Nicht nur soziale Vereinbarungen
Hallo strubbel!
Daß die Krankenkassen nicht nur „Migräne“ (G43.x) als Diagnose haben wollen, sondern etwas mehr Infos über den Patienten erfahren wollen, kann ich nur begrüßen. Außerdem sehe ich prinzipiell keinen Grund, weitere „XXI. Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen (Z00-Z99)“ (Zitat aus ICD-10) festzustellen und den Krankenkassen mitzuteilen. Immerhin könnten diese Faktoren für die Aufklärung der Genese der Primärstörung eine wichtige Rolle spielen. Zumindest geben sie eine genauere Zustandsbeschreibung. In DSM wurde das Prinzip z.B. durch die Einführung zwei eigenständiger Achsen (IV und V) zusätzlich zu den großen Störungsachsen (Achse I und II) und der Achse für medizinische Krankheitsfaktoren verwirklicht. Sehr gut!
Was ich nicht gutheiße, ist die Auflistung von ICD-10-Nummern und (Deine?) Interpretation von kausalen Zusammenhängen zwischen den Befunden. Erst einmal liegen nur Situationsbeschreibungen vor, die zeitlich / räumlich mit den diagnostizierten Störungen einhergehen. Ob da ein kausaler Zusammenhang besteht, ist aus den Nummern allein nicht ableitbar.
Ob die ICD-10 ungeeignet für die Kommunikation im Gesundheitswesen ist, kann ich nicht beurteilen. Immerhin wird es auch anders gesehen. Möglicherweise liegt es auch nicht an der ICD-10, sondern an der Qualifikation des Personals. Wie die Arbeits- und Organisationspsychologie lehrt, bedarf die Einführung einer neuen Technik in der Regel der Qualifizierung des Personals. Wenn das nicht geschieht, wird es sehr wahrscheinlich zu Fehlanwendungen und Problemen führen. Und weil ICD-10 natürlich nicht der Weisheit letzter Schluß ist, wird ICD-11 bestimmt Verbesserungen aufweisen.
Noch bedenklicher sind die Codes für Begriffe wie „gesteigertes
sexuelles Verlagen“ (F52.7), für die es keine medizinischen Kriterien gibt.
Worin ich Dir zustimme, ist, daß es bedauerlicherweise Kategorien gibt, in denen ICD-10 nicht sehr präzise ist (was auch auf DSM-IV zutrifft). Für F52.7 habe ich mal nachgeschaut:
„Männer und Frauen (meist Teenager oder junge Erwachsene) klagen gelegentlich über ein gesteigertes sexuelles Verlangen als eigenständiges Problem.“ (ICD-10, klinisch-diagnostische Leitlinien)
Probleme mit der ICD-10 habe ich hier nicht, weil nur gesagt wird, daß Personen beiderlei Geschlechts manchmal über ein gesteigertes sexuelles Verhalten als eigenständiges Problem klagen. Es heißt doch nichts anderes, als daß die Betroffenen selbst ihr Sexualverhalten als manchmal gesteigert und als eigenständiges Problem ansehen. Spielraum für den Diagnostiker bleibt da relativ wenig, wenn er seine Arbeit professionell betreibt.
Außerdem führt ICD-10 (klinisch-diagnostische Leitlinien) weiter aus:
„Handelt es sich um ein sekundär gesteigertes sexuelles Verlangen bei einer affektiven Störung (F30-F39) oder in frühen Stadien einer Demenz (F00 - F03), ist die zugrundeliegende Störung zu kodieren.“
Falls also das vom Betroffenen Geschilderte auf eine andere Störung zurückgeführt werden kann, wird nicht F52.7, sondern die zugrundeliegende Störung kodiert. Sehr gut!
Wo die Grenze zwischen einer unverkrampften Einstellung zur
Sexualität und einem pathologischen Sexualverhaltens gezogen wird,
bliebe damit de facto den moralischen Vorstellungen und persönlichen
Vorurteilen der einzelnen Ärzte überlassen.
Also hinsichtlich F52.7 kann ich wirklich nicht erkennen, was die „moralischen Vorstellungen und persönlichen Vorurteile der einzelnen Ärzte“ mit der Sache zu tun haben, weil die Einschätzung eben nicht durch den Diagnostiker, sondern durch den Betroffenen / die Betroffene vorgenommen wird. Die Aufgabe des Diagnostikers ist vielmehr in diesem Fall 1. das Festhalten der „Klage“ des / der Betroffenen und 2. die Abklärung, ob der Befund sich auf eine andere Störung zurückführen läßt.
Hinsichtlich der moralischen Integrität und der sachlichen Kompetenz der meisten Mediziner bin ich keineswegs so pessimistisch eingestellt wie Du. Im Gegenteil gehe ich so lange davon aus, daß eine bestimmte Person ihr Handwerk versteht, bis mir das Gegenteil nachgewiesen wurde.
Du siehst, Sexualität, welche konsensuell ausgelebt wird, sollte
nicht einfach von Medizinern beurteilt werden, und von Bürokraten
erst recht nicht.
Ich verwahre mich dagegen, daß sexuelle Orientierung zur Krankheit
erklärt wird, nur weil es nicht der Moral anderer entspricht.
An dieser Stelle machst Du etwas, das ich nicht gutheißen kann. Indem Du die Situation so vereinfacht darstellst, bereitest Du eine Situation , in der jeder Widerspruch bei oberflächlicher Betrachtung als unsinnig angesehen werden muß. Da ich mich davon aber nicht beeindruckt fühle, widerspreche ich aus folgenden Gründen Deinem „Fazit“:
- Nicht jedes Sexualverhalten und nicht jede sexuelle Orientierung wird von Medizinern beurteilt.
- Die Beurteilung mancher sexueller Verhaltensweisen (und ausgehend von Martins Artikel ging es um Paraphilien wie u.a. Exhibitionismus, Fetischismus, Frotteurismus, Pädophilie, Voyeurismus, obszöne Telefonanrufe, Nekrophilie, Zoophilie, Koprophilie, Urophilie) wird nicht „einfach“ vorgenommen, sondern aufgrund von differenzierten Klassifikationssystemen psychischer Störungen, denen umfangreiche Forschungen zugrundeliegen.
- Bürokraten diagnostizieren in der Regel nicht.
- Es ging nicht primär um im Konsens ausgeübtes Sexualverhalten.
- Störung ist nicht gleich Krankheit.
- Der moralische Aspekt ist für die Diagnose irrelevant.
Zum 4. Punkt möchte ich aus DSM-IV, S. 593, zitieren:
"Die Hauptmerkmale einer Paraphilie sind wiederkehrende intensive sexuell erregende Phantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, die sich im allgemeinen auf
- nichtmenschliche Objekte,
- das Leiden oder die Demütigung von sich selbst oder seines Partners oder
- Kinder oder andere nicht einwilligende oder nicht einwilligungsfähige Personen beziehen und die über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten auftreten."
Zum einen ist dieses Zitat die Widerlegung der Meinung aller (auch z.B. Metaphers), die meinen, daß reine Phantasien von Fachleuten als uneingeschränkt bedenkenlos eingestuft werden, zum anderen ist Konsens nur ein, wenn auch wichtiger Aspekt.
Aber das ist nur Kriterium A. Außerdem muß noch Kriterium B erfüllt sein, um eine paraphile Störung zu diagnostizieren:
„… Das Verhalten, die sexuell dranghaften Bedürfnisse oder Phantasien führen in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.“
U.a. deshalb ist es wichtig, die von Dir oben aufgeführten und von ICD-10 unter Z00-Z99 verschlüsselten Faktoren zu berücksichtigen. Ich möchte Dich hier explizit darauf hinweisen, daß die Z-Codes keine Störungen verschlüsseln, sondern eben die oben genannten „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen.“
Mir scheint, daß der Stand der Diskussion gezeigt hat, daß es nicht mehr um eine differenzierte Bewertung einiger sexueller Varianten als Störung geht, sondern daß sich manche Personen angegriffen fühlen, wenn einige sexuelle Varianten nicht als unbedenklich eingestuft werden, weil für sie jedes Sexualverhalten unbedenklich ist - unter der Voraussetzung der konsensuellen Ausübung. Damit verlagerte sich aber die Diskussion in Richtung von einer offenen Behandlung eines speziellen Falles zu einer um ein Dogma geführten Scheindiskussion. Wie mein erster Artikel zu Martins Problemschilderung zeigt, ist damals die Frage offen gewesen, ob es sich im konkreten Fall um gestörtes Verhalten handelt. Dieser Standpunkt beinhaltet also die Möglichkeit gestörten und ungestörten sexuellen Verhaltens. Der sich seit Deinem Artikel abzeichnende Gegenstandpunkt betrachtet keine sexuelle Variante als gestört, wenn konsensuell ausgeübt. Der von Dir vertretene Gegenstandpunkt ist ein Rückschritt, weil er im Gegensatz zum durch DSM und ICD definierten Standpunkt wissenschaftliche Kriterien ausschließt und einzig soziale Vereinbarungen (genau das ist Konsens) als Kriterium anerkennt. Wofür das Kriterium aber gelten soll, also was sexuelles Verhalten ist, das nicht im Konsens ausgeübt wird, bleibt von Vertretern Deines Standpunkts unbestimmt. Und das hat seinen Grund:
Durch soziale Vereinbarung könnte nämlich dasjenige, was aus wissenschaftlicher Sicht als gestört angesehen wird (u.a. Pädophilie), als bedenkenlos eingestuft werden, wenn Dein Standpunkt konsequent zu Ende durchgeführt werden würde. Dies betrifft aber nicht nur wissenschaftliche Einschätzungen, sondern auch juristische. Strattatbestände hinsichtlich der Menschenrechte (u.a. Würde des Menschen ist unantastbar, Recht des Menschen auf körperliche Unversehrtheit) wären damit letztendlich auch nur Ausdruck des Konsenses und Zugeständnis des Kollektivs / der Gesellschaft an den Einzelnen. Wer jetzt meint, das sei doch auch so, der verläßt den Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, weil eben Menschenrechte NICHT durch das Kollektiv / die Gesellschaft verliehen werden, sondern jeder Mensch mindestens seit Geburt im Besitz dieser unveräußerlichen Rechte ist.
Beispiel: Ein sexueller Masochist, der im Konsens von seinem Partner gedemütigt und körperlich verletzt wird, erleidet Schaden aufgrund der Verletzung seiner Menschenrechte, was er nicht entschulden kann, weil er seine eigenen Menschenrechte nicht - auch nicht partiell und zeitlich begrenzt - aufgeben kann. Gegenargumente bzgl. der mangelnden Verfolgung solcher Menschenrechtsverletzungen sind irrelevant, denn nicht jedes rechtswidrige Verhalten wird strafrechtlich verfolgt, geschweige denn bestraft.
Ein weiteres Beispiel ist der sexuelle Mißbrauch von Schutzbefohlenen. Die nicht selten zu hörende „Entschuldigung“ der Täter / Täterinnen (die auch eine Störung des Sexualverhaltens aufweisen können): „Aber er / sie wollte es doch auch“, ist auch dann de jure irrelevant, wenn der Betroffene erklärt, das sei so gewesen. Denn § 174 StGB beinhaltet keine Aussage über die Einwilligung des Opfers. Und in diesen Fällen handelt es sich nicht nur um Kinder, deren sexueller Mißbrauch in § 176 StGB thematisiert wird, sondern um Personen bis zum 16. oder bis zum 18. Lebensjahr. Der Gesetzgeber hat nämlich primär das besondere Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer berücksichtigt und daher die Frage der Einwilligung in sexuelle Handlungen nicht in den §§ 174-176 StGB, sondern in denen für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung behandelt.
Neben medizinischen und psychologischen Gründen gibt es also auch noch auf sehr hoher Ebene angesiedelte juristische Gründe, warum Dein Standpunkt unhaltbar ist. Mit der Argumentation gegen soziale Kriterien ist aber nicht gesagt, daß soziale Aspekte keine Rolle spielen (sie spielen sie natürlich auch in den Klassifikationssystemen), sondern, daß sie in diesem Bereich keine ausschließliche Rolle spielen dürfen.
Dein Zitat („Nicht die Dinge sind es, die uns beunruhigen, sondern die Sicht, die wir auf sie haben“) ist hübsch, aber einseitig, denn der Inhalt zielt nur auf die Erlebensseite unserer Existenz ab. Neben unserer persönlichen Bewertung / Sicht der Dinge existieren die Dinge unabhängig von uns und können Wirkungen auf uns haben, gleichgültig, was wir darüber denken. Ein konkretes Beispiel im Hinblick auf unsere Diskussion: Ein im Sexualverhalten gestörter Mensch kann mir schaden, ob ich ihn als gestört ansehe oder nicht.
Die Informationen, die im Wort „gestört“ enthalten sind, nicht für seinen und für den Vorteil des anderen zu gebrauchen, ist eine Torheit, die irgendwann zu Leiden führt - wessen auch immer.
Grüße,
Oliver Walter