Prähistorischer Schamanismus und Urmutterkult
(Habe erst gestern wieder in das Brett reingeschaut)
Hi.
Frage also: Ist eine derartige Vorstellung zum Übergang vom Schamanismus zur Religion wissenschaftlich haltbar oder bleibt es eine nicht nachweisbare Behauptung?
Kate trägt in ihrem mehr emotional als wissenschaftlich geschriebenen Artikel kaum zur Klärung des Verhältnisses von Schamanismus und Religion bei.
Relevant ist für deine Fragestellung vor allem die Rolle des Schamanismus in der prähistorischen Religion. Mir geht es hier darum, den inneren Zusammenhang von Schamanismus und Religionsentstehung zum Ausdruck zu bringen. Schamanismus ist - und in diesem Punkt hat Kate eine richtige Feststellung gemacht - keine Religion, sondern eine Praxis im Rahmen einer Religion. Im Fall der prähistorischen Religion bildet, wie ich unten ausführen werde, die Urmutter-Verehrung den religiösen Rahmen.
Zunächst zu den wichtigsten Charakteristika des Schamanismus:
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Ekstase = ein Altered-State-of-Conciousness mit (zumindest subjektiver) Out-of-Body-Experience = Seelenflug
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methodischer Einsatz von Gesang, Trommeln, Tanzen und psychoaktiven Drogen, um den ASC kontrolliert herbeizuführen
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(zumindest subjektive) Fähigkeit der Krankenheitsdiagnose
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(zumindest subjektive) Kontakte zu übernatürlichen Wesenheiten
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(zumindest subjektive) initiatorische Erfahrung von Tod und Wiedergeburt
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Krankheitsanfälle aufgrund (zumindest subjektiv erfahrener) Angriffe durch ´böse Geister´
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(zumindest subjektive) Beziehungen zu Geistern von Tieren sowie die Fähigkeit, sich in ein Tier zu verwandeln
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charismatische Führerschaft in einer Gruppe
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Zur Geschichte:
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Ca. 300.000 bis ca. 150.000: die altpaläolitische Proto-Religion mit ihrem Akzent auf ekstatischen Ritualen und sozialer Bindung
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ca. 150.000 bis ca. 35.000: eine Übergangsform, die den bereits bestehenden Merkmalen das schamanistische Heilritual hinzufügt
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ab ca. 35.000: die jungpaläolithische Religion, welche zusätzlich Höhlenkunst, komplexere Formen des Begräbnisses und, nebst anderen Artefakten, die Produktion von sog. Venus-Figurinen einschließt.
Zu 1)
Elementare religiöse Verhaltensformen (Rituale) gehören zum Repertoire menschlicher Instinkte. Sie fördern ursprünglich, als vertrauensbildende Maßnahmen, die Herausbildung oder Stabilität einer Gemeinschaft. Analoge Beispiele sind Schimpansen und Bonobos, deren Gruppen sich für die Futtersuche aufteilen und beim Wiederzusammentreffen ritualisierte Verhaltensweisen wie Umarmen, Küssen und rhythmisches Schreien veranstalten. Begegnen sich zwei Gruppen von Bonobos, kann wechselseitige sexuelle Stimulation das Teilen von Nahrung begünstigen. Die Lustgefühle resultieren aus der Produktion körpereigener Drogen. Da Schimpansen und Bonobos zu 99,4 Prozent die gleichen Gene haben wie Menschen, kann man aus ihrem Verhalten Schlüsse auf das Verhalten der Prä-Paläolithiker ziehen.
Zu 2)
Die eigentliche Religiosität beginnt mit dem Bewusstwerden des Übernatürlichen. Dieses markiert den Beginn des Schamanismus, der hauptsächlich als Methode zu definieren ist, durch veränderte Bewusstseinszustände mit einer geistigen Welt in Kontakt zu treten, um das Wohl der eigenen Gruppe fördern. Die zu diesem Zweck angestrebten ekstatischen Zustände werden durch durch rhythmisches Tanzen, Gesang, nervenbelastende Initiationen und die Einnahme psychoaktiver Drogen ausgelöst.
Unter dem Aspekt des ´rituellen Heilens´ scheint die schamanistische Praxis des Homo sapiens einen evolutionären Vorteil gehabt zu haben. Zwei Studien von J. McClenon zeigen, dass schamanismuspraktizierende Gruppen einen evolutionären Vorteil gegenüber Gruppen ohne Schamanismus hatten, weil sie besser imstande waren, Krankheitskrisen, emotionalen Aufruhr und den Stress des Kindergebärens zu bewältigen.
Einen konzeptuellen Überbau der übernatürlich orientierten Praxis gab es zunächst nicht. Vermutlich reichten einfache Begriffe für die Kommunikation zwischen Schamane und Patient aus. Im Zentrum stand ganz pragmatisch das Ritual, durch welches die Kräfte der übernatürlichen Welt für die sichtbare Welt nutzbar gemacht wurden. Ein ausgearbeitetes theoretisches Konzept war dafür nicht erforderlich.
Zu 3)
Die konventionelle Religionswissenschaft ging bisher davon aus, dass das prähistorische Schamanentum eine Domäne der Männer war. Eine Untersuchung von Prof. Dean R. Snow aus dem Jahr 2013 hat allerdings ergeben, dass die Handabdrücke in diversen Kulthöhlen, die als ´Signaturen´ von Felsmalereien anzusehen sind, in der Überzahl ein weibliches Gender aufweisen. Die Hypothese liegt also nahe, dass schamanistische Praxis über Jahrzehntausende vorwiegend eine Angelegenheit der Frauen war. Laut Fachwissenschaftlern wie M. Winkelman und D. Lewis-Williams ist Höhlenkunst ein Produkt ekstatischer schamanischer Zustände und geschah oft im Zusammenhang mit Initiationen. Dafür sprechen auch die Orte mancher Zeichnungen, die in engen Stollen liegen und nur in unbequemer Körperhaltung erreicht werden können.
Die weibliche Dominanz im paläolithischen Schamanentum harmoniert mit der in der Religionswissenschaft nicht unumstrittenen These von der Urmutter-zentrierten paläolithischen Religiosität. Hier ist nicht der Ort, das Für und Wider dieser These zu diskutieren, ich begnüge mich mit dem Statement, dass die für die ´Urmutter´-Verehrung sprechenden Indizien ein größeres argumentatives Gewicht haben als alle dagegen angeführten skeptischen Argumente.
Die Paläolithiker dachten analogisch: Ähnlich wie der menschliche Mutterschoß bringt auch die Erde Leben zyklisch hervor, also imaginierte man sie als einen alles gebärenden Mutterschoß, in den das Leben sterbend zurückkehrt, um in neuer Gestalt wiederzuerstehen, und übertrug diese Vorstellung auf die Kulthöhle, die somit den Mutterleib und die ´Mutter Erde´ repräsentiert. Noch viele Jahrtausende später wird man in Ägypten das Sterben als Rückkehr in den Schoß der göttlichen Urmutter Nut (= Vulva) ansehen, deren Bild die Deckel vieler Särge zierte. Vermutlich galt die paläolithische Urmutter auch als Ur-Ahnin aller menschlichen Mütter, d.h. alle matrilinearen Generationen gingen aus ihr hervor.
Stilistisch ungewöhnlich, aber vom Sinn her charakteristisch für das paläolithische Denken präsentiert sich der Eingang der Höhle von La Magdeleine in Frankreich: Hier säumen zwei Frauenreliefs mit besonders betontem Schamdreieck den Eingang. Ihre Bedeutung lag vermutlich darin, den Besuchern der Höhle zu signalisieren, dass sie den weiblichen Schoß der Erde betreten, den Ort der Wiedergeburt von Tieren und Menschen im Rahmen des kosmischen Erneuerungskreislaufs. Im Innern vieler Höhlen finden sich Vulva-Zeichen verschiedener Art, die in der Höhle von zentraler Bedeutung sind. In El Castillo sind an den Wänden vier leuchtend rot gemalte Vulven zu sehen, neben die ein schwarzer Pfeil (ein Todeszeichen) gezeichnet wurde, was zusammengenommen als Symbolisierung von Tod und Wiedergeburt gedeutet werden kann. In Bedeilhac ist eine Vulva sehr naturgetreu im Lehmboden dargestellt, sie steht ´offen´ und zeigt die Klitoris. Die Beispiele ließen sich lange fortsetzen. Zu beachten ist, dass es sich dabei nicht um Sexual-, sondern um Regenerationssymbole handelt.
Die Rituale in diesen Kulthöhlen wurden, wie schon oben erwähnt, mehrheitlich vermutlich von Schamaninnen durchgeführt. Insofern der Schamanismus also eine ursprünglich weiblich dominierte Praxis war, ist diese Praxis als integraler Bestandteil der Urmutter-Religion anzusehen.
Einen weiteren Hinweis auf die zentrale Stellung des Weiblichen in der paläolithischen Religion liefern die zahlreichen Frauenfigurinen (oft mit betonter Vulva), die in einem Gebiet gefunden wurden, das vom Atlantik bis nach Sibirien reicht. Die meisten stammen aus der Zeit des Gravettien (29.000-22.000 vuZ).
Dass das Paläolithikum kein männliches Pendant zur ´Muttergöttin´ kannte, ist nur aus der Unkenntnis der Vaterschaft erklärbar. Aus demselben Grund hinterließ diese Ära auch keine fruchtbarkeitssymbolischen Darstellungen des Phallus. Das änderte sich nach der Einführung der Viezucht ab etwa 10.000 vuZ. Die ältesten bekannten Darstellungen eines menschlichen Sexualaktes stammen aus dem späten 9. Jahrtausend vuZ, der Frühphase des Neolithikums: ein Steinrelief und eine Steinskulptur aus der Natufien-Kultur in Ain Sakhri in Jordanien. Etwa zeitgleich ist die Steinskulptur eines ithyphallischen ´Fruchtbarkeitsgottes´ zu datieren, die man in Göbekli Tepe fand.
Weitere Funde fallen laut Catal-Hüyük-Ausgräber James Mellaart in das 6. Jahrtausend (5.800 vuZ in Tepe Güran, 5.800 vuZ in Sarab, 5.500 vuZ in Tell-es Sawwan und 5.000 vuZ in der Halaf-Kultur). Der Phallus etablierte sich also erst im Neolithikum als sakrales Symbol. Das ist umso erstaunlicher, als das Gegenstück, die sakral überhöhte Vagina, schon seit Jahrzehntausenden die religiöse Ikonographie prägte. Da ihr Fruchtbarkeitsaspekt diese Praxis begründete, kann das Fehlen des symbolischen Phallus nur bedeuten, dass die Vaterschaft bis zur Einführung der Viehzucht unbekannt war.
Im neolithischen Catal Hüyük (um 7000) sind, aus archäologischer Sicht erstmals, Indizien für einen maskulinen Gott erkennbar, der als stiergestaltiger Sohn der Urmutter verehrt wurde. Aus diesem Stiergott entwickelten sich nach und nach die unterschiedlichen Ausformungen männlicher Gottheiten, die zunächst vor allem eines waren: Fruchtbarkeitsgötter. Das lässt sich z.B. am Fruchtbarkeitsgott Enki erkennen, dem am frühesten nachweisbaren Mann-Gott der sumerischen Religion.
Wann und auf welche Weise das Schamanenamt gegenüber dem Amt des weltlichen Führers (mit Priesterfunktion) an Bedeutung verlor, darüber kann im Detail nur spekuliert werden. Vermutlich trat diese Entwicklung nicht vor dem 5. Jt. vuZ ein, als der Übergang zu kriegerisch orientierten Gesellschaften stattfand. Gleichzeitig, aber sehr allmählich nur, begann auch der Übergang von einer von Göttinnen dominierten Religion zu einem Polytheismus mit starken männlichen Anteilen und einem ausdifferenzierten System göttlicher Zuständigkeiten. In Sumer spielte der Schamanismus offiziell keine Rolle mehr, was vor allem daraus hervorgeht, dass im sumerischen Denken die Unsterblichkeit der Seele keine nennenswerte Bedeutung hatte. Manche Mythen, z.B. Inannas Abstieg in die Unterwelt, lassen sich aber als schamanistische Parabeln deuten (so Prof. Walter Burkert). Im Zuge der Ausdifferenzierung des religiösen Denkens und seiner Instrumentalisierung für Herrschaftszwecke kam es in manchen Religionen zu einer Aufspaltung in ´exoterische´ und ´esoterische´ Religiosität (innerhalb einer Religion) – das lässt sich in der Antike z.B. in Ägypten und in Griechenland beobachten, wo Mysterienkulte als Ausdruck einer direkten Verbindung der Eingeweihten zum Übernatürlichen entstanden, eine Verbindung, die in der exoterisch-offiziellen Religion nur dem Herrscher und ggfs. den höchsten Priestern vorbehalten war.
Das Weiterbestehen des Schamanentums bzw. einzelner schamanischer Praktiken inner- und außerhalb der historisch bedeutsamen polytheistischen Religionen ist ein zu weites Gebiet, um an dieser Stelle näher darauf einzugehen.
Chan