Das Leben der Toten
Hi Uli,
in der katholischen Kirche ist es meines wissens üblich, verstorbene anzurufen im Gebet. Man betet zu Heiligen und - ich bin mir nicht sicher - manche beten auch zu verstorbenen Angehörigen.
Im Kontext kultischer Traditionen im Christentum muß man unterscheiden zwischen Anbetung, Bitte und Fürbitte:
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Besonders im Katholizismus haben sich zumindest in kultischen Gebräuchen zahlreiche Praktiken herausgebildet und erhalten, die ihren Ursprung in Vermischungen („Synkretismen“) mit anderen archaischen Kulten haben. Daraus resultieren auch Eigenarten und Traditionen der Heiligen-Verehrung.
Aber in der offiziellen kath. Lehre sind diese entweder nicht festgeschrieben (d.h. sie werden „geduldet“) oder sie sind in den festen Bestand der Zeremonien und der Liturgie eingegangen.
Die virtuelle Ansprache an „Heilige“ kann dabei die „Bitte“ sein, um Hilfe z.B., oder auch die „Fürbitte“, d.h. die Bitte, dem Gott gegenüber eine Fürsprache für einen anderen (für einen lebenden oder auch einen toten) einzulegen. Diese kultische Praxis hat ihren Ursprung in archaischen Dämonologien, in denen „Zwischenwesen“ zwischen der Erde und dem Reich der Götter bestimmte Fähigkeiten und Mächte zugeordnet werden.
Zu diesen Wesen gehören dann auch die sog. Heiligen.
Nicht aber die Toten ganz generell. Zumindest in der kath. Lehre, nach der du ja fragst, ist dies nicht fixiert. Was aber nicht hindert, daß mit den Verstorbenen ein imaginäres Gespräch stattfinden kann. Diese Art des erinnernden Gesprächs kennt ja eh jeder, egal, ob er einer religiösen Lehre anhängt oder nicht. Hier wird dem Toten eine „Gegenwärtigkeit“ zugeordnet, eine geistige Gegenwart.
Diese letztere Haltung hat ihren religionshistorischen Ursprung einerseits in archaischen magischen Praktiken, in denen die Toten unter gewissen Umständen „angerufen“ werden können.
Andererseits ist dies ein Erbe der griechischen Philosophie (Sokrates und Platon), in der die psyché des Menschen nicht nur unsterblich, sondern auch ewig ist. Als somit rein „geistigem“ Wesen, das an physisch-materielle Bedingungen nicht gebunden ist, das aber als „seiend“ - und folglich als gegenwärtig - gedacht ist, kommt ihm daher auch eben die Haupteigenschaft geistiger Existenz zu, nämlich „Gesprächspartner“ zu sein.
Die selbstverständliche Eigenschaft des Toten, nicht mehr sinnlich zu interagieren, hindert die Vorstellungskraft (die phantasía) dennoch nicht, daß der Tote für den Lebenden wenigstens imaginär Ansprechpartner ist - und bleibt.
Dem gegenüber stehen die ebenfalls archaischen Vorstellungen von der besonderen Art der Existenz der Toten im Totenreich. Sowohl in der antiken israelitisch/jüdischen (Totenreich = Sche’ol), als auch in der griechischen Tradition (Totenreich = (Haus des) Ha(i)des) haben die Toten alles vergessen.
Dies gibt auch die von dir angesproche Stelle im „Prediger“ (hebr. Qohelet, griech. „Ekklesiastés“) wieder (Kap. 9.10):
כִּי֩ אֵ֨ין מַעֲשֶׂ֤ה וְחֶשְׁבּוֹן֙ וְדַ֣עַת וְחָכְמָ֔ה בִּשְׁא֕וֹל אֲשֶׁ֥ר אַתָּ֖ה הֹלֵ֥ךְ שָֽׁמָּה
„… denn es gibt kein Handeln, kein Planen, kein Wissen und keine Weisheit im Sche’ol, wo du hingehst.“
Auch gemäß der kath. Lehre befinden sich die Toten in der Verfassung. Hier wird allerdings unterschieden zwischen der „aktuellen“ Existenz des Toten und der, die auf das Endgericht am „jüngsten Tag“ folgt, der als in einer ungewissen Zukunft liegend vorgestellt wird.
Es wird also unterschieden zwischen der aktuellen Daseinsweise des Toten und der nach der „Auferstehung“, die auf das Endgericht folgt.
Diese Unterscheidung ist etwas kurios, die Vorstellung von einem Totengericht kommt übrigens aus der antiken ägyptischen Eschatologie ins Christentum. Kurios deshalb, weil dem Toten ja kein Zeiterleben mehr zukommt, daher eine Unterscheidung zwischen „vorher“ und „nachher“ logisch gesehen unsinnig ist.
Näheres zur christlichen Auffassung der Daseinsweise der Toten und der Auferstehung im „verklärten“ Leib hatte ich hier einmal näher beschrieben:
[Auferstehung und Metamorphose]
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
[Auferstehung]
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
So kommt es zu der (im Katholizismus nicht „amtlich“ geregelten) Praxis im Totenkult, daß man einerseits um „Fürbitte“ für die Toten ersucht, andererseits auch die Toten selbst um Hilfe anruft.