Ich kann deine Reaktion nicht verstehen. Hans-Jürgen hat hier eine berechtigte und interessante Frage gestellt. Im weitesten Sinne geht es dabei um den - gegenwärtig allerorten zu spürenden - Konflikt zwischen einem Freiheitsrecht (hier: Kunstfreiheit bzw. Ausdrucksfreiheit, also die Freiheit einer öffentlichen Stelle, Kunst zu präsentieren) versus selbst geschaffener gesellschaftlicher Konventionen („Man“ darf nicht dies und jenes - hier: Man darf kein Gedicht zur Schau stellen, das die harte Prüfung der selbsternannten Sexismus-Wächter nicht besteht).
Hans-Jürgens Frage, wie viel an derartigen Einschränkungen die Gesellschaft verkraften könne, ist durchaus berechtigt. Aber langsam. Erst sollte man analysieren, was genau geschehen ist. Anders, als beispielsweise @Raketenbasis vermutet, wird das Gedicht nicht einfach überstrichen, weil man etwas anderes haben will. Klar, die Wand wird irgendwann mal überstrichen. Aber in diesem Fall ist es eben so, dass es eigentlich noch lange dort zu lesen sein sollte. Man plant die Entfernung bewusst, weil gewisse Kreise es fordern.
Mithin geht es um Ausübung von Macht. Logik und Stringenz ist nicht dabei. Würde jemand dieser „Machthaber“ etwas gegen Frauenunterdrückung unter Muslimen sagen? Sicherlich nicht. Es geht also um Machtausübung gegenüber einem gewissen Feindbild (gerne werden „weiße, alte Männer“ oder die von „Sexismus und Rassismus durchsetzte westliche Gesellschaft“ als Feindbild ausgemacht, du kannst es gerne auch anders nennen, das Feindbild „die Banken“ kennst du ja auch).
Ich empfehle nochmals das Interview mit Röder im Tagesspiegel. Auszug:
Eine Folge der Postmoderne ist die Genderdebatte. „Gender Mainstreaming“ ist Ziel internationaler Abkommen. Sie sind einer der wenigen renommierten Gesellschaftswissenschaftler, der diese Entwicklung kritisch sieht. Was stört Sie daran?
Grundsätzlich hat die Postmoderne völlig Recht: Die Nation ist genau so wenig eine naturgegebene Kategorie wie die bürgerliche Geschlechterordnung des 19. oder 20. Jahrhunderts. Beides sind kulturelle Konstrukte, beides sind auch Ordnungen von Macht. Jetzt aber kommt mein Einwand. Die Postmoderne sagt, dass alle Ordnungen diskursiv erzeugte Machtkonstrukte sind. Wenn das so ist, dann geht es auch bei den Forderungen nach Anti-Diskriminierung, Diversität und Gleichstellung um Macht.
Das ganze Interview ist lesenswert. Auf den vorliegenden Fall übertragen bedeutet seine These: Es gibt einen gewissen Kreis an Leuten, der sich herausnimmt, darüber bestimmen zu können, wo die Grenzen der Kunstfreiheit sind. Ein nicht definierter Zirkel an Personen und Institutionen definiert, was zulässig ist und was nicht. Wechselseitig gestützt werden diese Konventionen durch Kirchen, Schulen, Parteien usw. Dort wird auch gesagt, was man zu tun habe, Abweichler sind nicht gern gesehen.
Man erinnere sich an früher, beispielsweis an die fünfziger oder sechziger Jahre. Damals hieß es etwa, als Mann dürfe man keine langen Haare haben. Oder man dürfe keine gleichgeschlechtliche Person lieben. Gab es dafür sachliche Gründe? Kein Mensch wird wegen seiner Haarlänge zum Bombenleger. Kein Homosexueller hat jemals jemanden mit seiner angeblichen „Krankheit“ angesteckt. Damals hat eben auch ein selbsternannter Zirkel an Leuten die Konventionen gesetzt, und die Lehrer in den Schulen haben es für richtig befunden, ebenso wie die Kirchen oder die Parteien.
Macht über andere ausüben, bestimmen, was man zu tun und zu lassen habe. Man kriegt es nicht aus den Menschen raus. Vielleicht kann man es soziologisch oder evolutionär erklären, ich weiß es nicht.