Morallehre oder Diskursethik
Hallo fliegerbaer,
meine Sichtweise zur Diskussion stellen
dürfte eine gangbare Grundlage sein, will ich auch versuchen.
Ob ich mit meiner Ansicht selbst einem Sophismus aufsitze
Es wird wohl zu unterscheiden sein können, zwischen Deiner Ansicht über Ethik als solche, mit ihren Konnotationen und Inhalten - einerseits -, und Deiner Ansicht über das Thema, ob Ethik Gegenstand einer nicht religiös gebundenen „reinen“ Philosophie sein kann und soll - andererseits.
Das Reflektieren über moralische Handlungsnormen wäre dann Ethik
Dem kann ich im Grossen und Ganzen folgen. Insofern als dem Reflektieren auch ein Akzeptieren folgt, ist dann jeweils die Ethik zur Moral geworden. Auch dass Akzeptieren noch nicht gleich Umsetzen und Befolgen ist, leuchtet ein.
wobei hier der Prozess des Nachdenkens und der Diskussion im
Vordergrund steht
Hier stellst Du den Begriff, der dies allenfalls noch implizieren kann und etwa bei Jürgen Habermas ebenfalls impliziert, nun aber radikal der Praxis entgegen. Wäre dies nämlich der wesentliche Inhalt des Ethikbegriffs - was es wie gesagt rein vom Begriff her sein könnte -, dann könnte es keine für sich abgeschlossenen Ethikkommissionen und Ethikzirkel geben, welche im Staat Durchsetzungsmacht ausüben. Du müsstest also als erstes ziemlich schnell und am besten postwendend zu bedenken geben, dass die „Ethik“ in der Verwendung, wie sie heute nicht nur in den Massenmedien steht, sondern auch von der offiziellen Politik als Machtgrundlage benannt wird, ihrem Namen nicht entspreche; jede Ethikkommission, jeder Ethikrat und jede Autorität, die das Wort Ethik etwa in mit Staatsmacht betrauten Parlamenten hat, müsste gemäss einer Forderung Deinerseits umbenannt werden. Stellst Du diese Forderung denn auf? Was mich betrifft, hier würde ich schon mal mitziehen. Wir können nun im Folgenden ja schauen, welche Auswirkungen eine solche Begriffsdeutung denn auf allfälligen Ethikunterricht oder ein Schulfach Ethik hat.
Ansprüche der Ethik in diese Richtung
[universal zu sein - evtl. ohne Religiosität]
gelten ohnehin als umstritten
Das ist wohl zu milde ausgedrückt. Ein solcher Anspruch, obgleich dauernd von vielen gestellt, ist nirgends ausgewiesen, ja insofern als ein gesamtes ethisches System betroffen wäre, ist er nicht einmal im Ansatz gegeben, es sei denn eben, man begründe das ethische System religiös.
Beispiel: Christus sagt „Niemand ist gut ausser Gott allein“ (Lk 18,19). Wer diesem Satz folgt, kann sagen, was das Gute nicht ist bzw. was es ist. Er wird es noch nicht ganz verstehen oder erklären, aber er kann es benennen.
Gegenbeispiel: mir unbekannt.
Moral (meinem Verständnis nach, das was du mit Ethik gleichsetzt
Ich unterscheide Ethik, wenn überhaupt, nur graduell von Morallehre. Jedoch unterscheide ich zwischen Moral und Morallehre. Eine Moral, die jemand hat, das sind seine Leitlinien, nach denen er sich dann mehr oder weniger spontan und mehr oder weniger konsequent verhält. Eine Morallehre, das ist die Kohärenz zwischen und Gesamtschau über diese Leitlinien, die sie in einen sinnhaften Zusammenhang zueinander bringt und bei ihrem Träger den Eindruck von Verständlichkeit und Fassbarkeit erweckt; sie kann natürlich auch nur in einem Anspruch bestehen, welchem der Mensch nicht gerecht wird, aber den er doch als Fluchtpunkt, als verständliches Ideal oder erstrebenswertes Ziel erkennt.
Unter Ethik verstehe ich im Grundsatz das Gleiche, es gibt lediglich Abweichungen in Nuancen aufgrund des praktischen Gebrauchs dieses Wortes, welches eher in eine etwas abstraktere Ebene hineinspielt; man könnte auch sagen, dass sie die Allgemeingültigkeit etwas mehr betont und daher etwas theoretischer ist, sagen wir meinetwegen auch universaler. Meiner Ansicht nach muss sie je universaler auch desto religiöser sein, da sie mehr der Legitimation bedarf und ja keine rein rationale Legitimation hat. Selbst die natürlichen Ansätze von Ethik, deren Existenz ich an sich anerkenne - etwa bei Henri Dunant, der vor den Verwundeten steht und sagt „hier muss etwas geschehen“, wobei noch ziemlich irrelevant erscheint, was er für eine Religion hat - sind von etwas getragen, das eine irrationale Komponente genannt werden muss. Denn will man sie zu universalen Grundsätzen machen, braucht man Begriffe für diese irrationale Komponente, und die haben dann die Merkmale von Religion: Autorität, Verbindlichkeit und Verehrung ebenso wie Unhinterfragbarkeit.
Demnach gibt es bei mir kein universales Gut/richtig - Böse/falsch.
Dann wäre also Ethik für Dich mit einer Auseinandersetzung ü.b.e.r. Ethik gleichzusetzen? Das mag stimmen, sie kann dann aber nirgendwo gleichzeitig verbindlicher Masstab sein. Selbst eine Teilethik wäre nur dann anzuwenden, wenn der Adressat sie schon frei akzeptiert und also für sich verinnerlicht hat. Keinesfalls dürfte je der Staat eine ethische Norm durchsetzen. Er würde den Begriff ansonsten in seinem Fundament verraten und verkaufen. Er müsste seine Normen weiterhin rein moralisch begründen. Selbstverständlich wäre dies zwar gerade in einem pluralistischen Staatswesen möglich - das kommt eben auf den Inhalt der akzeptierten Morallehre an, aus welcher sich die Moral für den Mainstream sowie das Recht für alle mehr oder weniger klar ergeben könnten -, eine universalverbindliche Ethik wäre aber nicht proklamiert, woraus sich ergibt, dass dann der Anwendung des Begriffes (beispielsweise in der Schule für rein katholischen Religionsunterricht) keine Schranken gesetzt wären.
Wir können uns über das konkrete Handeln in einem bestimmten Kontext
jederzeit abstrakt
Gedanken machen
So etwas nennt man dann eine ethische Reflexion. Insofern als man sie von existierenden Morallehren loskoppelt, kann man sogar von der Suche nach einer neuen Morallehre oder Ansätzen dazu problemlos reden. Nur ist dies keine Berechtigung, dem Neuen nur schon deswegen mehr Macht zu geben, nur weil es neu ist. Die Wertmasstäbe, die einer sich wandelnden Moral zugrundeliegen, müssen der radikalen Gegenüberstellung mit den Wertmasstäben einer gleichbleibenden Moral ebenso standhalten wie die eine gleichbleibende Moral gegen die andere abgewogen werden kann. Das Nachdenken an sich kann nur insofern ein Wert sein, als dass es die Normen in ein System bringt, also eben die Moral zur Morallehre oder meinetwegen die Abwägung von Morallehren zu einer neuen Morallehre macht.
Reflektieren
ist immer gut. Das heisst aber nicht unbedingt, dass der Grundsatz oder Wertmassstab zu ändern ist, sondern unter Umständen bloss, dass man ihn nachher anders versteht als vorher.
Gruss,
Mike