Servus,
wenn man Utilitarismus vereinfacht unter der Maxime „Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!“ zusammenfassen will, dann sollte man versuchen das Maß an Glück zu bestimmen, welches für den Einzelnen durch die Tötung/Nicht-Tötung Bin Ladens entsteht.
A. Eine mögliche Prämisse wäre die Frage, ob durch Bin Ladens Ableben die Welt „sicherer“ geworden ist. Also ob es nun zu erwarten ist, dass weniger Terroranschläge geplant und durchgeführt werden als zuvor.
- Ein Argument für diese Prämisse wäre, dass er als Planer von Anschlägen wegfällt.
Argumente gegen diese Prämisse ist, dass zum Einen die dezentrale Organisationstruktur Al-Qaidas gerade einem zentralen Planungselement entgegensteht und außerdem der bekannt gewordene Nachlass Bin Ladens auch nicht nahe legt, dass er großartig planerisch tätig war. Er hat vielmehr selbstverliebte Videobotschaften gedreht.
Zwischenergebnis: Planung von Anschlägen wohl kaum reduziert.
- Ein anderes Argument für obige Prämisse wäre, dass evtl. Bin Laden nicht durch konkrete Planung, aber durch Vorbildfunktion etc. eine gewisse Steuerung und Linie in Al-Kaida verkörpert hat, die nun weggefallen ist.
Gegenargument ist, dass gerade in fundamental-religiösen Gruppen Tote meist bessere Leitfiguren sind als Lebende. So soll es eine religiöse Gruppe geben, die noch nach 2000 Jahren einen Mann als moralische Leitfigur ansieht (und anbetet) der gegen die damalige Obrigkeit revoltierte und im Zuge dessen aufgrund von Majestätsbeleidigung (crimen laesae maiestatis), Anstiftung zum Aufstand (seditio) und staatsfeindlichen Aufruhr (perduellio) zum Tode verurteilt wurde.
Zwischenergebnis: Die Leitfigurfunktion wurde wohl kaum reduziert, vielleicht sogar ein Märtyrer geschaffen.
- Möglicherweise wurde durch den Tod Bin Ladens Al-Kaida aber indirekt geschwächt, weil nun interne Streitigkeiten darum ausbrechen, wer nun die Leitung übernimmt.
Derzeit lässt sich dieses Argument noch nicht widerlegen. Denn obwohl die dezentrale Organisation von Al-Kaida dies eher zweifelhaft erscheinen lässt, so ist bei ähnlich organisierten Gruppen durchaus bekannt, dass Führungsstreitigkeiten zur Abspaltung und Zersplitterung und somit letztlich zur Schwächung geführt haben.
Zwischenergebnis: Möglicherweise hier ein leichtes „Glücksplus“ zu verzeichnen, weil eine objektiv für die Gesamtgesellschaft schädliche Gruppe geschwächt sein könnte (was jedoch noch abzuwarten wäre).
Dem steht allerdings die Motivation entgegen, die der Tod eines Anführers und der Wunsch nach Rache durch seine Anhänger auslöst.
- Möglicherweise ist man durch den Tod Bin Ladens an Informationen gekommen, die für die Zerschlagung Al-Qaidas hilfreich sind.
Wie viel wirklich auf den beschlagnahmten Laptops etc. gefunden wurde, können wir nur raten, jedoch steht auch diesem Argument die dezentrale Organisation Al-Qaidas entgegen.
Somit ist summa-summarum eher davon auszugehen, dass die Zahl der Anschläge zunimmt (teilweise schon geschehen) und somit die Welt also nicht „sicherer“ geworden ist, somit auch das Glück der Mehrheit nicht erhöht wurde.
B. Allerdings gibt es (mindestens) noch eine zweite Prämisse, nach dem das Glück der Welt zugenommen haben könnte. Nämlich wenn ein (überwiegender) Großteil nun Befriedigung und einfach Freude aufgrund des Todes Bin Ladens empfindet. Im Gegensatz zu der recht materiell orientierten Prämisse A will ich diese eine immaterielle Prämisse nennen (auch wenn die Abgrenzung ein wenig hinkt).
Ein unterstützendes Argument wären die vielen Aufnahmen jubelnder US-Amerikaner oder die Aussage unserer Kanzlerin, nach der sich ein Großteil der westlichen Welt über das Ende dieses Mannes freut (sei es aus Rache, der Überzeugung dass die Welt sicherer geworden ist, obwohl das wahrscheinlich nicht stimmt - siehe oben - oder aus welchen Gründen auch immer).
Nehmen wir an alle Menschen der Länder die bevorzugte Al-Qaida Anschlagsziele sind, freuen sich. Ich nehme mal vereinfacht die Industrieländer (also Nordamerika, Europa, Teile Asiens), das sind ca. 1,3 Mrd. Menschen.
Denen stehen alle die Menschen entgegen, die keine Freude, sondern Trauer, Hass, Beunruhigung etc. empfinden. Primär sind dies wohl vor allem die Anhänger der Islam. Hier sprechen wir von ca. 900 Millionen Anhängern.
Wobei ich an dieser Stelle nachschicken muss, dass sich natürlich nicht alle Anhänger des Islam Bin Laden oder Al Kaida nahe fühlen, und auch sicherlich nicht alle in tiefe Trauer ausgebrochen sind. Allerdings gilt dies umgekehrt auch für die Bewohner der Industrienationen, wie nicht zuletzt diese Diskussion beweist. Man hätte also genauso gut mit 10% auf jeder Seite rechnen können, was am Ergebnis aber nichts ändert.
Somit stünden sich zwei fast gleich große Bevölkerungsgruppen gegenüber, von denen die eine vermehrte Freude und die andere vermehrte Trauer verspürt. Von einer „Maximierung des Glücks“ kann man also auch in diesem Zusammenhang nicht sprechen.
Fazit: Auch diese Prämisse eignet sich nicht um eine Glücksmaximierung zu identifizieren.
C. Somit komme ich zu dem Punkt, den ich bisher bewusst ein wenig ignoriert hatte:
Bisher hatte ich lediglich die Frage diskutiert ob die Welt ohne Bin Laden „besser“ geworden ist, ohne jedoch die Frage zu stellen, wie Bin Laden hätte „entfernt“ werden müssen (sprich: Töten vs. Gefangennahme).
Zwar haben wir nun schon gesehen, dass durch die „Entfernung“ von Bin Laden die Welt nicht verbessert wird, jedoch könnte zumindest das Töten Bin Ladens vs. dessen Gefangennahme aus utilitaristischer Sicht vorzuziehen sein.
Gibt es also eine „Glückmaximierung“ wenn Bin Laden tot anstatt gefangen ist?
Nun, die Gefahr der Freipressung durch seine Anhänger bei einer Gefangennahme ist schon mehrfach hier genannt worden und sicherlich das stärkste Argument für eine Tötung.
Jedoch frage ich mich, ob man Bin Laden wirklich hätte offiziell verhaften müssen oder ob nicht eine geheime Verhaftung mit anschließender Sicherheitsverwahrung in einer Einzelzelle auf Guantanamo möglich gewesen wäre.
Den Nutzen, den man aus einem verhafteten und möglicherweise geständigem Bin Laden hätte ziehen können, können wir nun nur erahnen.
Doch es gibt noch eine dritte Möglichkeit, die bisher völlig unterschlagen wurde: Wie wäre es gewesen, wenn man das Wissen um den Aufenthaltsort Bin Ladens dazu genutzt hätte Abhöreinrichtungen und/oder Spitzel einzuschleusen. Man stelle sich vor: die CIA hätte zeitgleich mit Bin Laden von neuen Al-Kaida-Plänen erfahren. Möglicherweise hätte man sogar den Informationsfluss von und zu Bin Laden manipulieren können.
Meines Erachtens hätte dies zu einer deutlicheren „Glückmaximierung“ der Bevölkerung führen können, als es nun durch Bin Ladens Tötung oder Verhaftung und den gefundenen Unterlagen der Fall ist.
Gruß,
Sax
P.S.: Die obigen Betrachtungen erheben natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Schon jetzt fallen mir Ergänzungen ein. Aber der Text ist ohnehin schon lang genug.