Hallo!
Ich meinte genau diesen unterschiedlichen Gebrauch des Wortes „Theorie“ in Alltagssprache und Fachsprache. Vielleicht schaffe ich es auch einfach nicht, plastisch genug auszudrücken. Was ich eigentlich sagen wollte: Viele Menschen glauben, dass wenn eine Theorie etwas bestimmtes aussagt, dass es dann „in Wirklichkeit“ ganz anders aussehen könnte. Wenn aber die Newtonsche Gravitationstheorie aussagt, dass sich zwei Körper gegenseitig anziehen, dann passiert es nicht, dass sich zwei bestimmte Körper „in Wirklichkeit“ ausnahmsweise mal nicht anziehen. Der alltägliche Gebrauch des Wortes „Theorie“ impliziert, dass die Ausnahme die Regel bestätigt. Theorien sind aber nur gute Theorien, wenn sie innerhalb ihres Geltungsbereichs keine Ausnahmen zulassen.
Wenn ein Wissenschaftler „in der Theorie“ sagt, meint er damit
„inklusive aller Wechselbeziehung zu anderen Themen“, z. B. in
dem Satz: „Das wissen wir nicht nur empirisch, sondern wir
haben es sogar in der Theorie verstanden.“Ich bin mit nicht sicher, ob es einen Unterschied gibt in den
Aussagen „dazu haben wir Daten“ und „dazu haben wir eine
Theorie“. Sicher stellen Theorien Zusammenhänge zwischen
verschiedenen Beobachtungen her, aber schließt das aus, dass
eine Theorie sich auch auf ganz bestimmte Daten beziehen kann
(Bsp: „phänomenologische“(?) Theorien wie die Chaostheorie,
die besagt: chaotisches Verhalten ist eine Systemeigenschaft;
eine logische Verbindung zu anderen Themen darüberhinaus
existiert m.W. nicht - aber ich bin dankbar für
Gegenbeispiele!).
Auch da bin ich mir nicht sicher, ob ich das gut ausgedrückt habe. Was ich hier sagen wollte: Es gibt Dinge, die wir zwar empirisch erfasst haben, die wir aber noch nicht durch eine Theorie in unser Weltbild einbinden können. Meines Wissens ist es noch nicht bekannt, warum der Sonnenfleckenzyklus ca. 11 Jahre dauert. Das wäre ein Beispiel für etwas, was man „in der Theorie“ noch nicht verstanden hat. Wenn ich aber beispielsweise über die Sendecharakteristik eines Hertzschen Dipols spreche, dann gibt es eine präzise Ableitung der Formeln aus den Maxwellschen Gleichungen. Den Hertzschen Dipol hat man also „theoretisch“ voll im Griff. Mit Wechselbeziehungen zu anderen Themen meinte ich (um in diesem Beispiel zu bleiben), dass diese Theorie des Hertzschen Dipols ihn direkt mit anderen Fragestellungen verknüpft: Resonanz eines elektromagnetischen Schwingkreises, Elektromagnetische Wellen, Lichtgeschwindigkeit, Polarisation, … Der Sonnenfleckenzyklus steht aber ziemlich alleine da. (Vielleicht täusche ich mich da ja auch, ich bin kein Astrophysiker).
Hochtrabend könnte man das auch über Induktion und Deduktion erklären: Eine Theorie ermöglicht das deduktive Arbeiten. Ohne Theorie werde ich immer zum induktiven Arbeiten gezwungen. Das ist das, was Rutherford abfällig als „Briefmarkensammeln“ bezeichnet hat.
(Sorry, dass ich die Chaostheorie nicht aufgegriffen habe, aber um ehrlich zu sein: Ich weiß gar nicht, was die Chaostheorie genau ist. Es handelt sich auch um einen Begriff, der populärwissenschaftlich viel häufiger verwendet wird als in der Wissenschaft selbst, so habe ich zumindest den Eindruck. Dass ein Wirbelsturm durch den Flügelschlag eines Schmetterlings ausgelöst werden kann, ist zwar plakativ, aber nicht unbedingt eine Theorie. Außerdem bin ich mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt stimmt. „Synergetik“ oder „nichtlineare Thermodynamik“ sind Begriffe, die nach meinem Verständnis wissenschaftlicher sind, aber damit kenne ich mich zu wenig aus).
Michael