Ich versteh zwar nicht so ganz, worauf du eigentlich hinauswillst , aber nehme mal Stellung zu deinen Einzelfragen.
Ich teile Boozes Meinung nicht, für mich ist der Bolero zu Recht berühmt, einfach weil zumindest ich kein Stück kenne, das genau eine Art der Spannung so lange aufrecht halten kann wie er. Wenn er im Konzert gespielt wird, traut sich keiner zu atmen. Die Spannung ist fast unerträglich. Und der Höhepunkt dann umso orgiastischer.
Ich hatte als Jugendliche einen etwas schleimigen Musiklehrer, der immer vom Orgasmus in der Musik sprach und wir alle fanden das voll eklig damals, aber - naja - er hatte recht.
Ist dieses die höhste Vollendung, von Musikverständnis, oder
gäbe es noch eine „Steigerung“, dazu? Falls ja, warum?
Den Bolero an sich könntest du sicher noch steigern, noch länger, noch lauter, noch langsamer, noch mehr Instrumente…
Da der Bolero aber so, wie er ist, so beliebt ist, ist er sicher grad ziemlich vollendet komponiert in seiner Länge, Tempo, Instrumentation etc.
Eine Steigerung im Sinne von „besseren“ Stücken gibt’s auch, es gibt auch „bessere“ Stücke, mit mehr Ideen drin oder mit einfach anderen Genialitäten.
Ich meine damit nicht die Kompliziertheit, zum „Angeben“, als
vielmehr die Genialität, der Komposition.
Kompliziert ist dieses Stück ja eigentlich grade nicht, deswegen ist es ja so erfolgreich. Es gibt haufenweise wirklich komplizierte Stücke, die sich dem Hörer dann auch entziehen.
Weshalb geht solch ein Musikstück unsterblich in die
Geschichte ein?
Eine Antwort darauf hätte ich vielleicht: Weil darin
unmissverständlich klar wird, daß nur Gemeinsamkeit + völlige
Disziplin klar gibt, was darin wirklich gemeint ist?!
? Das ist immer so bei klassischen Stücken.
Warum ein Stück in die Geschichte eingeht ist einfach so: es können offenbar viele was damit anfangen, es war vorher so noch nicht da, es hat einen hohen Wiedererkennungswert.
Den Bolero erkennst du nach einem Takt, die Schicksalssinfonie auch, die Elise, die Kleine Nachtmusik.
Wenn schon die Frage, warum etwas unsterblich wird und etwas anderes nicht, dann würde ich sie z.b. eher bei der Kleinen Nachtmusik stellen. Die finde ich nun wirklich nicht anders als andere Kompositionen auch.
Aber es hat halt auch was zu tun damit, wie und wo die Musik immer wieder verwendet wird.
Dieser „Bolero“ erscheint für mich trotzdem wie ein
„Füllhorn“, immer neuer Möglichkeiten, praktisch ohne Ende,
den Menschen zu
zeigen: „da geht IMMER noch etwas, besser“, ohne seinen
klar-abgesteckten Weg verlassen zu müssen.
Eigentlich erscheint mit jedes klassische Stück so. Und auch so mancher "Pop"song.
Da mussten auch keine halbnackten Schönheiten in Videoclips
mit ihrem Arsch rumwackeln!
Die meisten Songs zu den Videos, in denen halbnackte Frauen mit dem Arsch rumwackeln, sind nach einem halben Jahr vergessen. Deswegen brauchen sie doch die Ärsche, damit man wenigstens ein paar mal hinschaut.
Du bist hier im „klassische Musik“-Brett. Klassische Musik zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie über eine erste Sinnenstimulation hinausgeht. Dass sie durchdacht, reich, intelligent ist.
Das heißt nicht, dass Popsongs das nicht wären. Allerdings haben Popsongs erstens nur wenig Länge, um sich entfalten zu können, und sie müssen zweitens ganz andere Anforderungen erfüllen. Sie werden nicht im Konzertsaal angehört, sondern eher nebenbei und deswegen sind sie auch eine weniger intellektuelle, dafür oft intuitivere Musik. Und sagen wir mal 80% aller Popsongs sind Gebrauchs- und Verbrauchsware. Die hört man sich ein paar Mal an, dann kennt man sie und braucht neue. Dafür sind sie da. Die sind auf immer ähnlichen Harmonien aufgebaut und die Stimmen klingen immer gleich.
Und dann gibt es aber die anderen 20%, die im Popgenre auch etwas erreichen, die ihre kleinen Genialitäten haben, die Experimente wagen, die Jahrzehnte lang hörbar und beliebt und einzigartig bleiben.
Und eben DAS macht das Herz „guter“ Musik aus, welche auch
ohne Worte unberrechnend Gefühle vermitteln kann.
Also für mich waren Worte auf der Musik immer nur Füllsel, damit der Sänger eben nicht nur lala singt. Musik ist Musik und funktioniert ohne Worte. Immer.
…Damit ein unvergeßlicher „Hit“ daraus wird, undzwar in
erster Linie NUR wegen seiner Harmonie und nicht wegen des
Textes?!
Ah, daher weht der Wind.
Nun ich fürchte, einfach mal so einen unvergesslichen Hit schreiben, das kann man nicht planen. Ein Hit ist immer großer Zufall. Selbst ein Ravel, der Komposition studiert hat und schon etliche Meisterwerke vor dem Bolero schrieb, hätte nicht mit so einem Erfolg gerechnet. Und es gibt einen Haufen anderer großer Komponisten, die aber jetzt nicht so einen „Hit“ hatten.
Ist es nicht eine Schande, daß heutzutage schon Leute als
„Superstar“ betitelt werden, die nichtmal- oder nur ein
Instrument
beherrschen, ohne selbst die nötige Kreativität haben, sich
selbst als „Superstar“ darstellen zu möchten?
Ich finde es keine Schande, da (dachte ich) irgendwie klar ist, dass „Superstar“ eine Show ist und keine Berufsbezeichnung. Und die meisten Gewinner oder Halbgewinner dieser oder anderer Shows halt nur ein bekanntes Gesicht werden, für das sich ein Jahr später wieder keiner mehr interessiert. Das ist für mich kein „Erfolg“. Ich finde, berühmt und wieder vergessen zu werden weitaus schlimmer als überhaupt nicht berühmt zu werden.
Oder wenn du „Superstars“ wie Lady Gaga u.ä. meinst: naja, die sind halt Stars wegen ihres Auftretens und ihres Bekanntheitsgrades, aber nicht wegen ihres musikalischen Talents. Ich hab großen Respekt vor Lady Gaga und ihrer gekonnten Selbstinszenierung und wie sie es schafft, schon seit Jahren im Gespräch zu sein, obwohl ihre Musik so grottig ist. Es ist nicht so, dass sie nicht singen kann. Aber sie macht einfach keine wirklich guten Songs.
Woher stammt solche selbstlose Kreativität? Habt Ihr eine
Ahnung?
Kreativität ist angeboren, wird in einem angemessenen Umfeld entdeckt und gefördert, und muss dann auch weiter gepflegt und immer wieder gefördert werden. Ravel hatte ein entsprechendes Umfeld, es ist nicht so, dass der zuhause saß, mit Noten gespielt hat, und dann kam das raus. Nee, er hat Lehrer gehabt, Kollegen, Musiker um sich rum. Komposition studiert man.
Aber selbstlos war er ganz gewiss nicht
Gruß