Diese Geschichte ist eine der unplausibelsten (böswillig könnte man sagen: am ungeschicktesten gefälschten) Stellen im Lukasevangelium.
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war.“
Aus den res gestae des Augustus wissen wir, dass er mehrfach einen Zensus (lustrum) veranlasste, bei dem die wehrfähigen römischen Bürger und ihr Besitz erfasst wurden. Das ist nicht „alle Welt“ und mit Sicherheit nicht ein galiläischer Zimmermann Josef - der hatte nämlich kein römisches Bürgerrecht. Die ‚Volkszählung‘ war also doch etliche Nummern kleiner - nämlich ein Provinzialzensus. Genauer: die descriptio prima, also die unter Augustus in jeder neuen Provinz durchgeführte Ersterfassung zur Veranschlagung des Steueraufkommens. Eine descriptio prima Judäas wurde notwendig, nachdem Augustus im Jahre 6(!) König (Ethnarch) Archelaos abgesetzt und Judäa der Provinz Syrien zugeschlagen hatte. Verantwortlich für die Durchführung des Zensus war der Statthalter der betreffenden Provinz, Lukas nennt richtig den syrischen Statthalter Publius Sulpicius Quirinius (gräzisiert ‚Kyrenios‘).
Jedenfalls sind wir damit im Jahre 6, eher 7. Wenn Lukas also davon spricht, die Geburt des Johannes sei „zu der Zeit des Herodes, des Königs von Judäa“ seinem Vater Zacharias verkündet worden, die Ankündigung von Jesu Geburt hingegen im 6. Schwangerschaftsmonat der Elisabeth, so kann mit diesem ‚Herodes‘ (falls Lukas da nicht ein grober Schnitzer unterlaufen ist) allenfalls (Herodes) Archelaos gemeint sein - keinesfalls Herodes I., in dessen Regierungszeit Matthäus die Geburt Jesu datiert. Matthäus kann nicht Archelaos gemeint haben, da er Josef und seine Familie nach Herodes Tod aus Ägypten zurückkehren lässt - der (abgesetzte) Archelaos starb jedoch erst 18 n.Chr. Herodes I. hingegen starb 4 v.Chr. - zwischen den Datierungen von Lukas und Matthäus klafft eine Lücke von mindestens 10 Jahren.
Diese Ungereimtheiten sind offensichtlich - schon Tertullian (ca. 150 - 230) versuchte sie auszuräumen, indem er eine Verwechslung von Quirinius mit Sentius Saturninus (syrischer Statthalter 8 - 4 v.Chr.) behauptete und neuerdings versucht man anhand einer in Tibur Tivoli aufgefundenen Inschrift (die sich allerdings auch auf Quinctilius Varus beziehen könnte) nachzuweisen, dass Quirinius schon zu Zeiten Herodes I. einmal Statthalter Syriens gewesen sei. Was allerdings in beiden Fällen nicht erklärt, wieso die Römer in einem Klientelfürstentum (damals eben noch keine Provinz) eine Steuerschätzung hätten durchführen sollen - ein Vorgang, der nirgendwo belegt ist und auch kaum der Aufmerksamkeit des Josephus Flavius entgangen wäre, unserer zuverlässigsten Quelle.
Zurück zum judäischen Provinzialzensus. Mit ihm wurden die Wehrfähigen für die militärische Aushebung erfasst, außerdem für die Veranlagung zur Grund- und Kopfsteuer Angaben über Grundbesitz und sonstiges Eigentum erhoben. Nun war Josef jedoch aus Nazareth - mithin Untertan von Herodes Antipas, nicht römischer Provinziale. Der einzige denkbare Grund, warum ein Gäliläer sich freiwillig danach hätte drängen sollen, Rom Steuern zu zahlen, wäre Grundbesitz in Betlehem gewesen. Ohne entrichtete Grundsteuer wäre dieser Besitz eingezogen worden. Kopfsteuer kam jedoch grundsätzlich nicht in Betracht - ein Erscheinen der hochschwangeren Maria zur Eintragung in die Steuerlisten wäre (da keine Veranlagung zur Kopfsteuer) völlig überflüssig gewesen.
Von Grundbesitz (der dann wohl verpachtet gewesen sein musss, da ihn Josef offensichtlich nicht selbst bewirtschaftete) weiss Lukas darüber hinaus allerdings nichts - er nennt als Grund für die Reise lediglich „denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids“. Warum Josef dann mit seiner hochschwangeren Frau nicht bei seiner angeblichen betlehemitischen Verwandtschaft oder aber bei dem Pächter seines Grundbesitzes unterkommen konnte, verschweigt uns Lukas. Er schildert uns vielmehr ein offensichtlich materiell sehr armes Paar, bei dem man kaum nennenswerten Grundbesitz vermuten würde.
Mit dem „denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids“ macht Lukas dafür deutlich, was diese ganze Geschichte überhaupt soll: der Messias muss gemäß den Prophezeiungen (vgl. Micha 5,1) aus Betlehem stammen und Nachkomme Davids sein; vgl. dazu auch die beiden - allerdings einander widersprechenden - Stammbäume bei Lukas und Matthäus. Der Verdacht liegt nahe, dass diese ganze Volkszählungsgeschichte nur ein (schlechter) Vorwand ist, um zu begründen, warum Josef mit seiner hochschwangeren Frau eine beschwerliche Reise unternimmt. Vergleiche dazu auch Joh 7,41-52: „Andere sagten: Er ist der Messias. Wieder andere sagten: Kommt denn der Messias aus Galiäa? Sagt nicht die Schrift: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Betlehem, wo David lebte?“ usw. - da werden genau diese Erwartungen ausgesprochen. Und interessanterweise wissen diese Leute, die da sprechen, nichts von einer Geburt Jesu in Betlehem. Und, wie ich vermute und der Text nahelegt, wusste auch Johannes nichts davon.
Freundliche Grüße,
Ralf