Ausdifferenzierung der Wertsphären
Hi.
Wenn man alle Tätigkeiten dieser Welt großen Überkategorien zuordnen müsste (den größten gemeinsamen Nenner finden sozusagen)…
…dann müsste auf Platz 1 die Sexualität stehen, was in diesem Thread bisher niemandem aufgefallen ist. Denn ohne diese wären allen anderen Kategorien gar nicht vorhanden. Sie ist (bei den allermeisten Menschen) der stärkste Handlungsantrieb überhaupt. Vor die Wahl gestellt, auf Sex oder auf irgendeine andere Betätigung bis ans Lebensende zu verzichten, würden die allermeisten selbstverständlich letzteres wählen, egal was es auch sei. Sexualität wird in diesem Thread auch mit keiner anderen Kategorie verknüpft.
Die philosophische Gründlichkeit gebietet es also, diese Kategorie als primäres Handlungssystem des Menschen anzusetzen, aus dem alle anderen als sekundäre folgen.
Betrachten wir also diese sekundären Gebilde, wie sie teilweise (von Insagi und Claus) schon genannt wurden:
Politik, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft (darunter Philosophie!!!), Kunst. Ich möchte noch die Kategorie ´Recht´ hinzufügen.
Insagi erwähnt auch die Spiritualität. Sie kann allerdings nicht grundsätzlich vom Religionsbegriff getrennt werden, das ergibt sich schon aus der historischen Tatsache, dass Religion ursprünglich, also in den Jahrzehntausenden ihrer Entstehung im Paläolithikum, Spiritualität in Form des Schamanismus als wesentliches Element beinhaltete. Dieser Schamanismus war eine Angelegenheit einzelner (männlicher und weiblicher) Spezialisten und integriert in einen Kult, den man vorsichtig als ´Verehrung eines mit mütterlichen Attributen ausgestatteten Universums´ bezeichnen kann. Die Schamanen (Frauen und Männer) erfuhren vermittels diverser Ekstasetechniken die Bereiche des Spirituellen, der Rest der sozialen Gruppe (matrifokale Clans von etwa 120 Menschen) praktizierte die Riten des Urmutter-Kultes. Die Differenzierung in spirituelle Praxis und kultische Praxis blieb in allen Religionen bis hin zu Christentum bestehen, während sich die Praktiken aufgrund der Zunahme sozialer Komplexität natürlich veränderten.
Das Phänomen der Spaltung von Religion in eine Version für´s Volk (exoterisch) und für Eingeweihte (esoterisch) nennt der Ägyptologe Jan Assmann „religio duplex“. Im besonderen wendet er diesen Begriff auf die Zweiteilung ägyptischer Religiosität in eine offizielle Theologie (für die Masse) und eine inoffizielle Praxis des Mysterium (für initiierte Spezialisten) an. Generell trifft die Trennung von Theologie und Mystik aber auf alle einflussreichen Religionen zu, gleich ob in Ost oder West.
Auf jeden Fall kann Spiritualität nicht als Synonym für Religion stehen, wie du (Insagi) es offensichtlich verstehst. Dadurch wird der eminent sozialpolitische Faktor des Religiösen verschleiert (siehe im nächsten großen Absatz), der mit Spiritualität gar nichts zu tun hat.
Jetzt zu den genannten ´sekundären´ Kategorien
Politik, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft (darunter auch Philosophie), Kunst und Recht.
Historisch gesehen, gab es bis zum 17. Jahrhundert ein Primat von Politik/Religion, dem alle anderen Kategorien untergeordnet waren. Die Symbiose von Politik und Religion bestand seit prähistorischen Zeiten, also seit den Zeiten des aufkommenden Schamanismus (die Leitung von religiösem Kult und sozialer Praxis lag in den Händen Clanführung). Mit dem Aufkommen patriarchalischer Herrschaftssysteme (4. bis 3. Jt. vuZ) verband sich Religion mit Gewaltherrschaft in der Person des Königs, der selbstproklamierter Gottessohn oder Gott (letzteres bei einigen akkadischen Königen und bei allen Pharaonen) war und mit dieser imaginären Macht im Rücken die absolute politische Herrschaft ausübte. Jetzt begann auch die Sphäre der Ökonomie eine bedeutende Rolle zu spielen insofern, als sie durch Könige und Priester kontrolliert wurde und zur Quelle des exzessiven Reichtums der Tempel (und später der Paläste) wurde.
Durch göttliche Gnade legitimierte politische Macht gab es noch bis in die Zeit der Aufklärung hinein. Dann begann das, was Max Weber die Ausdifferenzierung separater „Wertsphären“ nannte, darunter die ökonomische, politische, ästhetische,erotische (sic!), intellektuelle und religiöse Wertsphäre.
Habermas kommt, angeregt durch Weber, zu einer Aufteilung der Wertsphären in Wissenschaft, Recht/Moral und Kunst.
Die Frage stellt sich nun, ob die Kategorien „Politik, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Recht“ (welche ich für verbindlich halte) alle auf eine gleiche Ebene gestellt werden können oder ob eine von ihnen ähnlich übergeordnet ist wie Politik/Religion in den voraufklärerischen Zeiten.
Ich meine: ja. Es scheint nach wie vor die Politik zu sein, welche im Gesamtsystem der Kategorien die mächtigste Funktion erfüllt. Denn durch sie können alle anderen Sphären gesteuert werden. Natürlich kann man marxistisch einwänden, dass die Wirtschaft den wahren Machtfaktor bildet, indem sie die Politik offen oder aus dem Verborgenen kontrolliert. Das ist in der Praxis zweifelsohne auch der Fall. Dennoch ist solche Lenkung politischer Handlungen - auch wenn sie partikularen ökonomischen Interessen folgen - ein politischer und kein ökonomischer Akt.
Ich meine also, dass (unter den ´sekundären´ Kategorien) dem Politischen ein funktionales Primat zugesprochen werden muss. Wer das anders sieht, muss sich fragen lassen, ob er/sie durch die politisch relativ stabile Situation der BRD (und Europas) sich zu einer Unterschätzung der Bedeutung des Politischen verführen lässt. Gerade in Zeiten politischen Aufruhrs wird nämlich erkennbar, dass Politik zwar nicht alles ist, das aber alles nichts ist, wenn die politischen Verhältnisse aus dem Ruder laufen.
Zum Politischen gehört der Staat und, in dessen legislativer, juridischer und exekutiver Funktion, das Recht. Letzteres ist eine Kategorie, die zwar als gesondert betrachten werden kann (siehe meine Kategorienliste), aber von allen am stärksten an das Politische gebunden ist (Gesetzgebung und -veränderung im Parlament). Allerdings gilt auch, dass Politik durch Recht kontrolliert wird.
@Claus:
Die zweite Kategorie ist nach meiner Weltordnung die KUNST, zu der nach meiner Meinung sowohl Spiritualität (als umfassende enorm nützliche Lebenskunst der Menschheit)…
Nein, mit ´Lebenskunst´ hat Spiritualität nun wirklich nichts zu tun. Dieser Begriffsverknüpfung ist sehr unglücklich und zeigt, dass du das Spirituelle bisher nicht wirklich verstanden hast. Aber das kann ja noch werden.
Ich belasse es aus Zeitmangel bei diesen unvollständigen Andeutungen.
Chan