Hallo Dalga,
Über eine kurze Erläuterung für nicht-Insider über die SChiefheit der Anfrage, freue ich mich!
Du meinst (ob ernst oder nicht, sei einmal dahingestellt), Du hättest gerne eine Religion, weil „es einfacher ist, sich an einem weltanschaulichen Geländer durch Leben zu hangeln“. Nun ist das eine mögliche Funktion von Religion - und auf eben diese „strukturelle“ Funktion hatte Rolf verwiesen. Wenn es Dir lediglich darum geht, dann gehst du völlig falsch vor, indem Du Dich (wie Du schreibst) inhaltlich mit Religionen auseinandersetzt. So etwas funktioniert nur, wenn man die ‚ererbte‘ oder eine aus anderen Gründen naheliegende Religion annimmt, ohne sie zu hinterfragen.
Eben dies ist „das solidarische System von Überzeugungen und Praktiken“, von dem Emile Durkheim spricht (hast Du mein Posting gelesen, auf das ich verwiesen hatte?). Es ist ein typischer Zug eines funktionalen ‚Religionsgebrauchs‘, dass man die Formulierung insbesondere der „Überzeugungen“ delegiert - an Schamanen, Priester, Mönche, Theologen usw. und sich mit der Sinnfrage, der Frage nach dem telos des Menschen, von dem Nishitani spricht, gar nicht selbst beschäftigt. Diese Sinnfrage ist existentiell verunsichernd - und ihr ‚Ausklammern‘, das Delegieren der Auseinandersetzung mit ihr an vorgeblich ‚Berufenere‘, erzeugt eben diese trügerische Sicherheit des „emotional-gedanklichen Sicherungssystems Religion“, das „weltanschauliche Geländer“.
‚Schief‘ ist nun Deine Anfrage, weil Du eben das Gegenteil tust von dem, was zur Erlangung einer solchen Sicherheit und Geborgenheit (die freilich ganz wesentlich auf Verdrängung existentieller Fragestellungen beruht) notwendig ist. Du beschäftigst Dich mit religiös-philosophischen Fragestellungen „eher zweifelnd, denkend, analysierend“.
So etwas kann zu religiösen Überzeugungen - religiös hier im substanziellen Sinne Nishitanis gemeint - führen. Zunächst sind dies persönliche Überzeugungen, da aus einer persönlichen Auseinandersetzung mit der Sinnfrage resultierend. Natürlich - doch ist dies erst ein zweiter Schritt - können sich diese mit religiösen Überzeugungen Anderer überschneiden oder gar weitgehend decken; und damit kann Deine persönliche Religion eine soziale Dimension und Funktion im Sinne Durkheims erhalten. Nur - jemand wie Du, der sich „zweifelnd, denkend, analysierend“ mit religiösen Fragen auseinandersetzt, muss zunächst zum ersten Schritt finden, bevor er den zweiten tun kann. Wenn Du weisst, in welche Richtung der erste Schritt geht - dann hat sich Deine Frage „Welche Religion passt zu mir?“ von selbst erledigt. Dann hast Du Dir selbst die Antwort darauf gegeben - und Du selbst bist der einzige, der dies kann.
Was bietet dann Heilung?
Eben dies, was ich hier als ‚ersten Schritt‘ skizziert habe. Der ‚zweite Schritt‘ ist ein ‚kann‘, kein ‚muss‘ oder ‚soll‘. Ob er notwendig ist, hängt von den spezifischen Ergebnissen ab, zu den man gelangt. Sehr viel wichtiger ist es, die gewonnenen Erkenntnisse in Handeln umzusetzen. Das heisst, seine Religion zu praktizieren. Dieses Praktizieren ist - im Unterschied zur Philosophie - ein notwendiger Aspekt von Religion (sofern sie ihren Namen zu Recht trägt).
Die ‚religiöse Überzeugung‘, von der ich oben gesprochen habe, ist ja nie eine abgeschlossene und vollständige Antwort, sondern stets nur ein Provisorium. Sie muss umgesetzt, gelebt werden - dadurch erweitert und vertieft sie sich. Meine persönliche Ansicht ist es, dass es „die Antwort“ im Sinne einer Theologie oder Philosophie nicht gibt - wir selbst sind die Antwort. Wir geben sie, indem wir unsere Religion oder Weltanschauung in die Praxis umsetzen und uns selbst (und die Welt) damit einem Prozess der Veränderung unterwerfen. Wenn die *Antwort* stimmt - dann ist die Frage verschwunden.
Allerdings ist nicht jeder religiöse Weg, jede Suche,
ein Weg des Glaubens - schon gar nicht des Glaubens an einen
Schöpfergott.
Was kann man denn dann noch finden als Alternative?
Zunächst zum ‚Glauben‘: der Glaube ist vor allem in der christlichen Religion ein konstitutives Element. Im Buddhismus hingegen spricht man von ‚Vertrauen‘ (shraddha). Dieses ‚Vertrauen‘ ist nicht voraussetzungslos und unbedingt, wie es vom Glauben gefordert wird - es ist eine Art Glaube auf Kredit, dessen Überprüfung ausdrücklich gefordert wird. Diese Überprüfung geschieht durch die buddhistische Praxis. Die ‚Effekte‘ dieser Praxis sind in diesem Leben zu erfahren, es wird nicht auf transzendente Belohnungen im Jenseits (die unüberprüfbar, reine ‚Glaubenssache‘ sind) verwiesen.
Der Buddhismus ist eine Religion, zu der ich als Atheist gefunden habe - und ich bin es nach wie vor. Wenn in buddhistischen Schriften von Göttern (devas) gesprochen wird, dann sind darunter übermenschliche Wesen zu verstehen, die genau wie der Mensch dem Leiden und der Vergänglichkeit unterworfen sind; freilich sehr viel subtilerem Leiden und Vergänglichkeit in einem ganz anderen Zeitmaß. So oder so - ob man nun die Existenz solcher devas postuliert oder nicht - sie haben in Buddhas Lehre keinerlei soteriologische (‚heilstechnische‘) Funktion und sind daher verzichtbar. Die Frage ihrer Existenz oder Nicht-Existenz ist für einen Buddhisten schlicht und einfach uninteressant.
Nun kann man diese ‚devas‘ natürlich nicht mit ‚Gott‘ im christlichen, jüdischen oder islamischen Sinn gleichsetzen. Das Konzept ‚Gott‘ im Sinne der monotheistischen Religionen allerdings war auch Buddha schon bekannt. Die Existenz eines solchen Wesens (ishvara) wird explizit verworfen.
Freundliche Grüße,
Ralf