Hallo!
Vorab: Ich bin selbst Linguist, erforsche kleine aussterbende Sprachen, und bin natürlich auch der Meinung, dass es traurig ist, wenn Sprachen aussterben.
Das kümmert mich ja gar nicht. Ich finde es nur höchst
überflüssig, wenn sich -wie in dem ZEIT-Artikel- einige wenige
Linguisten große Sorgen darum machen, dass es bald statt 6500
Sprachen nur noch etwa die Hälfte geben wird.
Nicht einige wenige Linguisten. Ungefähr alle Linguisten und dazu noch die vielen Leute, die sich ob der Sprachvielfalt in der Welt freuen oder denen kulturelle Vielfalt lieber ist als Einheitsbrei. Ich denke, du bist da eher die Ausnahme. Klar ist es praktisch, wenn die Ladenbesitzer auf Malle oder in Thailand auch Deutsch oder Englisch können, aber auch in Vielfalt liegt der Reiz.
Du isst vielleicht gerne Italienisch und Chinesisch, ab und zu vielleicht auch Indisch. Das sind auch Teile der Kultur verschiedener Länder. Ein komischer Vergleich, aber stell dir vor, die italienische, chinesische und indische Küche stirbt aus, alle „Küchen“ sterben aus, bis auf die deutsche. Nun ja… deutsches Essen ist auch lecker, überleben tut man damit allemal. Und wenn du nun in anderen Ländern Kassler oder Frankfurter bestellst, weißt du, was du bekommst und wirst nicht negativ überrascht.
Wäre aber sehr eintönig, oder? Ich für meinen Teil esse sehr gerne Chinesisch und Thailändisch, und auch gerne Italienisch und Griechisch. Indisch nicht so gerne, aber ich freue mich, dass es auch das zur Auswahl gibt. Dass das existiert.
Und so sind auch Sprachen ein Teil der Kultur. Du magst sie als Verständigungshindernis sehen, aber vielleich sollte man sie eher als Tor, denn als Mauer betrachten. Okay, das war die Sicht aus deutscher Perspektive…
Aber hältst Du es nicht auch für ein klitzekleinwenig
größenwahnsinnig, aufgrund Deiner persönlichen schlechten
Erfahrungen pauschal „Tod den Sprachen“ zu fordern?
Das eben mache ich ja gerade nicht. Meine persönlichen
Erfahrungen haben mit dieser meiner Beurteilung herzlich wenig
zu tun. Ich hatte mit Fremdsprachen wenig Probleme und finde
einige ausgesprochen schön. Es geht wiegesagt um die
Riesenanzahl der Sprachen dieser Erde.
Okay, du fändest es also vllt. traurig, wenn Französisch oder Italienisch oder Chinesisch ausstürben, weil diese doch so schön klingen (nur als Beispiel), dir wäre aber egal, wenn auf Vanuatu eine Sprache ausstirbt, deren Namen du nicht mal aussprechen kannst.
Nagut. Das ist schon verständlich. Mit Vanuatu hast du auch nichts am Hut. Sicher wäre es dir auch egal, wenn eine bestimmte Känguruart ausstirbt oder wenn in Brasilien wieder 47.000 ha Regenwald abgeholzt wurden oder wenn ein Dorf in Kamerun an Cholera erkrankt und die Hälfte dadurch umkommt. Diese Dinge haben ja keinen Einfluss auf dein Leben.
Aber auf das Leben anderer eben schon. Sprachen sind nicht nur Kommunikationsmittel, sondern auch Kulturgüter und fast der wichtigste Indikator für die Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer Kultur. Versetz dich mal in die Lage derer, die eher mit aussterbenden, kleinen Sprachen zu tun haben, überleg mal, wie das für diejenigen ist.
Da sind zuerst die Sprecher. Diese stellen fest, dass kaum noch jemand ihre Sprache spricht, außer ein paar älteren Leuten, die Kinder sprechen alle die große Landessprache (sagen wir mal Englisch), aber nur noch einige wenige können die alte Stammessprache noch (sagen wir mal Lakota). Als Zugehöriger des Lakotastammes geht da also eines der wichtigsten kulturellen Eigenschaften verloren, vielleicht eine der letzten… alles andere ist schon amerikanisiert, verwestlicht. Das macht vieles zwar einfacher, aber die eigene Identität geht dabei flöten. Man weiß, in 10~20 Jahren sind die ganzen alten Leute tot, und dann gibt es keinen Menschen mehr auf der Welt, der deine Muttersprache noch fließend spricht. Stell dir das mal vor! Ich weiß nicht, vllt. kann man das sich nicht gut vorstellen, wenn man so eine große Sprache wie Deutsch spricht und sicher der eigenen Kultur nicht so bewusst ist. Stell dir vor, man will dein Heimatdorf wegbaggern. Vielleicht fändest du da traurig.
Es wäre dir vielleicht egal, wenn in Brasilien ein kleines Dörflein weggebaggert werden muss, aber für die Einwohner ist sowas schlimm.
Außerdem sind da die Linguisten: Linguistik dient nicht nur dem Selbstzweck, man forscht nicht nur um geforscht zu haben, sondern um Erkenntnisse zu gewinnen. Das Erforschen kleiner Sprachen nützt uns Wissenschaftlern, das Phänomen Sprache als ganzes besser zu verstehen. Wir erforschen nicht nur, wie bestimmte Sprachen funktionieren, sondern auch, wie Sprache als ganzes funktioniert. Und gerade in den vielen winzigen Sprachen der Welt gibt es krasse Phänomene, die man aus den hiesigen Sprachen Europas oder aus dem Chinesischen und Japanischen (über die man vllt. mal gelesen hat) nicht kennt: dort gibt es z.T. keine Zahlensysteme, z.T. muss man am Verb markieren ob man etwas selbst erlebt hat oder nur vom Hörensagen weiß, z.T. ist die Reihenfolge der Prä- und Suffixe völlig willkürlich, z.T. sprechen Frauen anders als Männer (richtig anders!), z.T. gibt es keine Zeitformen, und und und… das sind alles wissenschaftliche Daten. Für Wissenschaftler also sehr wichtig… aber das stimmt schon, als Nichtwissenschaftler oder Nichtsprachenfan geht das einen nicht viel an. Das kann ich verstehen.
Aber was vllt. nachvollziehbarer ist, ist Geschichte: Durch das Erforschen *aller* Sprachen der Welt können wir vergleichen und Verwandtschaften zwischen Sprachen feststellen. Wir können sehen, dass eine Sprache in Südafrika mit einer anderen Sprache in Kamerun verwandt ist und sehen so, welche Sprachfamilien wie verbreitet sind. Auf Madagaskar spricht man Malagasy, eine Sprache die mit den austronesischen Sprachen auf Indonesien, Hawaii, den Philippinen, Osterinseln, Neuseeland, Mikronesien und Vanuatu usw. verwandt ist. Daraus können wir schließen, dass einst Seefahrer von Indonesien nach Madagaskar ausgewandert sind. Und wenn man weiter guckt, kann man sehen, dass man auch auf Taiwan solche Sprachen spricht… mit etwas weiterer (und komplizierterer) Forschung lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen, dass all diese Inseln, die ich grad genannt hatte, ursprünglich von Taiwan aus besiedelt wurden. Die ganzen Menschengruppen in diesen Ländern und Inseln stammen also historisch gesehen von Seefahrern auf Taiwan (bzw. Formosa). Und genau diese Sprachen in Taiwan sind fast alle vom Aussterben bedroht. Praktisch alle sprechen dort heute Chinesisch. Man mag da vielleicht mit „Aha, okay. Na und?“ antworten, weil das einen in Deutschland oder Italien nicht weiterbringt, aber es ist wichtiges Wissen.
Wären diese Sprachen auf Taiwan heute alle tot (und dazu fehlt nicht viel), könnten wir diese Feststellung nicht mehr machen und wüssten heute nicht, woher die ganzen Insulaner ursprünglich kamen. Gut, ja, es gibt noch die Genetik, die vielleicht dasselbe Resultat zeigt, aber oftmals sind diese Ergebnisse anders. Durch einen Vergleich von Genetik und Linguistik kann man dann interessanterweise sehen, wie eine Sprache sich verbreitet hat: durch Völkerwanderung oder durch Eroberung.
Ist das nicht spannend? Also ich finde das wahnsinnig interessant und deshalb arbeite ich auch auf diesem Gebiet. Ich hoffe, du kannst jetzt besser verstehen, wieso Linguisten aussterbenden Sprachen nachweinen… einerseits aus Mitleid um das Volk, dem ein wichtiges Kulturgut abhanden kommt, und die so ein großes Stück mehr in die größere Kulturgruppe assimiliert werden, zum anderen aber eben deswegen, weil damit vielleicht wichtige potentielle Erkenntnisse verschwinden. Wer weiß, was man da tolles entdeckt hätte, wenn diese Sprache noch leben würde!
Ich wiederhole: Ich habe persönlich überhaupt nichts davon, ob
da nun 6500 oder 3250 Sprachen existieren.
Das mag sein, persönlich hast du nichts davon. Deswegen kann ich das auch voll verstehen, wenn du zur Rettung von Minderheitensprachen nichts beitragen möchtest.
Nur musst du verstehen, dass es jede Menge Leute gibt, die vom Sprachensterben direkt aus erster Hand betroffen sind: nämlich die Sprecher dieser Sprachen oder deren Nachfahren, die nur noch Englisch oder Portugiesisch oder Russisch können, und nicht mehr Lakota oder Pirahã oder Tsesisch. Nur als Beispiel. Und an zweiter Stelle eben die Wissenschaftler, die wichtige Erkenntnisse hätten gewinnen können. Dazu kann man auch die Anthropologen zählen, und Leute, die sich mit Medizin von diesen Völkern beschäftigen: mit der Sprache geht nämlich oft auch das Wissen um solche Dinge verloren… Rituale können nicht mehr durchgeführt werden, das Wissen um Heilpflanzen wird nicht mehr weitergegeben… und irgendwann sind diese ehemaligen Ureinwohner maximal noch an ihrem dunkleren Teint von „echten“ Amerikanern/Brasilianern/Russen zu unterscheiden.
Wenn auch das dir egal sein mag, versteh bitte, dass es Leute gibt, für die sowas sehr wichtig ist.
Viele liebe Grüße,
P.S.: Bloße Zahlen wir 6500 oder 3250 sind sehr abstrakt, man kann sich da wenig drunter vorstellen. Vielleicht findest du es interessanter, wenn du ein paar Namen siehst von Sprachen, die in den letzten Jahren oder Jahrzehnten ausgestorben sind. Ich habe irgendwann mal auf Wikipedia so eine Liste erstellt und dann immer erweitert: List of languages by time of extinction — und mit Erschrecken stelle ich gerade fest, dass erst dieses Jahr anscheinend auch die letzte Sprecherin des Livischen gestorben ist. Außerdem auch Kulon-Pazeh auf Taiwan, das ich weiter oben eigentlich erwähnen wollte, weil es eine Sprache mit nur noch einer Sprecherin ist, die ihre Muttersprache mit niemandem mehr reden kann (außer ins Mikrofon diverser Sprachwissenschaftler), sonst musste sie mit allen Chinesisch reden, was eben nicht ihre Muttersprache war.