Hi, Spiff,
das Thema „Religion“ betrachte ich sehr differenziert:
Dem Wortsinn nach steht " religari" für " zurückbinden". Vereinfacht nenne ich es: Sich mit etwas Übergeordnetem verbunden fühlen. Oder anders: Sich als Teil eines „größeren Ganzen“ fühlen (so wie sich am besten jede einzelne Körperzelle als Teil des Menschen „FatzManiac“ fühlen sollte - andernfalls könnte sie auf die Idee kommen, „ihr eigenes Ding durchzuziehen“. Was dann gern entsteht, nennt die Medizin „Tumor“. Nur selten fühlen sich Tumor und Wirtskörper lange miteinander wohl und glücklich.
In dem Sinn halte ich das Sich-eingebunden-fühlen (und sich auch so verhalten) als die erfolgreichere Überlebensstrategie für Zelle und Wirt - oder übertragen: für Mensch und Universum. Aber dieses „Religari“ muss aus dem eigenen Inneren kommen, in der eigenen Innenwelt erlebt und gefühlt werden (Imaginationen/Fantasien/Träume und andere „Manifestationen des Unbewussten“). Ohne ein Sich-eingebunden-fühlen in ein größeres Ganzes geht vielen Menschen der Lebenssinn verloren. Eher wenige kommen damit zurecht, sich „an den kleinen Dingen des Alltags zu erfreuen und es dabei zu belassen“.
Also: Religari = Ja
Leider haben sich zu allen Zeiten machtorientierte Menschen dieses Bedürfnisses bedient und Religionen bzw. Glaubenssysteme erschaffen, um anderen Menschen Schuld und Sünde aufzuoktroyieren, ihnen zu sagen, was „gut“ und was „böse“ ist und warum sie sich mit viieel Geld von ihren Sünden loskaufen können. Das ist bei den Weltreligionen im Großen nicht anders, als bei den Sekten im kleineren Maßstab. Eine solche - von außen aufgeschwätzte Religion - nützt einigen Wenigen, die sich daran unermesslich bereichern, aber es schadet dem Gros der Menschen.
Daher: „Religion“, die von Kirchen, Sekten, Esoterikern und dergleichen „verordnet“ wird und mit Denk- und Handlungsverboten, mit Tabus und Schweigezwang vergesellschaftet ist, stiftet weltweit seit Urzeiten mehr Schaden als Nutzen - für die Allgemeinheit.
Man muss schon sehr genau hinschauen. Du hast Recht: Wenn ich von einem " universalen Unbewussten" spreche, löst das zwangsläufig in vielen den Gedanken an „Gottähnliches“ aus. Zwangsläufig, weil m. E. dieses „uns alle enthaltende Unbewusste“ tatsächlich die Geburtsstätte für alle Gottesideen und -Vorstellungen ist.
Übrigens habe ich ein Vierteljahrhundert einfach die Jungsche Bezeichnung " kollektives Unbewusstes" (im Unterschied zum „persönlichen Unbewussten“) verwendet. Heute mache ich das nicht mehr, weil der Begriff „kollektiv“ bereits andere Assoziationen auslöst und weil das kollektive Unbewusste auch im Kreis derer, die Jungsche Psychologie zur Basis ihres therapeutischen Handelns gemacht haben, sehr unterschiedlich interpretiert wird.
Ich versuche meine Vorstellung möglichst kurz zu skizzieren:
Im Gegensatz zu den Freudschen Ideen (das Unbewusste ist der Mülleimer des Bewussten - und damit das Sekundäre) gehe vom völligen Gegenteil aus.
Das bewusste Ich (im Individuum) entstand ganz zum Schluss in der Menschheitsentwicklung. Das Unbewusste aber ist raumzeitlos, war, ist und wird daher immer (schon) sein. Dieses Immaterielle ist die Matrix alles dessen, was wir heute kennen - und vermutlich noch sehr viel mehr. Es ist also das Primäre und äußerst kreativ - nur leider unbewusst. [… große Auslassung…]
Auch wir Menschen waren vermutlich lange Zeit durchweg genau so unbewusst. Aber in dem Maß, indem die Evolution uns mit Bewusstsein ausstattete und wir dieses nach und nach nutzten, waren auch wir selbst es, die das jeweils individuelle „persönliche Unbewusste“ erschufen, indem wir einen großen Teil unserer natürlichen unbewussten Möglichkeiten einfach nicht mitleben lassen wollten = „verdrängten“.
Aber - so wie die Zig oder Zundert Billionen Körperzellen - ein und denselben Menschen bilden, sind wir Menschen (und was da sonst noch kreucht und fleucht) vergleichbar mit den „Zellen des Unbewussten“. Und da es m. E. nur ein einziges Unbewusstes gibt, nenne ich es „universales Unbewusstes“. Nur unsere Ichs und unsere ichverantworteten verdrängten unbewussten Inhalte sind individuell verschieden.
Eigentlich sollte der Unterschied zwischen „universalem Unbewusstem“ und „Gott“ schon langsam deutlich geworden sein: „Gott“ wurde uns immer schon als „das ganz Andere“ und als etwas verkauft, das nicht nur außerhalb von uns, sondern auch unerreichbar weit „über uns“ steht und alles in der Hand hält.
Wenn sich ein Mensch aber als Teil des universalen Unbewussten versteht, dann ist dieses „Göttliche“ nicht mehr außerhalb von ihm und auch nicht ihm überlegen. Ganz im Gegenteil: Es bedarf des einzelnen menschlichen Ichs mindestens ebenso sehr, wie umgekehrt. (Sorry, mir gefällt der Begriff „göttlich“ auch gar nicht. Lieber unterschiede ich zwischen der Ebene in uns, in der wir alle individuell sind und der umfassenden Ebene in uns, in der wir alle Eines sind, das sich lediglich ständig im Phasenübergrang von mehr zu weniger Komplexität und umgekehrt bewegt. „Da ist kein Gott außer uns.“ Wir sind die Verantwortlichen für diese Welt.
Oder um noch einmal C. G. Jung zu bemühen: „Wir sind die Macher und die Erleider dieser Welt.“
Ich komme sehr gut mit der Idee zurecht, dass ich (und alle anderen) die mehr oder weniger bewussten Helfershelfer des (universalen) Unbewussten sind. Helfershelfer bei seinem Projekt, sich seiner selbst (also des ganzen Universums) bewusst zu werden.
Hehe, das erinnert mich an die weißen Mäuse und Magrathea in
„Per Anhalter durch die Galaxis“.
Du suchst jetzt ja doch nach einem Sinn und erhebst den
Menschen zu etwas Besonderem.
Sagen wir „zu etwas relativ Besonderem“. Wobei die Hauptbesonderheit die Fähigkeit zu reflektierendem Bewusstsein ist, die - unseres Kenntnisstandes nach - sonst kein organisches und anorganisches Etwas in diesem Universum zu haben scheint.
Na ja - und diese kleine Besonderheit hat doch auch etwas Nützliches: Wenn wir ihrer bewusst sind, können wir uns sagen, dass wir eben doch kein „lusus naturae“ sind, sondern einen Sinn, eine Aufgabe (Bewusstheit schaffen) haben. So ein Lebenssinn (in Form einer Lebensaufgabe) ist nicht zu unterschätzen: Er beseitigt den „Verdacht der Sinnlosigkeit des Seins“. Und das wiederum ist gut gegen Depressionen (zum Beispiel).
Temporär sicher sehr hilfreich. Wir können uns glücklich
schätzen, diese Möglichkeiten zu haben. Aber auf Dauer: Das
hieße, dass wir ständig irgendwas schlucken müssten. Unser
Glück wäre ständig von Äußerem abhängig; wir müssten uns eine
Pille einwerfen, ein Bier trinken, ins Kino gehen, eine
immerwährende Party feiern, einen anderen Menschen anbinden,
heiraten, einsperren, …
Nicht dass man die Welt mit all ihren schönen Erlebnissen
nicht genießen sollte, aber wir sollten unser Glück nicht auf
Vergänglichem aufbauen. Sehr fragil das Ganze!
Mit diesem Gedanken hast Du meine ungeteilte Zustimmung!
Aber was ist denn so schlimm daran, ein Leben lang von Äußerem abhängig zu sein? Wer hat uns eingeredet, dass das nicht okay sei? Wir SIND doch permanent abhängig!
Wir brauchen Luft zum Atmen, die wir nicht selbst machen, Nahrung, körperliche und seelische Nähe (um nicht an entsprechendem Mangel zu erkranken), wir brauchen mindestens eine (möglichst sinnvolle) Aufgabe; am besten, wenn sie uns sowohl befriedigen als auch wirtschaftlich über die Runden bringen kann.
Wir sind von allen möglichen anderen Menschen abhängig und vielem mehr, das hier die Grenzen sprengen würde. Also ich finde es nicht schlimm und bekenne:
Ich bin ein Abhängiger! (Allein würde ich eingehen, wie eine Primel).
Und ja! Ich bin überzeugt, dass die ganze Welt und all unsere Errungenschaften äußerst fragil sind. Bloß gut, dass sich nicht so viele Menschen bewusst machen, dass wir einen „Tanz auf dem (virtuellen) Vulkan tanzen“. (Also die Fähigkeit zur „Verdrängung“, wie überhaupt zur „seelischen Abwehr“ ist nicht grundsätzlich etwas Schlechtes.)
Um auf die Antidepressiva zurückzukommen: Wenn es denn sein müsste (und ich mein Transmitter-Ungleichgewicht nicht anders ausbalancieren könnte) wäre ich bereit, bis zu meinem Lebensende ein Antidepressivum einzunehmen. Ich bin doch auch bereit, bis zum Lebensende Luft einzuatmen, zu essen, zu trinken etc. Ich sehe da keinen besonders großen Unterschied.
Diskutieren wir nicht gerade ganz urphilosophische Fragen? Ich
verstehe eigentlich nicht recht, welchen Konflikt Du mit den
großen Denkern hast.
Ja, das tun wir. Aber mir wäre lieber die Praxis als die Theorie. Mein Konflikt rührt daher, dass all diese Denker den Krieg, die Gewalt, das Machtstreben und die Gier nicht mal ansatzweise beseitigen konnten. Das halte ich für ein umfassendes Armutszeugnis. Wozu braucht ein Universum „vernunftbegabte Menschen“, wenn diese ihre Vernunft nicht nutzen?
Zum Beispiel würden wir doch irre werden, wenn uns jemand plötzlich nach
Indien beamen würde. Wir würden es einfach nicht verstehen.
Indien ist zugegeben ein sehr schlechtes Beispiel - insbesondere, wenn es sich um eine attraktive weibliche Person handelte - so wie die indischen Männer mit Frauen umgehen … )
Was das Verstehen angeht, glaube ich, dass wir uns damit sehr gut arrangieren können: Was (wie viel von allem) verstehen wir denn schon?
Einfach nur sein Leben leben ist das Recht eines Jeden, aber
ich halte das für mich als zu wenig. Das wäre für mich ein
reines Konsumieren. Ich möchte Sinnvolles bewirken und meinen
Geist weiterentwickeln, freier werden und anderen Freiheiten
aufzeigen. Meine Möglichkeiten sind noch beschränkt, aber ich
versuche sie täglich zu erweitern.
Das verstehe ich, denn mir geht’s da ja nicht anders. Aber gerade deshalb beneide ich die wenigen schlichten Menschen, die das, was das Leben ihnen gerade so zuspielt, einfach annehmen und leben können - ohne Zaudern und Zagen. Leider war mir diese Fähigkeit auch nicht vergönnt. Aber ich kenne einige (meist Frauen), die sich an den kleinen alltäglichen Dingen erfreuen und keine Ambitionen zu Größerem haben. Manchmal frage ich mich, warum ich das nicht auch kann …
LG, Fatz