Zunächst sollte man fairerweise zwischen ‚Antijudaismus‘ und ‚Antisemitismus‘ unterscheiden. Wenn auch eindeutige und nicht zu leugnende Beziehungen zwischen beiden bestehen, so gibt es doch keine direkte historische Kontinuität zwischen ihnen, so dass eine Gleichsetzung irreführend wäre. Gleiches gilt meiner Meinung nach übrigens auch für die beliebte, aber wenig hilfreiche Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus.
Der Antijudaismus (oder „theologische Antisemitismus“) ist ein Geburtsfehler des Christentums und daher tief in der gesamten, maßgeblich durch das Christentum geprägten abendländischen Kultur verankert. Erste Ansätze finden sich bereits in den Evangelien (in den Berichten über den Prozess Jesu), die einige Merkwürdigkeiten und Widersprüche enthalten. Dabei ging es offensichtlich darum, die Hauptverantwortung für die Hinrichtung Jesu auf die Juden abzuwälzen - zum einen wollte man sich wohl mit der römischen Staatsgewalt nicht anlegen und zum anderen waren ja recht bald auf Betreiben des Paulus nichtjüdische römische Staatsbürger das Hauptziel christlicher Missionierung. Ein jüdisches Feindbild war damit eher opportun als ein römisches. Allerdings war damit auch ein unheilvoller Same gelegt - für den Topos der ‚Christusmörder‘.
Die Konkurrenz zwischen Juden und den abtrünnigen christlichen Sektierern bei der Gewinnung von Proselyten (bei der die Juden schon länger durchaus erfolgreich waren) tat ein übriges; und so finden wir bereits bei den frühen Kirchenlehrern des dritten Jahrhunderts (Origenes, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomos) die widerlichsten judenfeindlichen Ausfälle, die sich dann nahtlos über Augustinus („Söhne des Satans“) und Hieronymus bis in die Neuzeit fortsetzen. Auch Luther fühlte sich ja noch bemüßigt, in altehrwürdiger Manier gegen die Juden zu geifern.
Ganz ausreichend ist eine solche historische Ableitung über den Antijudaismus der christlichen Kirche allerdings nicht, um der Erscheinung des Antisemitismus auf den Grund zu gehen. Da gibt es zum einen bereits eine vor- bzw. nichtchristliche Tradition ‚antisemitischer‘ Äußerungen (wenn man sie denn so nennen kann) - man vergleiche Flavius Josephus’ Schrift Contra Apion und diverse Stellen etwa bei Tacitus („unversöhnlicher Hass gegenüber den übrigen Menschen“) oder auch Seneca („verbrecherische Nation“). Zum anderen greift der moderne rassistische Antisemitismus, dessen Beginn wir mit Gobineaus „l’Essai sur l’inégalité des races humaines“ von 1855 ansetzen können, nicht auf die christliche Tradition zurück. Der Begriff ‚Antisemitismus‘ selbst existiert übrigens wohl erst seit Wilhelm Marrs „Der Sieg des Judentums über das Germanentum“ von 1879. In den Köpfen der hirnlosen Gefolgsleute solcher geistigen Brunnenvergifter wie Gobineau, Chamberlain, Drumont oder Rosenberg dürfte allerdings in der Regel eine unentwirrbare Gemengelage von überliefertem, ‚ererbtem‘ Antijudaismus und modern-sozialdarwinistischem Antisemitismus herrschen …
Vom pseudowissenschaftlichen, nicht-religiösen theoretischen Überbau abgesehen, hat der Antisemitismus auch eine deutlich radikalere Qualität als der Antijudaismus. „Was der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod des Juden“ (J. P. Sartre, Überlegungen zur Judenfrage). Wohlgemerkt - hier ist von der Theorie die Rede. Ob der jeweilige Schlächter durch eine klerikale Hasspredigt oder eine faschistische Hetztirade inspiriert ist, dürfte dem Opfer allemal egal sein. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass der Makel, den der Antijudaismus meinte feststellen zu müssen, wenigstens noch heilbar war - durch Konversion zum Christentum. Der Antisemit dagegen entmenschlicht den Juden - macht ihn bestenfalls zum Untermenschen, wenn nicht gleich zum Schädling, zum Ungeziefer.
Man sollte sich diese unausweichliche mörderische Konsequenz des Antisemitismus als sein entscheidendes Kriterium vor Augen führen, wenn man heute meint, ‚Antisemitismus‘ als politischen Kampfbegriff verwenden zu müssen. Dann wäre es vielleicht auch möglich, hierzulande einen unaufgeregteren Diskurs etwa über die Politik Israels zu führen. Anders gesagt: es ist wenig hilfreich, den Begriff des Antisemitismus zu verwässern (und damit auch die schrecklichen historischen Konsequenzen des Antisemitismus zu vernebeln), indem man ihn auf alle möglichen mehr oder weniger dummen Äußerungen anwendet - sie seien privat oder öffentlich.
N.B.:
Eine Äußerung wie „die hätten sie besser alle vergast“ ist bei einem Erwachsenen allerdings unbestreitbar antisemitisch im ernstesten Sinn des Wortes und absolut nicht tolerierbar. Da diese Äußerung (im privaten Kreis) wohl nicht strafrechtlich verfolgt werden kann, ist sozialer Boykott eine durchaus angemessene Antwort. Zu helfen ist da wohl nicht mehr viel. Mit einem Dreizehnjährigen allerdings sollte man doch besser das ernsthafte Gespräch suchen, statt ihn zu isolieren.
Wenn wir die theoretischen Unterschiede von Antijudaismus und Antisemitismus einmal beiseite lassen und stattdessen ihre Gemeinsamkeiten (ihre praktischen Auswirkungen) betrachten, so dürften deren Wurzeln weniger in historischen als in psychologischen und soziologischen Mechanismen zu suchen sein. Die Juden als gesellschaftliche Gruppe haben schon in der Antike und erst recht im Europa des Mittelalters und der Neuzeit stets das soziale Pendant des ‚Außenseiters‘ dargestellt. Die Gründe für Verweigerung der Integration (also für das kontinuierliche Fortbestehen dieses Außenseitertums) sind vielfältig und liegen auf beiden Seiten vor - jüdische Vorbehalte betreffend vergleiche man etwa das siebte Kapitel des Deuteronomium. All diese Gründe im einzelnen zu erörtern, wurde den Rahmen dieses Postings sprengen - sie sind davon abgesehen auch Gegenstand zahlreicher Untersuchungen.
Jedenfalls wurden die Juden als nicht integrierte gesellschaftliche Außenseitergruppe zum bevorzugten Objekt xenophober Wahnvorstellungen, paranoider Verschwörungstheorien und vor allem zur Projektionsfläche, zum Sündenbock, für alle Misslichkeiten der Existenz, die man dem Christengott oder den weltlichen Machthabern nicht anlasten durfte und für die man die Ursache nicht bei sich selbst suchen wollte. „Die Juden sind an allem schuld“ - Vergleichbares lässt sich auch heute ohne weiteres ausmachen: „die Türken nehmen uns die Arbeitsplätze weg“, „die Russen sind schuld an der gestiegenen Kriminalität in unseren Städten“, „die Polen kriegen überall Vorzugsbehandlung und plündern die Sozialkassen“ usw. usf… Die Rede ist da (obwohl die ‚Etiketten‘ dies suggerieren) fast nie von echten ‚Ausländern‘ - die Türken in Antalya z.B. findet man ja auch eigentlich ganz in Ordnung - sondern von Migranten, die auf Grund unzureichender Integration als gesellschaftliche ‚Fremdkörper‘ zu identifizieren sind und als solche behandelt werden. Eine solche Wahrnehmung als ‚Fremdkörper‘ setzt wohl eine gewisse Mindestgröße einer gesellschaftlichen Gruppe voraus - was erklären würde, dass die jüdischen Gemeinschaften etwa Indiens oder Chinas keinen besonderen Repressalien ausgesetzt waren (aber z.B. die Armenier in der Türkei).
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen - ich rede hier nicht einer besinnungslosen und zwanghaften Integrationspolitik das Wort. Integrationsversuche helfen im Zweifelsfall wenig. Wie hervorragend sich die dumpfen Antriebe sozial und geistig Unterprivilegierter demagogisch ausbeuten lassen, haben ja die Nationalsozialisten exemplarisch vorgeführt - da war ein Großteil des deutschen Judentums schon fast bis zur Unkenntlichkeit assimiliert - aber eben nur fast. So lange ein gesellschaftliches Bedürfnis nach ‚Sündenböcken‘ besteht und nicht auf andere Opfer ausgewichen werden kann, muss die Integration letzlich am Widerstand der Gesellschaft selbst scheitern.
Dahinter stehen infantile, unreflektierte Denk- und Handlungsmuster. Hackordnung (nach oben buckeln, nach unten treten), Ausgrenzen bis hin zur Entmenschlichung des Andersartigen (Definition und Stützung einer schwachen, verunsicherten Identität über eine abgegrenzte Gruppe) und Abreagieren von Frustrationen am Schwächeren (Triebabfuhr). Vielleicht kann man es Kindern und Jugendlichen so am besten erklären - das Phänomen und die Funktion des Außenseiters und des Sündenbocks in einer Gruppe lernen sie sehr früh kennen. Und sie wissen in der Regel auch, dass es für die Schikanen und Quälereien, denen Außenseiter ausgesetzt sind, keine rationalen Gründe gibt - zumindest kann man versuchen, es ihnen bewusst zu machen. Man sollte die Problematik nicht zu sehr auf die Juden verengen - auch wenn hier die unheilvollen Auswirkungen solcher Prägungen am deutlichsten geworden sind.
Mangels Masse (wenn ich das so salopp ausdrücken darf) ist Antisemitismus in Deutschland eine fast nostalgische Angelegenheit geworden und kein (konkret) bedrohliches gesellschaftliches Problem mehr - dafür hat die mörderische Effektivität der Nazis gesorgt. Ich will damit keinesfalls die immer wiederkehrenden Übergriffe Ewig-gestriger verharmlosen - nur unterscheiden zwischen gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklungen und schlichter Kriminalität. Das Problem, das mit der sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen Situation auf uns zukommt, dürfte weniger eine Wiederbelebung des Antisemitismus sein. Ich fürchte, man wird sich da an greifbarere Opfer halten - und die Antisemitismusdebatte sollte uns nicht den Blick darauf verstellen.
Freundliche Grüße,
Ralf