Theorien und Experiment
Hi Thomas
deine Fragestellung hat ja eine ganze Reihe interessanter Reaktionen ausgelöst, auf jede einzelne einzugehen wäre sehr interessant.
Deine ursprüngliche Fragestellung läuft auf Folgendes hinaus:
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Was ist Wissenschaft? d.h. wann ist eine Reflexion über Natur (der Begriff „Natur“ ist ja hier erstmal nicht zur Debatte) eine wissenschaftliche und wann nicht?
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Was ist eine natw. Theorie? Welche Bedingungen muß sie erfüllen, um eine solche zu sein, welchen Nutzen und Zweck hat sie, wie weit reicht ihre Gültigkeit, was führt zu einem Wechsel zu einer Alternativen Theorie, wann ist sie bestätigt, wann ist sie widerlegt usw. usw.
Tasächlich werden diese Fragen besonders diskutiert seit ca Anfang des vorigen Jhrdts und es hat sich daraus ein eigenes Teilgebiet der Philosophie (!) entwickelt: die Wissenschaftstheorie - Duhem, Hempel, Grünbaum, Popper, Lakatos, Kuhn, Feyerabend sind einige ihrer Hauptakteure, auch solche, die als Physiker selbst eine herausragende Rolle gespielt haben z.B. Poincaré (theoretische Physik), Niels Bohr (Grundlage des Atommodells), Günter Ludwig (theoretische Physik).
Die grundlegenden (und weitgehend anerkannten) Kriterien für (natur)wissenschaftliches Arbeiten sind allerdings schon sehr alt. Zu den Mindestbedingungen gehört
- die Überprüfung, ob die gebrauchten Begriffe unmißverständlich sind und ob mit dem Dialogpartner Konsens über ihre Verwendung besteht
- die ÜberprüfBARKEIT der Aussagen, die mit diesen Begriffen gebildet werden. D.h. daß zu einer Aussage immer auch angegeben werden muß, worauf sie sich bezieht und auf welche Weise sie bestätigt (bewiesen) werden kann bzw. unter welchen Umständen sie als widerlegt gelten soll und somit verworfen werden muß.
Bei diesem zweiten Kriterium ist sehr entscheidend, daß es um die ÜberprüfBARKEIT geht, und NICHT darum, ob die Überprüfung (bzw. die Widerlegung) bereits gelungen ist oder nicht !!
Eine NATURwissenschaftliche Aussage (das muß noch nicht gleich eine Theorie sein!) - allgemeiner: eine Aussage einer empirischen Wissenschaft - hat zusätzlich noch anzugeben, auf welchen empirischen Sachverhalt sie sich bezieht (Abgrenzung des Geltungsbereichs): das führt dazu, daß die von ihr gebrauchten Begriffe (nicht alle!!) sich auf BEOBACHTBARE Größen beziehen muß. Beobachtbare Größen (Fachbegriff: Observable) sind aber Meßwerte, und Meßwerte sind Zahlen. Daher ist das entscheidende begriffliche Werkzeug in empirischen Wissenschaften die Mathematik. Denn Observable machen nur Sinn in ihrer Beziehung zu anderen Observablen und solche Beziehungen können gerade mit mathematischen Objekten und Operationen wiedergegeben werden (Skalare, Vektoren, Tensoren, Operatoren, Transformationen, Gleichungen usw).
Das interessante an der Beziehung zwischen mathematischen Operationen und empirischen Sachverhalten ist nun Folgendes: Man versucht zunächst, die Observablen des betreffenden Systems und deren Beziehungen untereinander durch mathematische Objekte und deren mathematische Beziehungen zu repräsentieren…
eine rein mathematische Prozedur (die sich um den empirischen Sachverhalt gar nicht zu kümmern braucht) führt zu einem Ergebnis, das wiederum „zurückübersetzt“ werden kann in die Beschreibung des beobachteten Systems. Im allgemeinen wird dadurch das System in einem veränderten „Zustand“ beschrieben.
Wenn diese Zustandsänderung tatsächlich existiert, dann wird der mathematische Formalismus als „korrekte“ Beschreibuing des Systems aufgefaßt.
Auf diese Weise wurden z.B. die meisten der heute bekannten (mehrere hundert) Elementarteilchen vorher erschlossen (aus der theoretischen Beschreibung), bzw. deren Existenz vorausgesagt. Da man aus dem mathematischen „Modell“ die Eigenschaften des Teilchens gewinnt, kann man sich auf die gezielte Suche machen… und wird fündig - oder eben auch nicht. Wenn nicht, heißt das noch nicht unbedingt, daß das Modell verworfen werden muß, es heißt zunächst nur, daß man die Suchmethode verfeinern muß… so wie z.B. in der Gegenwart das Higgs-Boson gesucht wird.
Aber es gibt sogar ein berühmtes Beispiel, wo das NICHTfinden eines vorhergesagten Teilchens eine Rückwirkung auf die präzisere Beschreibung des theoretischen Modells hatte: Das Quarkmodell (Gell-Mann und Ne’eman) wurde korrogiert bezüglich der Wechselwirkungseigenschaften zwischen den Quarks… aus der Tatsache, daß man EINZELNE Quark nicht fand, sondern immer nur 2er und 3er Gruppen, konnte man Erkenntnisse gewinnen, warum einzelne Quarks gar nicht existieren können… usw…
Wichtig für die Diskussion ist noch, verschiedene Typen von „Theorien“ zu unterscheiden: (ich geb sie nur an, um das Posting nicht zu überfüllen)
Eine Theorie wie Relativitätstheorie oder Quantenmechanik
ist etwas ganz anderes als
eine Theorie z.B. über die Entwicklung von Sternen in abhängigkeit von ihrer Masse oder z.B. ein Modell über die Funktionsweise eines Neutronensterns.
Ein Prinzip wie das Hamiltonsche Prinzip der „kleinsten Wirkung“
ist etwas ganz anderes als
das Anthropische Prinzip von Barrow und Tipler.
Generell wird von einer physikalischen Theorie (es gilt aber auch für andere) gefordert
- daß sie exakt ihren Gültigkeitsbereich angibt
- daß sie empirische Voraussagen machen kann
- daß sie angibt, unter welchen Umständen sie als widerlegt zu gelten hat
So sind z.B. die gegenwärtig heftig bearbeiteten Superstring-Theorien außerordentlich elegant und erfolgreich in der Beschreibung der bekannten Teilchen und Wechselwirkungen… sie haben aber den Nachteil, daß man sie vorläufig noch nicht experimentell bestätigen kann, und daß man keine empirischen Voraussagen machen kann…
Übrigens zur Frage „Experiment“:
Zu einem Physikalischen Experiment gehören KEINESWEGS bloß die
(natürlich manipulierbaren) Publikationen von Meßergebnissen!
Vielmehr ist die Bedingung eine korrekte Beschreibung des Experimentaufbaus: sie muß so sein, daß es jederzeit an anderen Orten wiederholt werden kann…
Meßergebnisse sind darüber hinaus IMMER mit einer Fehlerbreite angegeben… es gibt in der Physik keine 100%ig korrekten Messungen…
Grüße
M.G.