Text: Marc Deckert, Matthias Kalle, Timm Klotzek , Fotos: dpa, SZ-Archiv, Illustrationen: smal, paze
Aus jetzt.de ( Suedd.Ztg. Muenchen )
Unser erster Toter.
Vor zwei Wochen wurde Carlo Giuliani bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Genua von einem Polizisten erschossen. Er ist das erste Todesopfer der Anti-Globalisierungsbewegung. Was bedeutet das für uns?
Es ist Freitag, der 20. Juli 2001, kurz vor halb sechs am Abend, als Carlo Giuliani auf der Piazza Gaetano Alimonda mit einem Feuerlöscher auf einen Polizei-Jeep zuläuft. Der Wagen fuhr gerade gegen eine Mülltonne, steckt jetzt fest, zwölf Demonstranten springen auf den Jeep zu, einer wuchtet einen Holzbalken durch das Beifahrerfenster. Carlo Giuliani ist 23 Jahre alt, trägt feste Schuhe, blaue Hose, weißes Unterhemd und eine blaue Motorradmaske. Den Feuerlöscher hält er vor seiner Brust, er steht genau hinter dem Jeep, aus dem der Polizist Marco Placanica, 20, eine Pistole auf ihn richtet. Dann schießt Marco Carlo in den Kopf. Carlo fällt zu Boden, die anderen Demonstranten rennen davon, der Polizei-Jeep setzt zurück, dabei fährt er über Carlo Giuliani, zweimal. Ein paar Minuten später riegeln Polizisten die Stelle ab, wo Carlo liegt, eine Sanitäterin nimmt ihm die Motorradmaske vom blutverschmierten Kopf, der Asphalt färbt sich rot.
Unser erster Toter. Wir lagen am See, als wir zum ersten Mal von ihm hörten, im Radio des Eisverkäufers wurde gesagt, bei den Demonstrationen in Genua sei ein Mensch ums Leben gekommen, dann kam wieder Musik. Später standen wir am Hauptbahnhof, auf den DB-Leinwänden liefen die Fernsehbilder des toten Jungen, und sie erinnerten uns an ein Foto, das ganz ähnlich aussieht. Es ist schwarz-weiß, aus dem Jahr 1967, darauf der sterbende Student Benno Ohnesorg, der eine Polizeikugel in den Kopf bekam, als er, 26 Jahre alt und zum ersten Mal auf einer Demo, gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien protestierte.
Das Einfache an dem Ohnesorg-Bild war, dass es uns nicht überfiel, sondern in vorhersehbaren Momenten auftauchte, in der fünften Schulstunde zum Beispiel, bei Neonlicht und Heizungsluft. Und der jahrzehntelange Abstand machte es uns leicht zu verstehen, was der Student damit auslöste, wie er so dalag, in seinem Blut.
Die Nacht zum 3. Juni 1967 wurde für viele aus der Generation unserer Eltern zu einem wichtigen Datum. Sie dachten damals: „Es hätte jeden von uns erwischen können.“ Und dann begann ein politischer Kampf, der erst zehn Jahre später endete, mit dem Tod der RAF-Terroristen Baader, Ensslin und Raspe.
Die Bilder des toten Carlo Giuliani kamen hingegen plötzlich, und wir können auch jetzt, zwei Wochen danach, noch immer nicht genau sagen, was sie bewirken werden. Als wir am Bahnhof standen, vor den n-tv-Bildern, da fragten wir uns, ob für uns nun auch ein Moment gekommen ist, der unser Leben teilt. In: davor und danach. In: vor Genua und nach Genua. Und weitere Fragen kamen, je öfter die Bilder des rollenden Jeeps liefen, rote Kreise um die bewaffnete Hand des panischen Polizisten gezogen wurden und am unteren Bildrand die Börsenkurse durchliefen. Fragen, die wir uns während der Proteste in Seattle, Prag und Göteborg nie in dem Maße stellen mussten, dass es uns nicht nur beschäftigt, sondern auch berührt hätte. Zum Beispiel: Wofür genau hat Carlo Giuliani gekämpft, bis wir seinen Namen zum ersten Mal hörten?
Carlo Giuliani war Schülersprecher am Gymnasium Leonardo da Vinci, intelligent und beliebt bei den Mädchen. Nach seinem Abitur absolvierte er den Zivildienst bei Amnesty International. Sein Vater ist ein prominenter Gewerkschaftsführer. Mit 15 demonstrierte Carlo gegen den Krieg in Jugoslawien, mit 20 begann er, Geschichte zu studieren. Er war ein Fan des AS Rom. Ein Hooligan sei er gewesen, sagen manche. Vorbestraft war er auch: Besitz einer Stichwaffe, Beamtenbeleidigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Carlo Giuliani war keiner von denen, die mit weißbemalten Händen durch Genua zogen, um zu zeigen dass sie Gewalt ablehnen. Er gehörte aber auch nicht zum „Schwarzen Block“ der gewaltbereiten Anarchisten, auch wenn er denen mit seiner Wut innerlich nahe stand. Die Wut hatte in Genua viele Gesichter - neben Pazifisten und Anarchisten marschierten Kirchengruppen, Gewerkschafter, Atomkraft-Gegner, Menschenrechtsgruppen, die kaum etwas gemeinsam haben.
Am Samstag hatten sie plötzlich einen gemeinsamen Spruch: „Mörder!“
„Globalisierungsgegner“ - so werden die Mitglieder der rund 700 Gruppen, die in Genua ganz unterschiedliche Anliegen hatten, der Einfachheit halber genannt. Und das ist schon die erste Ungerechtigkeit. Denn der Begriff macht die Demonstranten zu naiven Träumern. Jeder weiß, dass sich die Globalisierung nicht aufhalten lässt, dass der weltweite Fluss von Geld, Waren und Information nicht mehr eingedämmt werden kann. Oder möchte irgendwer in nächster Zeit das Internet abschaffen? Wir haben ja oft genug gehört, dass das wichtigste Instrument der Globalisierung sogar einen Atomkrieg überleben würde. Das wäre also ein weltfremder Kampf. Und als weltfremd wurden die Demonstranten von Seattle, Prag und zuletzt Genua oft beschimpft.
Mag sein, dass Giuliani, als er einen Polizisten mit einem Feuerlöscher angriff,( Anm.: der VORHER aus dem Polizeiauto zu IHM geworfen wurde- wie sich nun zeigt anhand von div. Zeugen ) nicht ganz klar dachte. Aber die meisten der über 150000 hatten gute Gründe, in Genua zu demonstrieren. Und viele ihrer Forderungen an die Staats- und Regierungschefs der G8 waren sehr klar: Schuldenerlass für die ärmsten Länder, zum Beispiel, oder Besteuerung von Devisengeschäften. Einigen der Forderungen versuchen die Regierunschefs seit längerem entgegen zu kommen: Die G7 planen bereits, 41 Entwicklungsländern die Schulden teilweise zu erlassen - aber das ist zu wenig und geht zu langsam, sagen die Globalisierungsgegner. Und die Fakten sind auf ihrer Seite: Die Kluft zwischen Arm und Reich auf der Welt vergrößert sich ständig. So stark, dass der Reichtum des wohlhabendsten Fünftels der Menschheit den des ärmsten Fünftels heute um das 75-Fache übersteigt. 1960 war es noch das 30-Fache. Und selbst in reichen Industrieländern wie den USA, die von der Globalisierung profitieren, sind die Menschen an der Spitze der Einkommensskala noch wesentlich reicher geworden, während das gesamte untere Fünftel sich kaum verbessert hat. Auf dem Genua-Gipfel sagte Tony Blair, dass er die Demonstranten nicht verstehe. Schließlich sei doch klar, dass die Globalisierung gerade den Ärmsten der Welt zugute kommt. Da hat er sogar Recht. Denn es ist erwiesen, dass freier Handel - ohne Schutzzölle oder Ähnliches - in den beteiligten Ländern für Wachstum und Fortschritt sorgt. Die Globalisierungsgegner haben aber ein Argument, das ebenso bewiesen ist: In vielen Ländern profitierte bislang nur der Teil der Bevölkerung vom neuen Wohlstand, der es am wenigsten nötig hat.
Ob die Staats- und Regierungschefs der G8 all diese Probleme lösen können, ist nicht sicher. Aber sie sind wenigstens greifbar, beim „globalen Kapitalismus“ kann man sich ja nicht beschweren. Der hat keinen Terminkalender.
Carlo wohnte etwas außerhalb von Genua, im Stadtteil Righi, und am Freitag stand er früh auf, um den Bus in die Innenstadt zu nehmen. Er wollte möglichst nah heran an die gelbe, vielleicht sogar an die rote Zone. Er traf sich mit Freunden am Bahnhof Brignole. Dort verlief der künstliche Schutzwall, der die rote Zone umschloss, in dem die Gipfelteilnehmer wohnten und berieten. Mehr als 8000 Demonstranten warfen Steine, in die Richtung, in der sie den Feind vermuteten. Die Polizei verschoss Tränengas, Carlo und seine Freunde wollten sich zurückziehen, zur Schule „Diaz“, einem Treffpunkt der Globalisierungsgegner, aber die Polizei versperrte ihnen den Weg. Also bogen sie ab auf die Piazza Gaetano Alimonda, eine Nebenstraße, weit weg von der gelben, noch weiter von der roten Zone. Der Polizei-Jeep, in dem Marco Placanica saß, patrouillierte gerade in dieser Gegend, die Gefahr und das Chaos waren zu diesem Zeitpunkt noch woanders.
„Selbst schuld“, sagten viele von uns, als sie erfuhren, wie Carlo Giuliani zu Tode kam. Wer kann so blöd sein und einen Polizei-Jeep mit einem Feuerlöscher angreifen? Überhaupt: Was hatten die Demonstranten zuvor in der Nähe der verbotenen Zone verloren? Sie mussten ja mit dem Widerstand der Polizei rechnen, mit der Eskalation der Gewalt. Wie klug und besonnen wirkte dagegen der Protest derjenigen, die ihre weißen Hände in die Höhe reckten. Das ist die eine Wahrheit. Die andere lautet: 150000 Menschen sind nach Genua gekommen, um darauf hinzuweisen, dass der globale Kapitalismus über Leichen geht. Einige von ihnen haben auch in Genua an das Prinzip der „direkten Aktion“ geglaubt, das sich in Seattle einmal bewährt hat: Jedes verhinderte Handelsabkommen rettet Millionen von Menschenleben, lautet das Mantra der Aktivisten. Wer dies glaubt, der muss blockieren, im Weg stehen, behindern, stören. Carlo Giuliani hat noch mehr getan als dies, das macht sein Handeln sehr fragwürdig. Aber die Wut der Leute, die sich bewaffneten und martialisch drohten, hat auch etwas klargemacht: Der Protest lässt sich nicht mehr so einfach aussperren, er lässt sich vor allem nicht vereinnahmen. Er will nicht die Begleitmusik sein für Politiker, die behaupten, den „vernünftigen“ Protest ja eigentlich zu unterstützen. Die Wut auf den Straßen hielt dagegen: Ihr und wir stehen auf verschiedenen Seiten.
Ein anderes Ziel können die gewalttätigen Proteste kaum gehabt haben. Denn was wäre passiert, hätten die militanten Demonstranten freie Bahn gehabt oder sich durchgekämpft bis zum Tagungspalast der G8? Wenn sie am Ende mit ihren Pflastersteinen und Schulterpolstern in einem luxuriösen Konferenzraum gestanden hätten - was dann? Bush und Blair den Schädel einschlagen? Wohl kaum. Sie zur Abreise zwingen? Schon eher. Aber selbst das wäre sinnlos gewesen. Denn für die Aids-Bekämpfung in der Welt stünden jetzt 2,24 Milliarden Mark weniger zur Verfügung; die wurden in Genua bewilligt.
Der Platz, auf dem Carlo starb, trägt jetzt seinen Namen: „Piazza Carlo Giuliani“ haben welche auf ein Schild geschrieben. Andere haben Gebetskerzen niedergelegt, dort wo das Blut in den Asphalt sickerte. Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte in den ARD-Tagesthemen, fünf Stunden nachdem Carlo tot war, er sei „erschüttert“, George W. Bush nannte es „einen tragischen Todesfall“. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber fand es unwürdig, dass „sich die Staatsmänner förmlich verkriechen müssen vor der Gewalt“. Silvio Berlusconi besuchte einen verletzten Polizisten im Krankenhaus und spendierte ihm einen Urlaub. Als Carlo Giuliani, das erste Todesopfer der Anti-Globalisierungsbewegung, am Mittwoch in Genua beerdigt wird, geben ihm 500 Menschen das letzte Geleit, kein Regierungsmitglied, kein Polizeivertreter, dafür Punks, Mütter, junge Mädchen, Gewerkschafter. Als einer von Carlos Freunden von Mord spricht, da rufen sie ihm entgegen: „Basta! Basta! Das gehört nicht hierher“. Auf Carlos Sarg liegt die Fahne des AS Rom; als er aus dem Leichenwagen geschoben wird, applaudiert die Menge minutenlang. Auf www.indymedia.org, der Nachrichtenzentrale der Globalisierungsgegner, schreibt jemand an diesem Tag: „Ich kenne die Liebe, aber nun lerne ich die Wut kennen und die Trauer und irgendwie auch den Hass. Ich will nicht aufhören zu leben, also werde ich das Kämpfen lernen.“ Der Spiegel fragt am Montag nach Carlos Tod auf dem Titelblatt: „Wem gehört die Welt?“ Der Stern zeigt am Donnerstag, einen Tag nach Carlos Beerdigung, auf seinem Cover lieber eine Plastiktitte.
Manche, die an jenem Donnerstag stundenlang an den Grenzen anstanden, um sich dann bis Sonntagnacht in Genua von der Polizei verprügeln zu lassen, sagen, dieses Wochenende sei das beste ihres Lebens gewesen. Weil sie einen Sinn gespürt haben. Und wenn wir im Internet ihre Kommentare lesen und die Bilder der blutverschmierten Wände in einer Schule sehen, wo Polizisten vierzig Minuten lang auf Jugendliche in Schlafsäcken einschlugen, dann sind die großen Verlierer dieses Gipfels bestimmt nicht die Demonstranten.
Die Wut in Genua hat direkt nichts, aber indirekt doch etwas erreicht: dass der Protest noch weiter wachsen, noch breiter werden wird, auch diffuser. Diejenigen von uns, die sich nicht so sehr für konkrete Themen interessieren, werden dann froh sein, dass sie im großen Durcheinander einen Namen rufen können, den jeder kennt: Carlo Giuliani. Und sie werden versuchen, aus unserem ersten Toten einen zweiten Benno Ohnesorg zu machen - bloß in Farbe. Und in dreißig Jahren werden andere als wir in überhitzten Klassenzimmern sitzen und auf das Bild des toten Carlo Giuliani schauen. Wofür der Anblick seines zerplatzten Schädels dann stehen wird, ist noch nicht entschieden.
Wir glauben noch nicht daran, dass er ein unsterblicher Held werden wird.
Wir glauben im Moment einfach nur, dass Carlo Giuliani viel zu früh gestorben ist.
*** ENDE***
Erschuettert …
Glaubst auch Du dass er zu frueh gestorben ist und doch ermordet wurde ?
Gruss
dizarus