Hallo,
ich bin ja nun nicht verantwortlich für das, was Du so alles spürst oder zu spüren glaubst. Trotzdem eine kleine Erläuterung.
Eine spezifische Kultur - wobei hier einmal, um die Sache nicht unnötig zu verkomplizieren, außer Acht gelassen sei, wie und nach welchen Kriterien diese im einzelnen zu anderen Kulturen abzugrenzen wäre - ist immer die Summe von Kulturleistungen. Religiöse Konstrukte - z.B. „das Christentum“, „das Judentum“ (auch hier sei auf eigentlich nötige Differenzierungen verzichtet) - sind zwar Kulturleistungen; sie sind jedoch lediglich Einzelaspekte einer Kultur. Eine Kultur auf ihre religiösen Aspekte zu reduzieren, ist eine irrationale Verengung der Wahrnehmung. Zweifellos existieren in der zeitgenössischen westlichen (um Huntingtons religiös neutralen Kulturbegriff aufzugreifen), d.h. europäischen Kultur einschließlich ihrer diversen kolonialen Ableger in Übersee, religiöse Subkulturen unterschiedlichster Art, wobei christliche und jüdische in der Summe den quantitativ höchsten Anteil ausmachen - jüdische freilich in einem vergleichsweise doch eher recht bescheidenen Ausmaß. Ausgesprochen christlich-jüdische Subkulturen allerdings wie etwa die sog. messianischen Juden sind statistisch kaum signifikant. Ist es schon albern, die westliche Kultur als ‚christlich‘ zu deklarieren, so tifft dies in sehr viel deutlicherem Maß auf die Bezeichnung ‚christlich-jüdisch‘ zu. Nochmals für ganz Begriffsstutzigen: mir geht es nicht darum, der westlichen Kultur alleine das „jüdisch“ abzusprechen - das „christlich“ halte ich für ebenso verfehlt.
Das Diktum von der christlich-jüdischen bzw. jüdisch-christlichen Kultur (oder um den Schwachsinn noch zu steigern: Leitkultur) ist nichts als ein verdeckter Kampfbegriff. Genauer: eine modifizierte Neuauflage des notorischen „christlichen Abendlandes“. Nur, dass in dieser jüngsten Wiederauferstehung durch das beigefügte „jüdisch“ der Eindruck vermieden werden soll, die Front richte sich wieder einmal vorrangig gegen die nunmehr großzügig eingemeindeten Juden. Dass genau diese Frontstellung jedoch untrennbar mit der Begriffsgeschichte verbunden ist, belegt - falls dies tatsächlich noch notwendig wäre - der hier zur Diskussion vorgelegte Essay. Tatsächlich geht es den Verwendern dieses Begriffes heute um andere Gegner, von denen man sich mit dem Epitheton „christlich-jüdisch“ abgrenzen will. Da geht es zum einen - wie schon in älteren Inkarnationen - um die Deutungshoheit der eigenen Kultur gegen den ‚inneren Feind‘, sprich säkularistische und aufklärerische gesellschaftliche Strömungen. Zum Anderen geht es natürlich um Abwehr äußerer Feinde bzw. deren fünfter Kolonne. In bewährter Form - bewährt vor allem in der Ausgrenzung und Verfolgung von Juden - wird da auf xenophobe Reflexe für einen ‚Kampf der Kulturen‘ (Huntington spricht allerdings religiös neutral von ‚westlicher Kultur‘) spekuliert. Nur, dass dieses Mal Juden (ungefragt versteht sich, dafür um so gönnerhafter) als Verbündete in Anspruch genommen werden.
Ich hatte oben von Kultur als Summe der in ihr erbrachten Kulturleistungen gesprochen. Diese können unterschiedlichster Art sein - wobei ich nebenbei gesagt die Erfindung des Räderpflugs oder der Dampfmaschine für Kulturleistungen halte, die unsere zeitgenössische Kultur sehr viel stärker und nachhaltiger geformt haben als etwa das tridentinische Konzil, die Regula Benedikts oder sonstige tatsächliche christliche Kulturleistungen (nebbich jüdische auch). Jedenfalls - Kulturleistungen, sie seien nun innovativ, epigonal oder eklektisch, werden von Menschen erbracht. Zu welcher Religion diese Menschen sich jeweils bekennen oder bekannten, ist von Interesse, wenn es sich um spezifisch religiöse Kulturleistungen handelt. Wenn es hingegen um Kulturleistungen auf wissenschaftlichem oder künstlerischem Gebiet geht, ist dies irrelevant. Die Vielzahl von Menschen jüdischen Bekenntnisses (und denen, die von ihnen abstammen), die auf diesen Gebieten Hervorragendes geleistet haben, aufzuführen, mag allenfalls der Widerlegung der schwachsinnigen These von der kulturellen Impotenz einer vorgeblichen jüdischen Rasse dienen. Aber wer das noch nicht als Schwachsinn durchschaut hat, der lernt es ohnehin nie.
Nochmals pointiert: die wissenschaftliche Arbeit eines Albert Einstein ist keine jüdische Kulturleistung, ebenso wenig wie die Arbeit eines Max Planck eine christliche ist oder die eines Niels Bohr eine halbjüdische bzw. die eines Werner Heisenberg eine gesinnungsjüdische. Das wurde nicht immer und von jedem so gesehen - wem das neu ist, bemühe mal Google mit dem Begriff ‚jüdische Physik‘. Oder - falls ihm/ihr das eher liegt, beschäftige sich mit Wagners ‚Das Judenthum in der Musik‘ (bei Wikisource zu finden) und den Folgen. Wenn man Kulturleistungen von Juden oder jüdischstämmigen Menschen unabhängig von jeglicher jüdisch-religiösen Signifikanz pauschal als jüdische Kulturleistungen deklariert, dann macht es nicht wirklich einen Unterschied, ob man sie dann antisemitisch verblendet negativ oder naiv-philosemitisch positiv konnotiert. Das sind nur zwei Seiten derselben Medaille.
Freundliche Grüße,
Ralf