Hallo aqua-alta,
mich würde jetzt doch interessieren, ob dass ein"Morgens-KiGa" (4 Std.) war. Nach Abschluss des KiGa gehen alle Kinder wieder in „ihre Welt“ zurück? Und spielen dann wie üblich?
Es handelte sich jeweils um Ganztages-Kindergärten, wobei die Kinder unterschiedlich lange da waren. Das mit dem Spielen zuhause war ziemlich spannend. Die meisten Kinder spielten wie auch sonst zuhause mit dem, womit sie immer spielten. Vor allem die Größeren wollten aber oft von sich aus zuhause „spielzeugfrei“ sein und erzählten im Kindergarten ganz stolz, was sie gestern Tolles ohne „richtiges“ Spielzeug gespielt hatten.
Auch im Sinn und Zweck, dass über ein viertel Jahr zu machen, erschließt sich mir noch nicht wirklich.
Nach meiner Erfahrung dauert es, bis die Kinder (und auch die Erzieherinnen) sich wirklich darauf einlassen können. Vor allem für die Erzieherinnen ist es zu Anfang oft schwer, ihre gewohnte Entertainer-Rolle loszulassen.
Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Erzieherinnen von Eltern daran gemessen werden, was sie den Kindern anbieten. Wenn Eltern in den Gruppenraum kommen, erwarten sie, die Erzieherinnen im aktiven Spielgeschehen mit den Kindern zu sehen. Dass genau das nicht das primäre Ziel ist, verstehen Eltern nur dann, wenn man sie gut informiert.
Kinder müssten lernen, ab dem Eintritt in den Kindergarten zunehmend Selbststeuerungsfähigkeiten zu entwickeln. Dazu ist es auch notwendig, dass sie zunächst Gefühle wie Langeweile und Unlust erleben und aushalten können, aus denen heraus sie eigenmotiviert aktiv werden. Genau das wird in Kindergärten nahezu unmöglich gemacht. Die Erzieherinnen befinden sich im Förder- und Aktionszwang. Es ist einem Kind z.B. faktisch unmöglich, in einem normalen Kindergarten auch nur 5 Minuten herumzustehen und „nichts“ zu tun, ohne dass es von einer Erzieherin pädagogisch belästigt wird.
In vielen Einrichtungen haben Kinder kaum noch Zeit, echtes Freispiel zu erleben, bei dem sie - der Definition nach - das was sie tun, wie sie es tun, wie lang sie es tun und mit wem sie tun tatsächlich ausüben können. Auch im sogenannten „Freispiel“ reglementieren die Erzieherinnen die Anzahl der Kinder, die zusammen spielen („nur 4 Kinder in die Bauecke“), beeinflussen die Wahl des Spielpartners („Lasst mal den Kevin mitspielen“ oder „Paul, spiel’ bitte auch mal mit jemand anderem als nur Jonas“), greifen in jede Auseinandersetzung ein, ohne den Kindern die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu einigen oder zwingen Kinder zu Spielen, zu denen sie keine Lust haben („Luis, du musst erst ein Spiel am Tisch machen, bevor du in die Bauecke darfst“).
Neben dem, was sich also nun so „Freispiel“ nennt, stehen dann gut durchgeplant Förderangebote und häufig der Zwang, für irgend ein Fest zu basteln oder sonstige Dinge vorzubereiten. Wenn das nicht passiert, sind die Eltern unzufrieden mit dem Kindergarten, weil da „nichts Richtiges mit den Kindern gemacht wird“. Sie messen die Qualität an dem, was die Kinder an (von der Erzieherin) Gebasteltem mit nach Hause bringen und welch wohlklingende Angebote auf dem Tagesplan stehen.
Unterm Strich heißt das, dass die Kinder systematisch lernen, beschäftigt zu werden. Es ist immer jemand da, der dafür sorgt, dass sie zu tun haben und der weiß, was gut für sie ist. Die einzigen, die das niemals herausfinden können, sind die Kinder selbst.
Aus dieser Mühle auszusteigen, ist aus diesen Gründen für die Erzieherinnen und für die Kinder harte Arbeit. Beide sind es nicht gewohnt, sich einfach aufeinander einzulassen. Die Kinder haben gelernt, dass die Erzieherinnen ihnen sagen, was gut für sie ist. Und die Erzieherinnen haben verinnerlicht, dass das ihr Job ist.
Steht ein allzu frühes Ende in Aussicht, schaffen es häufig die Erzieherinnen nicht, loszulassen. Sie betrachten die spielzeugfreie Zeit als etwas, was es zu überstehen gilt und nicht als gemeinsames Lernfeld, das es sein muss, um Erfolg zu bringen.
Im idealfall trägt nach dieser Zeit der Grundgedanke des miteinander Lernens und die Fähigkeit, die Kinder entscheiden zu lassen, was sie interessiert, auch im weiteren Kindergartenalltag. Man kann das Funktionieren dieses Ansatzes übrigens hervorragend in Waldkindergärten sehen. Entgegen der Ängste vieler Eltern sind diese Kinder trotz „fehlender“ Förderung durch Sprach- Rechen- und sonstige Programme in der Schule in keinster Weise benachteiligt - im Gegenteil. Viele „Waldkinder“ fallen durch gute Impulskontrolle, Selbststeuerung und eigenmotiviertes Lernverhalten auf.
Suchtprävention? Spielzeug= Suchtmittel?
Das klingt seltsam und ist es in dieser Formulierung irgendwie auch. Aber hast du schon mal erlebt, dass Kinder nicht in den Garten wollen, weil sie dort nichts mit sich anfangen können? Oder dass Kinder bei einem Waldspaziergang weinen, weil ihnen langweilig ist? Kindergartenkinder wohlgemerkt, keine Teenager:smile:.
Das „süchtige“ Malen habe ich in einem anderen Post schon angesprochen. Auch „süchtig“ betrieben werden übrigens Puzzles. Es gibt Kinder, die nichts anderes täten, als ein Bild nach dem anderen zu malen oder ein Puzzle nach dem anderen zu legen, weil sie dort nicht mit anderen Kindern interagieren müssen. Sie wollen - wenn überhaupt - nur die Aufmerksamkeit der Erzieherinnen, um für ihr Tun gelobt zu werden.
Keine Anregungen durch Erzieher/Erwachsene?
Zumindest nicht in erster Linie. Der Unterschied liegt darin, dass die Kinder erst mal Fragen entwickeln, bevor die Erzieherinnen Antworten liefern, anstatt ihnen Antworten auf Fragen zu geben, die sie gar nicht stellen. Natürlich verfügen die Erzieherinnen über ein größeres Wissen, aber es ist ein Irrtum zu glauben, die Kinder würden das verinnerlichen, wenn sie das Thema nicht interessiert. Die Kunst ist, die Kinder dabei zu unterstützen, Fragen zu stellen, neugierig zu werden. Wie sollen sie Neugierde und Interesse entwickeln, wenn ihnen alles mundgerecht serviert wird? Dann wird nur konsumiert, aber hängen bleibt davon nicht viel.
Ein viertel Jahr mit Klopapier
Quatsch. Das war nur ein Blitzlicht des ersten Tages. Wobei Klopapier noch für mancherlei Verwendung fand:smile:. Es geht ums Prinzip: Die Kinder entdecken ein Problem und suchen eine Lösung. Die wird ihnen nicht - Tata! - wie gewohnt von der Erzieherin geliefert, sondern sie suchen eigenmotiviert und selbstständig nach ihr. Der Job der Erzieherin ist es, sie dabei zu unterstützen. Im genannten Beispiel wäre es fatal, die Klopapier-Testreihe nicht zuzulassen. Genau das ist nämlich der Weg, wie Kinder lernen.
Dreijärhrige mit fast sechsjährigen ohnem Eingreifen kommunizieren und agieren lassen?
Warum nicht? Man muss Kindern was zutrauen. Natürlich begleitet man die Kinder dabei. Aber anstatt einem 3-Jährigen, der sich beschwert, dass ein 6-Jähriger ihm den Stuhl weggenommen hat, die Arbeit abzunehmen und den 6-Jährigen zu rügen, macht es viel mehr Sinn, den 3-Jährigen zu ermutigen, dem Großen zu sagen, dass er ihm bitte seinen Stuhl wiedergeben soll. Man beobachtet das aus dem Hintergrund und wenn der 3-Jährige keinen Erfolg hat, begleitet man ihn beim nächsten Versuch und ermutigt ihn, nochmal seinen Stuhl zurückzufordern. Dabei ist es nicht nötig, den 6-Jährigen zu ermahnen, der hat das auch so begriffen - und der 3-Jährige hat nicht gelernt, dass Petzen dazu führt, dass andere Ärger kriegen. Und: Es gehört auch dazu, zu akzeptieren, dass andere Kinder manchmal stärker sind als man selbst und man eben manchmal zurückstecken muss.
Fehlt nur noch, dass Strom und Heizung abgeschaltet werden.
Den Zusammenhang kann ich nicht erkennen. Es geht nicht um Entzug. Es geht im Gewinn
.
Mir wäre dieser Kindergarten ein Graus, genau wie jede Frühförderung, die du als Gegenpol anprangerst.
Ich vermute, wenn du es erleben würdest, würdest du anders denken. Ich muss aber fairerweise auch sagen, dass auch dieses Konzept nur so gut ist, wie die Erzieherinnen, die es umsetzen. Und deren erste und vielleicht wichtigste Aufgabe wäre, die Eltern ins Boot zu holen. Nur wenn sie die Eltern überzeugen können, haben sie auch ausreichend den Rücken frei, um die Früchte zu ernten.
Schöne Grüße,
Jule