Hallo Heidi,
Da hilft sicher nicht Kritik.
Aber auch nicht Verständnis.
Da hilft die Erfahrung - das erleben - der brutalen Wirklichkeit.
Erfahrungen sammelt „Jemand“ aber nur draussen.
Also, „raus“. Punkt.
Ein fähiger Topmanager sagte einst, dass er sich vorsätzlich täglich einmal blamiere. Warum wohl?
Macht das Selbstbewusstsein einmal die Erfahrung der Selbstwirksamkeit - und das kann dauerhaft nicht ausbleiben - so ändert sich die Richtung der Spirale.
Einmal? Einmal reicht? Glaube ich nicht.
Erst kommt die neue Erfahrung des - erstmals begründeten - Stolzes.
Das fühlt sich verdammt gut an.
Das möchte „Jemand“ wieder.
Das verstärkt die Anstrengung.
Das führt zu erneutem Erfolg.
Das führt zu Wiederholung und Wiederholung und Wiederholung.
Das führt zu Routine.
Das führt zu Selbstsicherheit.
Das führt zu Selbstvertrauen.
Das führt zu Selbstachtung.
Das führt zu Fremdachtung.
Und die Schüchternheit verschwindet so schüchtern in der Versenkung, dass man sie gar nicht vermisst.
Mir klingt das zu sehr nach Selfmanagement-Beratungsbuch des
besagten Topmanagers (?)
Deshalb finde ich die Aussage eher inhaltlich kritisch.
Geht mir ähnlich. Konfrontation kann hilfreich sein, muss nicht. Im Gegensatz zum Spinnenphobiker, der lernen kann, dass eine Spinne ihm nix tut, kann der Sozialphobiker mit seiner verklemmten Art genau das beim Gegenüber bewirken, was er fürchtet: dass man ihn nicht mag.
Was einer als Selbstwirksamkeit erlebt, ist für einen anderen
bedeutungslos.
Genau. Menschen mit einem schlechten Selbstbild sehen ja jeweils unterschiedliche Schwächen bei sich. Der eine denkt, ich kann nicht gut reden, die andere, ich seh scheisse aus, ein dritter denkt, ich war schon immer anders als alle anderen usw.
Selbstwirksamkeit erleben kann man nur, wenn man in dem betreffenden Bereich erfolgreich sein kann. Aber das ist nicht immer gegeben, vor allem dann nicht, wenn es keine objektiven Erfolgskriterien gibt, wie im Beispiel „ich war schon immer anders als alle anderen“. Wenn dagegen jemand denkt „ich bin dumm“, dann kann er das bekämpfen, z.B. indem er für die nächste Mathe-Arbeit so viel lernt, dass er eine Eins schreibt.
Ich bin wie du der Meinung, dass ein überhöhter
Perfektionsanspruch zu sozialem Stress und Rückzugstendenzen
führen kann.
Ja, das mag sein, aber damit alle Fälle von Schüchternheit, Sozialphobie usw. erklären zu wollen, erscheint mir als viel zu weit hergeholt bzw. als Küchenpsychologie.
Ebenso aber kann ein soziales Umfeld das vorwiegend aus
Eigenmotivation heraus kritisiert, oder z.B. auch ganz
anders, eine passiv-depressive Struktur zu einem Mangel an
positiver Verstärkung führen.
Genau. Einem Kind, das mit einer kaum präsenten, depressiven Mutter und einem saufenden, ständig herabwürdigenden Vater aufwächst und dann selbstwertgeschädigt ist, könnte man wohl kaum sagen, du bist einfach zu perfektionistisch.
Weil vermutlich die meisten Menschen „gemischten“, also nicht
überwiegend negativen sozialen input erleben, sind es m.E. die
individuellen Bewertungen und Wahrnehmungen die entscheidender
sind als die – neutral betrachtet - äußeren Erfahrungen.
An dem Punkt stimme ich nur teilweise zu bzw. es kommt m.E. noch ein Faktor hinzu, nämlich, dass Menschen mit solchen Problemen aufgrund ihrer Ausstrahlung, ihres vielleicht verkrampften oder oft auch missverstandenen Verhaltens tatsächlich mehr Misserfolge im menschlichen Miteinander erleben können. Also ein Teufelskreis aus dem eigenen Verhalten und der Reaktion darauf. Selbstbewusste Menschen sind attraktiver, werden stärker respektiert, erreichen mehr. Die, die wie ein geprügelter Hund rumlaufen, machen ständig Erfahrungen wie „Keiner will mit mir zu tun haben“, „Ich finde keinen Partner“ oder „Ich kann mich nicht durchsetzen“. Sie haben also m.E. tatsächlich mehr negativen Input.
Ich glaube allerdings auch, dass die individuelle Bewertung / Wahrnehmung ein und derselben Situation bei so jemand anders ausfällt als bei einer selbstsicheren Person.
Warum wurde das nicht im Laufe der Evolution ausgemerzt?
Hier mit der Evolution zu argumentieren halte ich für
schwierig.
Es gibt auch in der soweit beobachtbaren Tierwelt - also vor
allem in der domestizierten – sozialen Angst-Stress,
Minderwertigkeitsgefühle, Mobbing und sogar Traumatisierung.
Wie will man Minderwertigkeitsgefühle in der Tierwelt objektiv feststellen?
Ähnlich wird es sich mit unseren eigenen psychosozialen
Entwicklungen ergeben, dadurch dass wir uns von
ursprünglichen, „naturnahen“ Gruppenkonzepten und
Lebensbedingungen entfernt haben.
Einerseits geht es immer noch um den Erhalt hierarchischer
Strukturen mit verändereten (gehirnlastigeren) Methoden.
Andererseits entstehen auch Kuriositäten, Dysfunktionelles,
Chaos.
Evolution beinhaltet kein jederzeit vollumfänglich
funktionierendes Optimierungsprinzip.
Danke, das war die bisher beste (und der Fragestellung nächste) Antwort auf meine Frage.
Gruß
Mike