Hallo Pedter, hallo Metapher,
„Krankhafte Furcht und Schwindelgefühl beim Blick in die Tiefe
mit dem Erlebnis der Tiefe als Abgrund und gleichzeitigem
Erleben eines Zuges in diesen Abgrund.“
…insbesondere der von mir unterstrichene Teil, geben ganz
gut wieder, auf was ich hinaus will. Das „Erleben eines Zuges
in den Abgrund“ geht der Furcht ja voraus. Anders als z. B.
bei einer Spinnenphobie wird man hier nicht vom Motiv der
Angst abgestoßen sondern massiv angezogen. Und die Angst bzw.
das Misstrauen richtet sich gar nicht so sehr auf den Abgrund,
sondern auf den eigenen (mit dem Sprung liebäugelnden) Willen.
Das hat wahrscheinlich Anteil an der Depersonalisation, die du
angesprochen hast.
Dein Gedankengang ist mir klar, allein meine Interpretation des „Erleben eines Zuges in den Angrund“ ist eine andere: Du gehst eher davon aus, dass mit der Anziehung etwas „Attraktives“ verbunden ist; im Sinne einer Anziehungskraft, der man sich „hingibt“. Ich verstehe das eher als etwas Negatives im Sinne eines Soges, einer Anziehungskraft, der man nicht widerstehen kann, auch wenn man dagegen ankämpft (eher im Sinne eines Strudels, oder reißendes Flusses). Ich glaube ersteres trifft bei einem Phobiker nicht zu. Ein Phobiker liebäugelt nicht mit dem Sprung! Ebensowenig wie ein Mutter mit dem Zwangsgedanken (im Rahmen einer Zwangsstörung!!) ihrem Kind etwas zu Leide zu tun, niemals ihrem Kind wirklich etwas tun würde. Ich denke hier hat wohl Metapher recht, wenn er auf die Angst vor dem möglichen Kontrollverlust hinweist.
Aber das Misstrauen dem Willen gegenüber kommt ja nicht von
ungefähr. Ich erinnere an die vielen Sprünge von der
Golden-Gate-Bridge, deren wenige Überlebende teilweise davon
berichteten, nicht in suizidaler Absicht gehandelt zu haben,
sondern alleine dem Sog der Tiefe erlegen zu sein. Ich denke
also, die Angst ist hier gar nicht das pathologische Element,
sondern das überstarke Erleben des Zuges in den Abgrund (den
ja bis zu einem gewissen Grad jeder Nicht-Schwindelfreie
kennt).
Was die Springenden von der Golden-Gate-Bridge angeht, gehe ich von zwei Punkten aus: 1. Unter denen, die Gesprungen sind, hat sich keiner befunden, der an einer wie auch immer genannten Höhenangst litt und 2. bezeifel ich es wirklich, dass ein x-beliebiger Spaziergänger beim Lauf über die Brücke pötzlich dem „Sog der Tiefe“ erliegt. Es gibt ja auch Suizide (bzw. Suizidversuche), die impulsartig bzw. raptusartig begangen werden. Der Sprung in die Tiefe ist - im Gegensatz zu anderen Suizidarten - eine Suizidart, die wenig Planung voraussetzt: Es muss kein Strick aufgehängen werden, keine Medikamente organisiert oder andere „Vorbereitungen“ getroffen werden. Damit „eignet“ sich diese Methode eben gerade gut für den „spontanen“ Selbstmord.
Somit kann es dann wirklich passieren, dass ein Lebensüberdrüssiger, ohne konkrete Suizidabsicht dem (im Nachhinein für ihn nicht nachvollziehbaren) Impuls nachgibt und springt.
Ich hab mich jetzt mit einigen Höhenängstlichen unterhalten,
und in Internetforen einige Erfahrungsberichte gelesen. Und
dabei habe ich den Eindruck gewonnen, dass es sich bei der
klassischen Höhenangst und der von mir geschilderten um zwei
sehr verschiedene psychische Zustände handelt.
Der klassisch Höhenängstliche fürchtet durch eine
Schwachstelle (des Materials, eines Dritten oder des eigenen
Körpers) zu stürzen. Die Höhenangst wird durch das Element,
worin der Betroffene gewöhnlich die Schwachstelle vermutet,
getriggert. Der Höhenängstliche, der fürchtet zu stolpern,
wird in seiner Angst durch das Vorhandensein eines Geländers
ein wenig besänftigt. Der Höhenängstliche, der die
Schwachstelle im Material vermutet, wird durch eine lose
Schraube oder eine abgelaufene TÜV-Etikette zusätzlich
verängstigt.
Der „anders Höhenängstliche“ verspürt den starken Drang sich
hinabzustürzen und kämpft dagegen an. In Anbetracht dessen wie
stark er diesen Drang spürt, ist die nachfolgende Angst ihm
nachzugeben, gar nicht irrational. Viele Betroffene verspüren
einen ähnlichen Drang an Gewässern. Und viele verspüren den
Drang Wertgegenstände ins Wasser oder in den Abgrund zu
werfen. Auch weil diese Dinge so oft damit einhergehen, würde
ich dieses Phänomen von der klassischen Höhenangst trennen.
Vielleicht ist das zweite also gar keine klassische Phobie?
Vielleicht eher eine Bathomanie oder wie man es auch nennen
mag. Mich wundert einfach, dass ich für diesen Zustand, der so
häufig auftritt und so viele Implikationen hat, (mal abgesehen
von der genauen Begrifflichkeit) keine ausführliche
Beschreibung finden kann.
Ich würde allerdings von mehreren psychischen „Zuständen“ sprechen und zwar von einer Phobie einerseits und einem Sammelsorium verschiedenen anderen „Zuständen“ (ich vermeide bewusst das Wort Störung). Wie ich oben bereits ausgeführt habe, ist sicherlich eine Möglichkeit, dass hier Suizidalität eine Rolle spielt (Das sind m.M. diejenigen, die wirklich springen). Dann gibt es diejenigen mit Zwangsgedanken, die eben zwanghaft daran denken, sie müssten springen (es aber NICHT tun). Und dann gibt es noch das Phänomen, dass auch „geistig gesunde“ Menschen diesen Impuls verspüren können: „Wie würde es sein, wenn ich jetzt spränge?“. Ich glaube aber, dass das nicht nur auf das Springen (bzw. die Tiefe) begrenzt ist: Andere denken dann eben darüber nach, wie es wäre mit 150 kmh gegen einen Baum zu fahren oder sich vor den Zug zu werfen. Freud würde vermutlich sagen, dass sei der Todestrieb. Ich kann Dir das nicht genau beantworten, ich glaube aber, dass es in jedem von uns steckt, den eigenen Tod vorwegzunehmen und sich die Frage zu stellen: „Was würde passieren, wenn…?“. Interessanterweise meine ich, dass das alles „Suizidmethoden“ sind, die keine Planung erfordern: Ich würde sagen, der Gedanke, „Wie wäre es jetzt, noch einen Schritt Richtung Abgrund mehr zu gehen?“ steckt einfach mehr in uns, als die Überlegung „Wie wäre es jetzt, wenn ich mir heute 30 Schlauftabletten einwerfe und zwei Flaschen Wein dazu trinke?“. Wie Metapher richtig hingewiesen hat, geht es um das Thema Kontrollverlust. Der Gedanke zu Springen mag für den Einen ein interessantes Gedankenspiel zu sein, für den Anderen allerdings auch beängstigend, weil er sich vor dem Kontrollverlust fürchtet. Angst vor Kontrollverlust aber, ist - so denke ich - per se nichts „Unnormales“.
Vielen Dank
Peter
PS: Entschuldige bitte, dass meine Nachfrage zu so einem
Wortschwall angewachsen ist.
Kein Ding! Finde es ja sehr interessant!
Liebe Grüße!
TAndrija