Ein Nasheed und zwei Haram-Tänze
Hi.
Danke für deine Playlist, bei der sich aber die Frage nach ihrem repräsentativen Wert für die original islamische Haltung zur Musik stellt. Nicht in allem, wo ´islamisch´ draufsteht, ist ´islamisch´ drin.
Auch im Christentum ist das Authentizitätsproblem virulent, allerdings - wegen der undurchsichtigen Quellenlage - deutlich komplizierter als im Islam, wo ein Originaltext des Gründers sowie überlieferte Gründer-Zitate von direkten Augen- und Ohrenzeugen vorliegen. Was den Stellenwert von Musik im Islam betrifft, habe ich in meiner neueren Antwort einiges dazu geschrieben, was ich weiter unten noch ergänze.
Zu den Songs:
Der erste von dir verlinkte Song ist tatsächlich ein Nasheed, d.h. ein sakraler islamischer Gesang; ein afghanischer Bekannter von mir hat bestätigt, dass die Männer ein religiöses Thema besingen. Dem entspricht die betont perkussive instrumentale Begleitung.
Die anderen Songs:
Original arabische Bauchtänze habe ich selbst in Teheran und Tabriz gesehen, als ich in vor-khomeneischen Zeiten Persien mehrmals besuchte. Die von dir verlinkte Performance stammt aber aus Las Vegas, das nicht gerade ein Aushängeschild der muslimischen Welt ist. Mit dem Islam hat dieser Tanz ohnehin nichts zu tun, er entstammt älteren Traditionen aus dem arabischen Umfeld, kann also auf keinen Fall als Prototyp für einen eventuellen Paradiestanz herhalten. Künstlerische Darbietungen durch Frauen sind aus Sicht des frühen Islam haram (unheilig), erst recht wenn sie sexuell anregend sind. Auch der zweite Tanzlink hat mit jener Musikart, die vom frühen Islam akzeptiert ist, nichts zu tun, da die Darbietung erotisch ist.
Die vier sunnitischen Rechtschulen des Islam (die Hanifiten, Hanbaliten, Malikiten und Schafiiten) lehnen übereinstimmend Musik unterhaltenden Charakters als haram (= unheilig) ab. Abu Hanifa z.B. forderte, man solle - aber nur auf islamischen Territorium - ein Haus, aus dem Musik erklingt, „überfallen und die Musik aus dem Haus entfernen“. Ahmad ibn Hanbal war der Auffassung, dass „Musik Heuchelei im Menschen verursacht“. Das bezieht sich aber nur auf Unterhaltungsmusik, während sakrale Nasheeds, wie ich a.a.O. schon schrieb, legitim sind, freilich unter rigiden Voraussetzungen, die ich aufgelistet habe.
Gerade in Zeiten der Salafisten und vor allem des IS-Terrors sollte man sich die Frage stellen, ob wirklich alles, was moderne Muslime praktizieren, automatisch auch authentisch islamisch ist. Ein zu Justin Timberlake tanzender Muslim beweist ja nicht, dass sinnliches Tanzen dem (frühen, also authentischen) Islam nicht widerspricht. Die IS-Ideologen predigen, basierend auf der Lehre von Al-Wahhab, einem Anhänger des obengenannten musikfeindlichen Rechtsgelehrten Hanbal, ebenso wie die Salafisten eine Rückkehr zum frühen Islam.
Die Islam-Verharmloser (darunter natürlich auch viele Muslime) machen es sich viel zu einfach, wenn sie den Radikalen eine Falschinterpretation des Islam vorwerfen. Mit dieser naiven Formel wird man dem Problem nicht nur nicht gerecht, sondern verstellt den Blick auf die Tatsache, dass nicht der radikale Islam, sondern der gemäßigte Islam eine Abweichung von den Prinzipien des frühen Islam darstellt.
Chan