen Störungen der Psychiater / Psychotherapeut und bei ethischen Aspekten derjenige, der sich dazu berufen fühlt.

Grüße,

Oliver

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Einwände gegen die Einwände
Hallo Oliver,

*Verzeihung, Metapher, mich drängt es zur Antwort!*

Es muß festgehalten werden, daß Koprophilie … als
Störungen eingestuft wurden, weil diese Klassifikationen von
Experten … vorgenommen wurden und diese wohl mehr als andere
darüber eine Einschätzung vorzunehmen berechtigt sind.

da hätte ich einen kleinen Einwand: Das Expertentum der ICD-10 bezieht sich nicht in erster Linie auf die Klassifizierung selbst; das auch, aber vor allem auf Diagnose und Therapie der Störungen. Die Einschätzung dieser Abweichungen als „Störung“ oder gar als „Krankheit“ ist zu einem großen Teil auch von nichtmedizinischen Faktoren wie gesellschaftlicher Akzeptanz etc. abhängig. Das hast du ja auch selbst angedeutet.

Wie gesagt, halte ich die Experten der WHO und der APA als
erste für berechtigt, darüber eine Einschätzung abzugeben.

Es ist bei den Medizinern wie bei den Juristen: die Gesetze machen nicht die Richter, sondern die Richter legen die (vorliegenden) Gesetze aus.

Deine Ausführungen über Leiden teile ich weitgehend, aber nur, soweit sie das von Metapher Gesagte ergänzen. Die Hinzuziehung von weit hergeholten Beispielen aus dem Bereich der Leichenschändung etc. halte ich für thematisch zu weit entfernt, denn hier ging es ja um einen ganz persönlichen, also sehr speziellen Fall.

Außerdem sehe ich die Bewertungsfrage sehr kritisch. Etwas
pauschal zur Bewertungsfrage zu machen, halte ich für sehr
problematisch.

Mir scheint, dass du diesem Prinzip bei der ICD-10 untreu wirst.

Major Depression ist sehr häufig („Schnupfen der Psychiatrie“)
und dennoch ein Problem / eine Störung.

Schon richtig, aber das Problem der Bewertung eines Symptoms ist in der Psychiatrie auch oft eine soziale Frage.

Ob die Verfestigung solchen Verhaltens sinnvoll ist
oder nicht, beantwortet bei Straftatbeständen die Justiz auf
Grundlage von Gesetzen, bei psychischen Störungen der
Psychiater / Psychotherapeut und bei ethischen Aspekten
derjenige, der sich dazu berufen fühlt.

Wie gesagt: Ebenso wie du die Unterscheidungen innerhalb der Justiz vernachlässigst, tust du das aus meiner Sicht in der Medizin.

Das ist alles nicht gegen deine Meinung als Ganzes gerichtet. Grundsätzlich liegt mir nur die Schwelle zur Störung bzw. zur Krankheit in der heutigen Medizin zu niedrig.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

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Verteidigung von ICD-10 und DSM-IV
Hallo Thomas!

Ein paar Anmerkungen:

Die Einschätzung dieser Abweichungen als „Störung“
oder gar als „Krankheit“ ist zu einem großen Teil auch von
nichtmedizinischen Faktoren wie gesellschaftlicher Akzeptanz
etc. abhängig. Das hast du ja auch selbst angedeutet.

Richtig, aber dennoch sind ICD-10 und DSM-IV die Kriterienkataloge für Störungen. Und danach sollte diagnostiziert werden (zumal ICD-10 in Deutschland verpflichtend anzuwenden ist). Weil Paraphilien in diesen Klassifikationen von Experten als Störungen festgeschrieben sind, ist erst einmal damit festgelegt, was Störung ist. Natürlich nicht für ewig, denn auch die Medizin macht Fortschritte.

Es ist bei den Medizinern wie bei den Juristen: die Gesetze
machen nicht die Richter, sondern die Richter legen die
(vorliegenden) Gesetze aus.

Na ja, nicht ganz. Die Mediziner definieren die Störungen und Krankheiten schon mit.

Die Hinzuziehung von weit hergeholten Beispielen aus dem
Bereich der Leichenschändung etc. halte ich für thematisch zu
weit entfernt, denn hier ging es ja um einen ganz persönlichen,
also sehr speziellen Fall.

Thematisch weit entfernt ist „Leichenschändung“ ganz und gar nicht. Denn Sex mit Leichen (Nekrophilie) ist auch eine der diskutierten Paraphilien. Das magst Du nun als Störung des Sexualverhaltens ansehen oder nicht. Ich zitiere nur ICD-10 und DSM-IV, die offiziellen Diagnosekataloge.

Mir scheint, dass du diesem Prinzip bei der ICD-10 untreu
wirst.

Das verstehe ich nicht.

Schon richtig, aber das Problem der Bewertung eines Symptoms
ist in der Psychiatrie auch oft eine soziale Frage.

Ja, richtig. Aber bei Major Depression? Außerdem glaube ich, daß der Standpunkt der Anti-Psychiatrie und die Etikettierungshypothese hier durchschimmert. Ein bißchen was Wahres ist da dran, aber insgesamt ist die Frage nach einer psychischen Störung nicht nur eine der Etikettierung und Bewertung. Und das ist auch nicht bei DSM-IV und ICD-10 der Fall.

Wie gesagt: Ebenso wie du die Unterscheidungen innerhalb der
Justiz vernachlässigst, tust du das aus meiner Sicht in der
Medizin.

Also von den Unterscheidungen in der Justiz weiß ich zu wenig, um etwas dazu zu sagen. In der Medizin (jedenfalls, was ICD-10 und DSM-IV) kenne ich nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis ein wenig. Was da sonst noch so als problematisch eingestuft wird, da bin ich doch sehr vorsichtig mit der Vergabe von Diagnosen, wenn ich mich an die DSM-IV-Kriterien und die ICD-10-Forschungskriterien halte. Wenn wirklich danach diagnostiziert werden würde und nicht erst später die Nummer rausgekramt wird, dann wären wir ein Stück weiter. Und differenziert scheinen mir ICD-10 und DSM-IV zu sein.

Das ist alles nicht gegen deine Meinung als Ganzes gerichtet.
Grundsätzlich liegt mir nur die Schwelle zur Störung bzw. zur
Krankheit in der heutigen Medizin zu niedrig.

Ja. Der Stand wäre aber besser, wenn die Diagnostiker sich strikt an DSM-IV und ICD-10 (Forschungskriterien) halten würden. Weil es nicht der Fall ist, wird mehr als gestört angesehen, als es nach den zugegeben sozial mitdeterminierten Klassifikationssystemen der Fall ist.

Herzliche Grüße

Oliver

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Klassifizierungen
Hallo Oliver,

mir scheint eine Verteidigung nicht notwendig, denn ich bin sehr wohl der Meinung, dass diese Systeme im Ganzen gut sind. Gleichwohl ist es doch offensichtlich - meine ich -, dass diese Systeme keine Allheilmittel sind und sein können, sondern lediglich Orientierungshilfen. Du hattest pauschale Bewertung abgelehnt - zu Recht, wie ich meine - und dann aber diese Orientierungshilfen als nicht kritisierbar dargestellt. Deswegen hatte ich geschrieben, dass du hier deinen eigenen Vorstellungen untreu wirst.

Richtig, aber dennoch sind ICD-10 und DSM-IV die
Kriterienkataloge für Störungen. Und danach sollte
diagnostiziert werden (zumal ICD-10 in Deutschland
verpflichtend anzuwenden ist).

Selbstverständlich, aber Diagnose ist nicht gleich Bewertung. Wenn du etwas diagnostizierst, dann sagst du damit ja nur, dass das Diagnostizierte vorliegt, nicht mehr.

Weil Paraphilien in diesen Klassifikationen von Experten als
Störungen festgeschrieben sind, ist erst einmal damit
festgelegt, was Störung ist. Natürlich nicht für ewig, denn
auch die Medizin macht Fortschritte.

Die Betonung hier würde ich auf „erst einmal“ legen, was dann aber gerade nicht bedeutet, dass keine Revision möglich ist.

Es ist bei den Medizinern wie bei den Juristen …

Na ja, nicht ganz. Die Mediziner definieren die Störungen und
Krankheiten schon mit.

Natürlich, die Juristen ja auch. Die Unterscheidung bei den Medizinern liegt - meiner Meinung nach - darin, dass in der täglichen Praxis dasjenige angewendet wird, was in der Forschung erarbeitet wird. Und diejenigen Mediziner, die forschend tätig sind, sind in der Regel vom wirklichen Kontakt mit den Patienten ziemlich abgeschnitten. Sie befassen sich mehr mit Symptomen als mit Personen. Gerade in dieser Konstellation sehe ich die Crux - was unseren Disput angeht.

Außerdem glaube ich, daß der Standpunkt der Anti-Psychiatrie
und die Etikettierungshypothese hier durchschimmert.
Ein bißchen was Wahres ist da dran, aber insgesamt ist die
Frage nach einer psychischen Störung nicht nur eine der
Etikettierung und Bewertung.

Nein, einen anti-psychiatrischen Standpunkt möchte ich überhaupt nicht einnehmen. Eher geht es mir darum zu zeigen, dass die Arbeit am Patienten das Primäre ist und sein muss. Würde in diesen Systemen etwa etwas von „jüdischen Krankheiten“ oder so stehen, müsstest du sie doch auch in Frage stellen (und würdest es ziemlich sicher auch tun). Verabsolutiert man aber eine Richtlinie, dann steht man immer in der Gefahr, die angelegten Fehler mitzumachen. Versteh mich bitte nicht falsch, ich möchte dir keine Unlauterkeit unterstellen, nur eine gewisse „Expertengläubigkeit“ (in Anführungszeichen, weil es böser klingt, als ich es meine - ich finde nur gerade kein besseres Wort).

da bin ich doch sehr vorsichtig mit der
Vergabe von Diagnosen, wenn ich mich an die DSM-IV-Kriterien
und die ICD-10-Forschungskriterien halte. Wenn wirklich danach
diagnostiziert werden würde und nicht erst später die Nummer
rausgekramt wird, dann wären wir ein Stück weiter.

Da scheint mir ein kleiner Widerspruch vorzuliegen. Entweder du diagnostizierst „vorsichtig“ oder „nach Plan“. Dieses „oder“ halte ich für ein „ausschließendes Oder“.

differenziert scheinen mir ICD-10 und DSM-IV zu sein.

Keine Frage, das habe ich auch nicht bestritten.

Weil es nicht der Fall ist, wird mehr als gestört
angesehen, als es nach den zugegeben sozial mitdeterminierten
Klassifikationssystemen der Fall ist.

Das ist im Grunde das, was ich sagen wollte, aber man muss auch bei diesen Systemen immer wieder feststellen, dass die Grenzbereiche Schwierigkeiten machen. Das ist ja eigentlich auch ganz normal und überhaupt kein Manko. Die Borderline-Problematik hat das in den letzten Jahren ja auch deutlich gezeigt.

Aber ich will nicht ins Einzelne gehen - obwohl das schon interessant wäre. :smile:

Herzliche Grüße

Thomas Miller

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Hallo Martin,

ich persönlich bin der Meinung, daß Verhaltensweisen jedweder Natur nur dann krankhaft sind, wenn sie für den Betroffenen entweder eine Belastung oder eine Gefährdung darstellen (oder wenn behandlungsbedürftige organische Erkrankungen Ursache der Verhaltensstörung sind, das will ich aber im Folgenden ausklammern). Eine etwas weitere Definition könnte Verhalten auch dann noch als pathologisch ansehen, falls das Umfeld der betroffenen Person durch jene belastet oder gefährdet wird.

Mir gefällt diese Definition aus den folgenden drei Gründen besonders gut:

Erstens: Sie ist ganz auf die jeweilige Situation des Patienten zentriert. Einem Schauspieler kann eine submanische Phase beruflich förderlich sein, ein überdrehter Pfarrer jedoch wäre weniger im Sinne des Erfinders.

Zweitens: Sie ist völlig unabhängig vom aktuell für wahr gehaltenen Krankheitsklassifikationssystem (von denen es in Psychologie und Psychiatrie ohnehin eine Unzahl gibt). Es ist wirklich völlig egal, ob das Verhalten laut ICD-10 pathologisch ist oder nicht. Denke daran - es ist ein menschengemachtes Werk, und wenn die Autoren dieses Werkes bestimmte Verhaltensweisen als abträglich empfinden, so wird es eben als pathologisch abgestempelt. Die neuen Autoren der kommenden Version werden das womöglich schon wieder ganz anders sehen. Eine Frage der Standespolitik.

Drittens, in Anlehnung an Zweitens: Sie ist wertneutral, also unabhängig davon gültig, ob bestimmte Vehaltensweisen seitens des Therapeuten als „hui“ oder „pfui“ betrachtet werden. Damit ist die Definition objektiv - obgleich ja gleichzeitig (!) dem subjektivem Krankheitsempfinden der entscheidende Stellenwert bezüglich der Frage „normal oder pathologisch“ zukommt.

Nun zu Deinem Fall: Du leidest unter Deinen Neigungen. Für Dich (aber nicht für andere) ist sie daher krankhaft.

Es gibt nun m.E. zwei unterschiedliche Lösungsstrategien:

Erstens: Du versuchst, die Neigungen loszuwerden. Hierzu sind ja weiter unten viele wertvolle Hinweise gegeben worden. Gestattet sei jedoch der Hinweis, daß Versuche, solche Neigungen dauerhaft abzustellen, regelmäßig frustran verlaufen - siehe die hohe Rückfallquote bei Sexualstraftätern, die oft ernsthaft unter ihren Neigungen leiden und versuchen, diese loszuwerden.

Zweitens: Du behälst die Neigung bei (oder lebst sie aus) und versuchst, Dein „darunter leiden“ abzustellen. Was ist denn so schrecklich an den von Dir gehegten Gedanken? Müßtest Du Dich vielleicht nicht von tief verinnerlichten Moralvorstellungen (im veralteten Freudschen Modell das „Über-ich“) loslösen? Oder den „Kopf“ einfach auch mal abschalten? Befürchtest Du, daß die Menschen, mit denen Du intim zusammen wärst, den Respekt vor Dir verlieren würden? Oder umgekehrt? Würde es hier nicht weiterhelfen, einfach mal mit den entsprechenden Personen zu reden, um diese Besorgnis auszuräumen?

Denke daran: Da keine Selbstgefährdung oder gar Gefährdung anderer vorliegt, können Deine Wünsche nur dann krank sein, wennn Du selbst ein Problem damit hast. In dieser speziellen Konstellation hast nur Du selbst das Recht, Dich als Gesund zu bezeichnen oder als krank abzustempeln. Du und niemand anderes :wink:

Oliver

Bewertung ist nicht gleich Bewertung
Hallo Thomas,

noch ein paar Anmerkungen:

Gleichwohl ist es doch offensichtlich - meine ich -, dass
diese Systeme keine Allheilmittel sind und sein können,
sondern lediglich Orientierungshilfen.

Hatte ich mit dem Satz: „Natürlich nicht für ewig. Die Medizin macht auch Fortschritte“ sagen wollen.

Du hattest pauschale
Bewertung abgelehnt - zu Recht, wie ich meine - und dann aber
diese Orientierungshilfen als nicht kritisierbar dargestellt.
Deswegen hatte ich geschrieben, dass du hier deinen eigenen
Vorstellungen untreu wirst.

Ich bitte Dich! Wo habe ich denn geschrieben, daß die Diagnosesysteme nicht kritisiert werden dürfen? Was ich geschrieben habe, ist, daß eine Einschätzung von Verhalten als gestört nach den Diagnosesystemen stattfinden sollte, weil die Experten von WHO und APA als erste kompetent erscheinen, solche Diagnosesysteme vorzulegen, nach denen beurteilt wird, was gestört ist und was nicht.

Selbstverständlich, aber Diagnose ist nicht gleich Bewertung.
Wenn du etwas diagnostizierst, dann sagst du damit ja nur,
dass das Diagnostizierte vorliegt, nicht mehr.

Aber natürlich ist Diagnose auch Bewertung. Man sieht einen Patienten / eine Patientin, erhebt Befunde und diagnostiziert eine Störung. Damit ist auch gleichzeitig eine Bewertung als gestört gegeben, wenn eine Störung diagnostiziert wurde, und von nicht gestört, wenn als „o.B.“ (salopp ausgedrückt) diagnostiziert wurde.

Die Betonung hier würde ich auf „erst einmal“ legen, was dann
aber gerade nicht bedeutet, dass keine Revision möglich ist.

Schön, daß Du mich richtig verstanden hast. Wer kann auch daran zweifeln, wenn ICD schon in der 10. Fassung und DSM in der 4. Fassung vorliegen?

Natürlich, die Juristen ja auch.

War´s Du es nicht, der meinte, die Juristen interpretierten nur Gesetze? Läßt mich fragen, wie lange Du die Inhalte Deiner Artikel im Gedächtnis behältst? :wink:

Nein, einen anti-psychiatrischen Standpunkt möchte ich
überhaupt nicht einnehmen. Eher geht es mir darum zu zeigen,
dass die Arbeit am Patienten das Primäre ist und sein muss.

Wer wird hier widersprechen, wenn es um die Praxis geht? Aber ohne Theorie ist die Praxis nur „Herumgedoktere“. Selbst die Medizinmänner und Schamanen haben ihre Theorie.

Versteh mich
bitte nicht falsch, ich möchte dir keine Unlauterkeit
unterstellen, nur eine gewisse „Expertengläubigkeit“ (in
Anführungszeichen, weil es böser klingt, als ich es meine -
ich finde nur gerade kein besseres Wort).

Nimm´s mir nicht übel, aber was Du hier schreibst, ist: Schmarrn. ICD-10 und DSM-IV sind das Beste, was wir haben. Wenn Du was Besseres auf den Tisch legst, dann ändere ich meine Meinung sofort. Auch auf die Gefahr hin, daß Du mir nun vielleicht mangelnde Standfestigkeit unterstellst. :wink:

Da scheint mir ein kleiner Widerspruch vorzuliegen. Entweder
du diagnostizierst „vorsichtig“ oder „nach Plan“. Dieses
„oder“ halte ich für ein „ausschließendes Oder“.

Nö. Nach ICD-10 und DSM-IV zu diagnostizieren, heißt vorsichtig und zu gleich nach Plan zu diagnostizieren. Wer nicht nach Plan diagnostiziert, begibt sich in die Gefahr, unvorsichtig zu diagnostizieren, weil er eben nicht den abgesicherten Boden der Diagnosesysteme unter sich hat, sondern „nur“ den SEINES Verstandes. Ich ziehe es vor, auf dem Boden MEINES und dem von Experten zu handeln, weil ich (leider) nicht allwissend bin.
Und: Wer im Rahmen des Gesundheitswesens nicht nach ICD-10 diagnostiziert, verstößt gegen geltende rechtliche Bestimmungen.

Das ist im Grunde das, was ich sagen wollte, aber man muss
auch bei diesen Systemen immer wieder feststellen, dass die
Grenzbereiche Schwierigkeiten machen. Das ist ja eigentlich
auch ganz normal und überhaupt kein Manko. Die
Borderline-Problematik hat das in den letzten Jahren ja auch
deutlich gezeigt.

Das ist aber eine andere Frage. Wenn etwas die Kriterien von DSM-IV und ICD-10 erfüllt, dann ist es eine Störung. Wenn nicht und Du meinst, daß trotzdem gestörtes Verhalten vorliegt, dann mußt Du es sehr gut begründen, weil es eine nicht anerkannte Störung darstellen würde. Möglich ist es natürlich, ohne Frage. Vielleicht ist die unorthodoxe Ansicht auch die bessere. Aber wer weiß das schon? Und ich würde wohl immer zustimmen, wenn die Begründung sehr gut ist.

Außerdem glaube ich, daß ein Mißverständnis vorliegt. Ich habe den Begriff „Bewertung“ in Zusammenhang mit Metaphers Artikel in dem Sinn gebraucht, daß der Betroffene durch eine persönliche Umbewertung seines Verhaltens von seinem Leiden befreit werden kann (quasi kognitive Umstrukturierung). „Bewertung“ bzgl. eines der Diagnosesysteme meint für mich aber die Bewertung eines „Syndroms“ als Störung, unabhängig von der persönlichen „Bewertung“ des Verhaltens durch den Betroffenen. Jemand kann sich also als nicht gestört bewerten, obwohl sein Verhalten nach den Diagnosesystemen eine Störung darstellt. Dies ist z.B. meistens bei Anorektikerinnen, bei Bipolar I-Patienten in der manischen und Schizophrenen in der floriden Phase der Fall.

Ich hoffe, daß ich meinen Standpunkt jetzt deutlicher darstellen konnte.

Grüße,

Oliver

beispiel von icd-10
hallo oliver,

Einige Fakten zum Thema ICD-10:

Bislang genügte es, eine Migräne zu attestieren. Künftig sollen (und wollen) die Krankenkassen aber mehr erfahren: die Hintergründe der Migräne von beispielsweise Patientin W. nämlich. Und die ließen sich dann so verschlüsseln: F70, Z63.5, (Ehemann Z72.9, F52.7) Z59.1, F59.6, Z62.0, Z55.4, F81.0, F59.2, Z72.3
Im Klartext: Basis bildet eine (F70) leichte Intelligenzminderung, die mittlerweile zu einer (Z63.5) Zerrüttung und Trennung der Partnerschaft führte. Der Ehemann hatte (Z72.9) Probleme in bezug auf seine Lebensführung und ein (F52.7) gesteigertes sexuelles Verlangen, dem die Patientin schon mit Rücksicht auf die (Z59.1) beengten Wohnverhältnisse nicht nachkommen wollte. Seit der Trennung verfügt W. nur noch über ein (F59.6) niedriges Einkommen. Hinzu kommen (Z62.0) Probleme in Bezug auf die Erziehung. Der 14jährige Sohn ist von einer veerbten (Z55.4) mangelnden Anpassung an schulische Anforderungen betroffen, während die 12jährige Tochter unter einer angeborenen (F81.0) Lese- und Rechtschreibschwäche leidet. Aufgrund dieser Belastung bleiben bei der Patientin vielfach (F59.2) Unstimmigkeiten mit den Nachbarn nicht aus, weswegen sie sich in ihrer Wohnung „verkriecht“ und folglich auch noch an (Z72.3) mangelnder körperlicher Bewegung leidet …

Der Hartmannbund erklärte in einem an den damaligen Gesunheitsminister(bei Einführung) Seehofer gerichteten Protestschreiben :
Der ICD-10 ist für die Kommunikation zwischen Ärzten und mit anderen Beteiligten des Gesundheitswesens ungeeignet, weil Fehlinterpretationen vorprogrammiert sind; zudem wirft er neue ungelöste Probleme des Datenschutzes und der Datensicherheit auf.

Noch bedenklicher sind die Codes für Begriffe wie „gesteigertes sexuelles Verlagen“ (F52.7), für die es keine medizinischen Kriterien gibt. Wo die Grenze zwischen einer unverkrampften Einstellung zur Sexualität und einem pathologischen Sexualverhaltens gezogen wird, bliebe damit de facto den moralischen Vorstellungen und persönlichen Vorurteilen der einzelnen Ärzte überlassen. Zwar bestehen solche Probleme auch ohne ICD-10, aber diese moralischen Wertungen durch den Arzt kamen dank der ärztlichen Schweigepflicht den Krankenkassen bisher nicht zu Gesicht. Man muss vermuten, dass die Krankenkassen alle nicht ihrer Vorstellung der Norm entsprechenden Praktiken im Zweifelsfall erstmal als „riskantes Sexualverhalten“ einzustufen werden, mit den entsprechenden Konsequenzen für den Versicherten.

So viel zu der Thematik dcd-10.
Du siehst, Sexualität, welche konsensuell ausgelebt wird, sollte nicht einfach von Medizinern beurteilt werden, und von Bürokraten erst recht nicht.
Ich verwahre mich dagegen, daß sexuelle Orientierung zur Krankheit erklärt wird, nur weil es nicht der Moral anderer entspricht.

"Nicht die Dinge sind es, die uns beunruhigen, sondern die Sicht, die wir auf sie haben."

cu

strubbel

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nicht gerade harmlos
Hi Oliver

… weil mir der Verdacht auf das Vorliegen einer Verharmlosungstendenz naheliegt

Im Gespräch mit Leuten, die Neigungen, Interessen, Phantasien im Bereich dessen, was man unter „BDSM“ und „Fetisch“ zusammenfaßt, haben und die wegen einer schwachen Assoziation „pervers“ deshalb in Panik geraten und sich gar selbst als „psychisch krank“ beurteilen, hat es sich als vorteilhaft erwiesen, ihnen zunächst einmal die Panik zu nehmen - und danach in Ruhe ins Detail zu gehen. Allein die Information, daß viele ihrer vermeintlich sozialfeindlich-psychopathischen Phantasien ein reges und ausgeprägtes Leben im Separée aller Gesellschaften pflegen (und seit vielen Jahrhunderten pflegten), das trägt schon oft zur Minderung der erlebten Dramatik bei.

Selbstverständlich gibt es in diesen Gefilden eine Menge von besonderen Erscheinungen, die als pathologisch und gefährlich einzustufen sind (ggf. natürlich auch der Strafverfolgung unterliegen müssen). Aber allein deshalb, weil eine bestimmte Art von Phantasie von einem Gremium unter „Paraphilie“ klassifiziert wurde, ist sie doch keineswegs als gleichrangig dramatisch zu bewerten mit Kindesmißbrauch oder Leichenmißbrauch !!??

Die genauere Differenzierung und der Verweis auf Kommunikationsmöglichkeiten mit Ingroups, die mit solchen Inhalten erfahrener und vertrauter sind als die überwiegende Mehrzahl von Psychotherapeuten - das allein als „Verharmlosung“ künstlich zu dramatisieren, dürfte dem Ursprungsposter keinen nützlichen Dienst erweisen, zumal er ja selbst offensichtlich dazu neigte, sich als in dieser Hinsicht „krank“ einzuschätzen. Meine Antwort galt also dem Poster persönlich und hatte nicht die Intention einer theoretischen Diskussion über Paraphiles als solches und erst recht nicht über Sinn und Zweck des DSM.

Ich pflege meine Antworten in heiklen Angelegenheiten auf der Basis langjähriger Praxis gerne - so weit wie möglich - auf das geäußerte Anliegen des Posters abzustimmen. In diesem Fall ist jedoch noch nicht einmal geklärt, ob die Selbstanalyse „Koprophilie“ überhaupt zutreffend ist, denn er sprach bislang lediglich von Phantasien! Und über die spezifischen Inhalte dieser Phantasien war noch gar nicht die Rede (davon aber würde die Berechtigung der Bezeichnung entscheidend abhängen).

Für Paraphilien gilt diese Unterscheidung in besonderen Maßen,
so daß ich auf dem jetzigen Kenntnisstand auch niemals von
Krankheit sprechen werde (wer meine Artikel genau liest, der
wird mir zustimmen).

Weiß ich nicht warum du das mir schreibst. Ich habe dir nicht unterstellt, in diesem Fall von Krankheit geschrieben zu haben - vielmehr hab ich mich dagegen gewandt, daß es der Poster tat. Im Übrigen lese ich jeden Artikel, auf den ich antworte, genau. Aber - by the sides - um dich ging es hier doch auch gar nicht, oder doch?

Jedoch kann das Nichtvorliegen des
gegenseitigen Einverständnisses nicht alleiniges Kriterium für
eine Sexualtherapie der Paraphilien sein. Leichen können z.B.
nicht nach ihrem Einverständnis gefragt werden, Tiere auch
nicht. Bei Kindern ist es eine sehr heikle (für mich aber
eindeutige) Sache.

Absolut off topic - siehe oben. Ich habe bei aufmerksamem Lesen des Erstpostings nichts von Leichen und von Kindern gesehen. Ansonsten ist auch der Zusammenhang mißverstanden worden, in dem ich von Verletzung der Einverständnisbedingung schrieb: Selbstverständlich trifft das nur da zu, wo im Übrigen das Einverständnis die Voraussetzung ist (z.B. in SM-Szenarien). Es wäre ja absurd: Bei Leichen- und Tiermißbrauch ist Einverständnis - ach den Witz können wir uns sparen… Und Kindesmißbrauch ist pathologisch und strafbar, selbst wenn Einverständnis nachgewiesen werden könnte.

Außerdem: Was machen Deiner Auffassung
Paraphile ohne Partner, die unter ihrer Neigung leiden und die
eine Therapie machen möchten? Werden die dann abgelehnt, weil
bei ihnen die Frage nach dem gegenseitigen Einverständnis
nicht beantwortbar ist?

Schön - eine Karikatur dessen, wovon ich sprach :smile:

Klar ist, daß der Poster kundtat, daß er leidet. Und worunter er leidet, könnte sich bei detailliertem Gespräch als etwas anderes erweisen, als was er selbst vermutet (ich hatte ihm in diesem Sinne zunächst einmal lediglich die Möglichkeit eines Perspektivwechsels vorgeschlgen ).

Was dann noch aus seinen Äußerungen zu entnehmen war:

  1. eine Phantasieüberflutung des Tageslebens (das ist ein Leiden - und zwar vom Inhalt der Phantasien ganz unabhängig!!)
  2. ein innerer Konflikt, der durch eine moralische Bewertung des Inhaltes der Phantasien geschürt wird.

ad 1. hier könnte tatsächlich eine therapeutische Beratung nützlich sein
ad 2. hier schlug ich vor, Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen, die moralische Bewertung noch einmal einer Prüfung zu unterziehen.

Wenn die Phantasien dominieren und der Betroffene darunter
leidet, halte ich es für ein Problem, das behandlungswürdig ist

Weiß nicht, warum du das wiederholst, denn genau das hatte ich ihm geschrieben.

Nach dem, was du schreibst, dürfte dein Problem (von der Überflutung mal abgesehen, das ist
klar) aber ein anderes sein: Nämlich deine eigene Bewertung, die mir ziemlich heftig von
unkundigen Vorurteilen durchdrungen scheint.

Ich rate von Diagnosen und Einschätzungen via Internet ab
(besonders bei der dürftigen Informationsbasis) und empfehle,
die Einschätzung einem Fachmann zu überlassen, der den
Betroffenen kennenlernt. Ist eine Frage des Berufsethos.

Das mit dem „Berufsethos“ kanst du mal getrost jemandem überlassen, der gewiß mit der Praxis vertraut ist :smile:
Und die Bemerkung ist überdies für jeden, der gerade solche Texte in öffentlichen Foren genaustens zu lesen gelernt hat, witzig abwegig: Denn es ist gerade die Selbstaussage des Posters gewesen, daß er unter dem Konflikt zwischen

  1. einer Phantasieproduktion und
  2. einer eigenen negativen moralischen Bewertung
    leidet.

Außerdem sehe ich die Bewertungsfrage sehr kritisch. Etwas
pauschal zur Bewertungsfrage zu machen, halte ich für sehr
problematisch.

Das hast du schlecht gelesen und (vielleicht daher) falsch verstanden: Ich schlug ihm nicht vor, sein Problem durch Änderung seiner Bewertung zu bewältigen (das wäre Unsinn, denn das Hauptproblem der Überflutung wäre damit ja nicht gelöst) - sondern ich faßte seine Problem-Darstellung zusammen - und wies damit einen ersten Schritt zur Problemlösung:

Denn durch den Konflikt zwischen 1. und 2. wird das Problem eskaliert. Ich schlug daher vor, 1. und 2. separat zu betrachten.
Zu der Überflutung (= 1.) kann ich nichts sagen, denn ich arbeite nicht psychotherapeutisch. Und zu der negativen Selbst-Bewertung (= 2.) schlug ich eine Neu orientierung via Kundigmachen vor.

Und: Wenn sexuelle Sadisten oder „Kinderschänder“ z.B. sich im
„kleinen Kreis“ austauschen und sich an ihren Praktiken
„aufgeilen“, dann mögen diese Leute es o.k. finden.

SM-Interessierte und „Kinderschänder“ in einem Atemzug zu nennen, ist wohl eine (mindestens) auf absoluter Ignoranz beruhende Infamie sondergleichen.

Das kann ich beim besten Willen nicht mehr als harmlos bezeichnen.

Daß darüberhinaus präsupponiert wird, BDSM-Gesprächskreise (und ausschließlich von denen habe ich geschrieben!) hätten den Zweck des „aufgeilens“, halte ich für ein pervers-ignorantes Outing, das ich bei einem, der sich doch in seinen anderen Postings offenbar sehr penibel um wissenschaftliche Präzision bemüht, nur mit großem Erstaunen vermerken kann.

Schade, wenn durch soetwas viele Interessierte, die diesbezüglich Fragen haben, denen sie einmal gerne in sachkundigen Kreisen nachgehen möchten, in die Irre geführt werden.

Ich habe dazu eine andere Einstellung.

Es ist jedem überlassen, wo auch immer seine Einstellungen zu outen. Innerhalb dieses Threads jedenfalls erscheint es mir ziemlich off topic - jedenfalls dem Hauptposter von keinerlei Nutzen - es sei denn, du kennst den Hauptposter näher als die meisten hier, dann wird es seinen Konflikt sicher erfolgreich weiter eskalieren.

Mit dennoch freundlichem Gruß

Metapher

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Lieber Martin,

Bist Du langjährig verheiratet, schwul, einseitig verliebt oder was?
Falls die wohl von einer Obsession außerhalb einer existierenden Liebesbeziehung ausgehenden bisherigen Experten-Äußerungen nicht zutreffen, würde ich Dir das sagen wollen:

Die Liebe zu den körperlichen Ausscheidungen des Partners kann – als Ausdruck übergroßer Wertschätzung – bei diesem im Falle eines Mangels an Einfühlungsvermögen und Phantasie durchaus zu Verachtung führen, und das ist dann halt schwierig.

Wichtig ist die Frage nach der Bedeutung des Beziehungsaspektes. Fetisch ist, wenn es gleichgültig ist, um wen es geht. Liebe ist, wenn es nur um die Eine geht, deren benutztes Klopapier einmal küssen zu dürfen meine Hoffnung ist.

Gruß

Wolfgang Berger

apropos harmlos
Hallo Oliver

Ich habe einige Anmerkungen zu der Kontroverse „sexuelle
Varianten als Krankheit oder Störung“, weil mir der Verdacht
auf das Vorliegen einer Verharmlosungstendenz naheliegt:

Mich würde mal interessieren, was an den von Martin geschilderten Phantasien „an sich“ eigentlich nicht harmlos ist ? Auch die praktische Ausführung wäre (ja nach Form) vermutlich nicht „gefährlicher“ als andere sexuelle Praktiken.

Somit entsteht meiner Meinung nach das Problem auch nicht durch die Phantasie „an sich“, sondern durch deren Bewertung. Und ich finde Probleme sollte man immer da zu lösen versuchen, wo sie entstehen.

Gruss
Marion

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Nicht nur soziale Vereinbarungen
Hallo strubbel!

Daß die Krankenkassen nicht nur „Migräne“ (G43.x) als Diagnose haben wollen, sondern etwas mehr Infos über den Patienten erfahren wollen, kann ich nur begrüßen. Außerdem sehe ich prinzipiell keinen Grund, weitere „XXI. Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen (Z00-Z99)“ (Zitat aus ICD-10) festzustellen und den Krankenkassen mitzuteilen. Immerhin könnten diese Faktoren für die Aufklärung der Genese der Primärstörung eine wichtige Rolle spielen. Zumindest geben sie eine genauere Zustandsbeschreibung. In DSM wurde das Prinzip z.B. durch die Einführung zwei eigenständiger Achsen (IV und V) zusätzlich zu den großen Störungsachsen (Achse I und II) und der Achse für medizinische Krankheitsfaktoren verwirklicht. Sehr gut!

Was ich nicht gutheiße, ist die Auflistung von ICD-10-Nummern und (Deine?) Interpretation von kausalen Zusammenhängen zwischen den Befunden. Erst einmal liegen nur Situationsbeschreibungen vor, die zeitlich / räumlich mit den diagnostizierten Störungen einhergehen. Ob da ein kausaler Zusammenhang besteht, ist aus den Nummern allein nicht ableitbar.

Ob die ICD-10 ungeeignet für die Kommunikation im Gesundheitswesen ist, kann ich nicht beurteilen. Immerhin wird es auch anders gesehen. Möglicherweise liegt es auch nicht an der ICD-10, sondern an der Qualifikation des Personals. Wie die Arbeits- und Organisationspsychologie lehrt, bedarf die Einführung einer neuen Technik in der Regel der Qualifizierung des Personals. Wenn das nicht geschieht, wird es sehr wahrscheinlich zu Fehlanwendungen und Problemen führen. Und weil ICD-10 natürlich nicht der Weisheit letzter Schluß ist, wird ICD-11 bestimmt Verbesserungen aufweisen.

Noch bedenklicher sind die Codes für Begriffe wie „gesteigertes
sexuelles Verlagen“ (F52.7), für die es keine medizinischen Kriterien gibt.

Worin ich Dir zustimme, ist, daß es bedauerlicherweise Kategorien gibt, in denen ICD-10 nicht sehr präzise ist (was auch auf DSM-IV zutrifft). Für F52.7 habe ich mal nachgeschaut:

„Männer und Frauen (meist Teenager oder junge Erwachsene) klagen gelegentlich über ein gesteigertes sexuelles Verlangen als eigenständiges Problem.“ (ICD-10, klinisch-diagnostische Leitlinien)

Probleme mit der ICD-10 habe ich hier nicht, weil nur gesagt wird, daß Personen beiderlei Geschlechts manchmal über ein gesteigertes sexuelles Verhalten als eigenständiges Problem klagen. Es heißt doch nichts anderes, als daß die Betroffenen selbst ihr Sexualverhalten als manchmal gesteigert und als eigenständiges Problem ansehen. Spielraum für den Diagnostiker bleibt da relativ wenig, wenn er seine Arbeit professionell betreibt.

Außerdem führt ICD-10 (klinisch-diagnostische Leitlinien) weiter aus:

„Handelt es sich um ein sekundär gesteigertes sexuelles Verlangen bei einer affektiven Störung (F30-F39) oder in frühen Stadien einer Demenz (F00 - F03), ist die zugrundeliegende Störung zu kodieren.“

Falls also das vom Betroffenen Geschilderte auf eine andere Störung zurückgeführt werden kann, wird nicht F52.7, sondern die zugrundeliegende Störung kodiert. Sehr gut!

Wo die Grenze zwischen einer unverkrampften Einstellung zur
Sexualität und einem pathologischen Sexualverhaltens gezogen wird,
bliebe damit de facto den moralischen Vorstellungen und persönlichen
Vorurteilen der einzelnen Ärzte überlassen.

Also hinsichtlich F52.7 kann ich wirklich nicht erkennen, was die „moralischen Vorstellungen und persönlichen Vorurteile der einzelnen Ärzte“ mit der Sache zu tun haben, weil die Einschätzung eben nicht durch den Diagnostiker, sondern durch den Betroffenen / die Betroffene vorgenommen wird. Die Aufgabe des Diagnostikers ist vielmehr in diesem Fall 1. das Festhalten der „Klage“ des / der Betroffenen und 2. die Abklärung, ob der Befund sich auf eine andere Störung zurückführen läßt.

Hinsichtlich der moralischen Integrität und der sachlichen Kompetenz der meisten Mediziner bin ich keineswegs so pessimistisch eingestellt wie Du. Im Gegenteil gehe ich so lange davon aus, daß eine bestimmte Person ihr Handwerk versteht, bis mir das Gegenteil nachgewiesen wurde.

Du siehst, Sexualität, welche konsensuell ausgelebt wird, sollte
nicht einfach von Medizinern beurteilt werden, und von Bürokraten
erst recht nicht.
Ich verwahre mich dagegen, daß sexuelle Orientierung zur Krankheit
erklärt wird, nur weil es nicht der Moral anderer entspricht.

An dieser Stelle machst Du etwas, das ich nicht gutheißen kann. Indem Du die Situation so vereinfacht darstellst, bereitest Du eine Situation , in der jeder Widerspruch bei oberflächlicher Betrachtung als unsinnig angesehen werden muß. Da ich mich davon aber nicht beeindruckt fühle, widerspreche ich aus folgenden Gründen Deinem „Fazit“:

  1. Nicht jedes Sexualverhalten und nicht jede sexuelle Orientierung wird von Medizinern beurteilt.
  2. Die Beurteilung mancher sexueller Verhaltensweisen (und ausgehend von Martins Artikel ging es um Paraphilien wie u.a. Exhibitionismus, Fetischismus, Frotteurismus, Pädophilie, Voyeurismus, obszöne Telefonanrufe, Nekrophilie, Zoophilie, Koprophilie, Urophilie) wird nicht „einfach“ vorgenommen, sondern aufgrund von differenzierten Klassifikationssystemen psychischer Störungen, denen umfangreiche Forschungen zugrundeliegen.
  3. Bürokraten diagnostizieren in der Regel nicht.
  4. Es ging nicht primär um im Konsens ausgeübtes Sexualverhalten.
  5. Störung ist nicht gleich Krankheit.
  6. Der moralische Aspekt ist für die Diagnose irrelevant.

Zum 4. Punkt möchte ich aus DSM-IV, S. 593, zitieren:

"Die Hauptmerkmale einer Paraphilie sind wiederkehrende intensive sexuell erregende Phantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, die sich im allgemeinen auf

  1. nichtmenschliche Objekte,
  2. das Leiden oder die Demütigung von sich selbst oder seines Partners oder
  3. Kinder oder andere nicht einwilligende oder nicht einwilligungsfähige Personen beziehen und die über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten auftreten."

Zum einen ist dieses Zitat die Widerlegung der Meinung aller (auch z.B. Metaphers), die meinen, daß reine Phantasien von Fachleuten als uneingeschränkt bedenkenlos eingestuft werden, zum anderen ist Konsens nur ein, wenn auch wichtiger Aspekt.

Aber das ist nur Kriterium A. Außerdem muß noch Kriterium B erfüllt sein, um eine paraphile Störung zu diagnostizieren:

„… Das Verhalten, die sexuell dranghaften Bedürfnisse oder Phantasien führen in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.“

U.a. deshalb ist es wichtig, die von Dir oben aufgeführten und von ICD-10 unter Z00-Z99 verschlüsselten Faktoren zu berücksichtigen. Ich möchte Dich hier explizit darauf hinweisen, daß die Z-Codes keine Störungen verschlüsseln, sondern eben die oben genannten „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen.“

Mir scheint, daß der Stand der Diskussion gezeigt hat, daß es nicht mehr um eine differenzierte Bewertung einiger sexueller Varianten als Störung geht, sondern daß sich manche Personen angegriffen fühlen, wenn einige sexuelle Varianten nicht als unbedenklich eingestuft werden, weil für sie jedes Sexualverhalten unbedenklich ist - unter der Voraussetzung der konsensuellen Ausübung. Damit verlagerte sich aber die Diskussion in Richtung von einer offenen Behandlung eines speziellen Falles zu einer um ein Dogma geführten Scheindiskussion. Wie mein erster Artikel zu Martins Problemschilderung zeigt, ist damals die Frage offen gewesen, ob es sich im konkreten Fall um gestörtes Verhalten handelt. Dieser Standpunkt beinhaltet also die Möglichkeit gestörten und ungestörten sexuellen Verhaltens. Der sich seit Deinem Artikel abzeichnende Gegenstandpunkt betrachtet keine sexuelle Variante als gestört, wenn konsensuell ausgeübt. Der von Dir vertretene Gegenstandpunkt ist ein Rückschritt, weil er im Gegensatz zum durch DSM und ICD definierten Standpunkt wissenschaftliche Kriterien ausschließt und einzig soziale Vereinbarungen (genau das ist Konsens) als Kriterium anerkennt. Wofür das Kriterium aber gelten soll, also was sexuelles Verhalten ist, das nicht im Konsens ausgeübt wird, bleibt von Vertretern Deines Standpunkts unbestimmt. Und das hat seinen Grund:

Durch soziale Vereinbarung könnte nämlich dasjenige, was aus wissenschaftlicher Sicht als gestört angesehen wird (u.a. Pädophilie), als bedenkenlos eingestuft werden, wenn Dein Standpunkt konsequent zu Ende durchgeführt werden würde. Dies betrifft aber nicht nur wissenschaftliche Einschätzungen, sondern auch juristische. Strattatbestände hinsichtlich der Menschenrechte (u.a. Würde des Menschen ist unantastbar, Recht des Menschen auf körperliche Unversehrtheit) wären damit letztendlich auch nur Ausdruck des Konsenses und Zugeständnis des Kollektivs / der Gesellschaft an den Einzelnen. Wer jetzt meint, das sei doch auch so, der verläßt den Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, weil eben Menschenrechte NICHT durch das Kollektiv / die Gesellschaft verliehen werden, sondern jeder Mensch mindestens seit Geburt im Besitz dieser unveräußerlichen Rechte ist.

Beispiel: Ein sexueller Masochist, der im Konsens von seinem Partner gedemütigt und körperlich verletzt wird, erleidet Schaden aufgrund der Verletzung seiner Menschenrechte, was er nicht entschulden kann, weil er seine eigenen Menschenrechte nicht - auch nicht partiell und zeitlich begrenzt - aufgeben kann. Gegenargumente bzgl. der mangelnden Verfolgung solcher Menschenrechtsverletzungen sind irrelevant, denn nicht jedes rechtswidrige Verhalten wird strafrechtlich verfolgt, geschweige denn bestraft.

Ein weiteres Beispiel ist der sexuelle Mißbrauch von Schutzbefohlenen. Die nicht selten zu hörende „Entschuldigung“ der Täter / Täterinnen (die auch eine Störung des Sexualverhaltens aufweisen können): „Aber er / sie wollte es doch auch“, ist auch dann de jure irrelevant, wenn der Betroffene erklärt, das sei so gewesen. Denn § 174 StGB beinhaltet keine Aussage über die Einwilligung des Opfers. Und in diesen Fällen handelt es sich nicht nur um Kinder, deren sexueller Mißbrauch in § 176 StGB thematisiert wird, sondern um Personen bis zum 16. oder bis zum 18. Lebensjahr. Der Gesetzgeber hat nämlich primär das besondere Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer berücksichtigt und daher die Frage der Einwilligung in sexuelle Handlungen nicht in den §§ 174-176 StGB, sondern in denen für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung behandelt.

Neben medizinischen und psychologischen Gründen gibt es also auch noch auf sehr hoher Ebene angesiedelte juristische Gründe, warum Dein Standpunkt unhaltbar ist. Mit der Argumentation gegen soziale Kriterien ist aber nicht gesagt, daß soziale Aspekte keine Rolle spielen (sie spielen sie natürlich auch in den Klassifikationssystemen), sondern, daß sie in diesem Bereich keine ausschließliche Rolle spielen dürfen.

Dein Zitat („Nicht die Dinge sind es, die uns beunruhigen, sondern die Sicht, die wir auf sie haben“) ist hübsch, aber einseitig, denn der Inhalt zielt nur auf die Erlebensseite unserer Existenz ab. Neben unserer persönlichen Bewertung / Sicht der Dinge existieren die Dinge unabhängig von uns und können Wirkungen auf uns haben, gleichgültig, was wir darüber denken. Ein konkretes Beispiel im Hinblick auf unsere Diskussion: Ein im Sexualverhalten gestörter Mensch kann mir schaden, ob ich ihn als gestört ansehe oder nicht.

Die Informationen, die im Wort „gestört“ enthalten sind, nicht für seinen und für den Vorteil des anderen zu gebrauchen, ist eine Torheit, die irgendwann zu Leiden führt - wessen auch immer.

Grüße,

Oliver Walter

Moin Oliver,

jetzt reicht es aber so langsam. Wenn man Folgendes von dir liest, stehen einem ja die Haare zu Berge:

Beispiel: Ein sexueller Masochist, der im Konsens von seinem
Partner gedemütigt und körperlich verletzt wird, erleidet
Schaden aufgrund der Verletzung seiner Menschenrechte, was er
nicht entschulden kann, weil er seine eigenen Menschenrechte
nicht - auch nicht partiell und zeitlich begrenzt - aufgeben
kann. Gegenargumente bzgl. der mangelnden Verfolgung solcher
Menschenrechtsverletzungen sind irrelevant, denn nicht jedes
rechtswidrige Verhalten wird strafrechtlich verfolgt,
geschweige denn bestraft.

So wie ich das überblicke erfährt ein Masochist nicht in erster Linie Leid durch seinen Partner, sondern viel mehr dadurch, dass seine Neigung von der Gesellschaft und offensichtlich auch einigen „Wissenschaftlern“ als „krank“ eingestuft wird. Mich wundert übrigens, dass du Homosexualität hier nicht anführst. Schließlich galt das ja bis vor nicht allzu langer Zeit auch noch als „krankhaft“ (Und waren nicht die Therapiemethoden, die vorgesehen waren um Homosexualitäte „auszutreiben“ ähnlich den von dir empfohlenene ?). Ich denke das „Leid“ vieler Homosexueller und SMler könnte ganz stark gemindert werden, wenn sie sich offen zu ihrer Sexualität bekennen könnten und nicht ständig mit Angst vor gesellschaftlicher Diffamierung oder vor dem Label „krank“ rechnen müssten.

Mich würde auch mal interessieren, wie nach der von dir angeführten Definition Selbstbefriedigung einzustufen ist. Obwohl, nein…ich will es lieber nicht wissen… *grusel*.

Ein weiteres Beispiel ist der sexuelle Mißbrauch von
Schutzbefohlenen. Die nicht selten zu hörende „Entschuldigung“
der Täter / Täterinnen (die auch eine Störung des
Sexualverhaltens aufweisen können): „Aber er / sie wollte es
doch auch“, ist auch dann de jure irrelevant, wenn der
Betroffene erklärt, das sei so gewesen. Denn § 174 StGB
beinhaltet keine Aussage über die Einwilligung des Opfers. Und
in diesen Fällen handelt es sich nicht nur um Kinder, deren
sexueller Mißbrauch in § 176 StGB thematisiert wird, sondern
um Personen bis zum 16. oder bis zum 18. Lebensjahr. Der
Gesetzgeber hat nämlich primär das besondere
Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer
berücksichtigt und daher die Frage der Einwilligung in
sexuelle Handlungen nicht in den §§ 174-176 StGB, sondern in
denen für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung behandelt.

Und hier wird es ja nun wohl völlig abstrus. Mittlerweile dürfte es sich auch bis zu dir rumgesprochen haben, dass viele Menschen, die in ihrer Kindheits sexuelle Mißbrauchserfahrungen machen mussten (egal ob zu dem Zeitpunkt ihre „Einwilligung“ dazu vorlag oder nicht) unter diesen Erfahrungen und Folgen oft jahrelang, wenn nicht ihr Leben lang zu leiden haben.

Der Grund, warum der Gesetzgeber hier eingreift sollte also offensichtlich sein.

Im umgekehrten Fall leiden jedoch Homosexuelle oder Masochisten grade deshalb ebenfalls jahrelang, weil sie ihre Neigungen nicht ausleben können und sich selbst für „krank“ halten oder Angst haben, dafür gehalten zu werden.

Um diese beiden Dinge (Pädophilie und Masochismus) gleichsetzen zu wollen, muss man sich also schon ziemlich das Hirn verrenken.

Mich würde echt mal interessieren, wie ein nach diesem „Krankheitskatalog“ ausgereichtetes „gesundes“ Sexualleben aussehen würde. Zählt Licht anlassen beim Sex eigentlich auch noch dazu oder fällt das schon unter Exhibitionismus ?

Dein Zitat („Nicht die Dinge sind es, die uns beunruhigen,
sondern die Sicht, die wir auf sie haben“) ist hübsch, aber
einseitig, denn der Inhalt zielt nur auf die Erlebensseite
unserer Existenz ab.

Bravo, gut erkannt :smile: So kann zum Beispiel Geschlechtsverkehr in der Ehe strafbar sein, wenn er nicht mit Einwilligung beider Partner vollzogen wird (Vergewaltigung). Die eigentliche Handlung an sich dürfte kaum anders sein. Entscheidend ist hier die Einwilligung dazu. Und das Verletzten dieses Konsenses ist es, was bei den Betroffenen Leid, Vertrauensverlust, „Störungen“ etc. bewirkt, nicht die Handlung „an sich“ (die bei Konsens wohl zweifelsohne als lustvoll empfunden wird).

Neben unserer persönlichen Bewertung /

Sicht der Dinge existieren die Dinge unabhängig von uns und
können Wirkungen auf uns haben, gleichgültig, was wir darüber
denken.

Nun ja, obiges ist wohl eher eine Frage fürs Philosophiebrett.

Ein konkretes Beispiel im Hinblick auf unsere

Diskussion: Ein im Sexualverhalten gestörter Mensch kann mir
schaden, ob ich ihn als gestört ansehe oder nicht.

Zustimmung. Es kommt nicht darauf an, wie ich (oder jemand anders) den Menschen ansehe, sondern wie ich das empfinde, was er mit mir anstellt, (ob als Schaden oder nicht). Nur hast du dir hier selbst grade ein Gegenargument geliefert.

Die Informationen, die im Wort „gestört“ enthalten sind, nicht
für seinen und für den Vorteil des anderen zu gebrauchen, ist
eine Torheit, die irgendwann zu Leiden führt - wessen auch
immer.

Ich denke, zwischen mündigen Menschen sollte es völlig ausreichen zu sagen: Das (eine bestimmte sexuelle Praktik) macht mir (generell oder in diesem Moment) keinen Spass und dies sollte vom Partner dann auch akzeptiert werden, und zwar ganz gleichgültig, ob es sich bei der vorgeschlagenen Praktik um eine „Störung“ nach deinem hübschen Katalog oder nicht handelt.

Gruss
Marion

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therapie
hallo martin,

daß du im internet nichts gefunden hat, beweist nichts.
jeder erfahrene sexualtherapeut wäre für dich die richtige anlaufstelle.

cu

strubbel