Deine Beispiele hinken, lieber Branden, zum Chinesische Mauer betrachten bedarf es keiner kognitiven Prozesse. Ich muss keinen inneren Sichtwechsel vollziehen, um die Mauer zu interpretieren, auch nicht, um notenfrei zu musizieren.
Beispiele heranzuziehen ist aber eine gute Idee, die ich nun auch nutze:
Wenn eine bestimmte Struktur/Sichtweise in eine Gesellschaft eingeführt wurde, bevor Du geboren warst, wächst Du automatisch in dem Glauben auf, diese Sichtweise sei richtig und stimmig, als Beweis reicht dem Hirn die Tatsache, daß es ja allen so zu gehen scheint und die Masse der Menschen die Dinge ebenso sieht wie Du.
Wärest Du geboren worden, als die Menschen dachten, die Erde sei eine Scheibe, dann wäre das aller Wahrscheinlichkeit nach auch Deine Sichtweise gewesen. Und dann kam ein Typ daher, der doch tatsächlich beweisen konnte, daß die Erde eine Kugel ist etc. . Um dies zu verstehen, bedingte es einen Wechsel der Sichtweise, denn erst damit konnte 'das Phänomen‘ (!) nachvollzogen und erfaßt werden.
Du weißt, wie vehemment das neue Weltbild zunächst abgestritten und die alte Weltsicht verteidigt wurde. Schaust Du nun auf die gesellschaftlichen Gründe für diese vehemmente Weigerung, wird klar, daß es nicht vorwiegend um Tatsachenklärung, sondern um Machtstrukturen ging; bestimmte Bevölkerungsgruppen hatten ein Interesse daran die alte Sichtweise zu behalten. Hierbei halfen ihnen u.a. zweierlei Dinge. 1) die Neigung, die für viele Menschen gilt: Lieber werden Tatsachen für die eigene Glaubensstruktur zurechtgebogen (bend the facts to fit the faith) als daß die eigene Glaubensstruktur sich den Tatsachen anpaßt (bend the faith to fit the facts). 2) die eigenen Augen, ein zuverlässiges, herkömmliches Beweismittel, teil(t)en mit: bis zum Horizont, alles gerade und platt, nicht rund, kein Zweifel!
Anderes Beispiel:
Wenn Du bspw. von Geburt an eine rosa Brille auf der Nase hast, kannst Du nicht beurteilen, was rosa ist, denn Du hast keinen Vergleich und kannst daher die Färbung weder benennen noch erkennen. (Wir erkennen nur, was wir kennen!).Wenn Du mit dieser Brille auf der Suche nach Gelb bist, dann ist das müßig, Du wirst es nicht finden.
Wenn ich mir nun klar mache, daß auch ich eine rosa Brille tragen könnte, komme ich erstmals auf den Gedanken, sie abzunehmen. Das Wissen um den eigenen (indoktrinierten) verzerrten Blick (bis hin zur Blindheit) ist der einzige Vorteil, den ich habe, will ich neues entdecken und sollte in Fragestellungen wie Deiner stets mit eingebunden werden, ansonsten bleibt das Forschertum eine Farce.
Und so wie Gallilei damals seine rosa Brille abnahm, tun das nun Zeitgenossen von uns und decken Faktoren und Strukturen auf (und zwar ebenso kompetent, beleg- und beweisbar wie Herr G. dies einst tat) die bislang als feste Größen etabliert und als Gipfel der Erkenntnis fungiert haben, tatsächlich aber behindernd wirken und den Blick versperren.
Und deshalb rufe ich: Brille ab! Und jetzt nicht damit kommen, daß Du den achten Bund in Barrée nicht ohne triffst, das zieht bei mir nicht!
Hugh!