Wirtshauskultur

Hallo.

Ist der Begriff Wirtshauskultur spezifisch österreichisch? Ich wollte gerade danach suchen und bekam fast nur Ergebnisse von österreichischen Seiten.

Grüße
Ostlandreiter

Hallo OLR,

in der Tat war ich entsetzt, unter dem reichsdeutschen Pendant „Gaststättenkultur“ unter den ersten Hits ausgerechnet mein liebes Ravensburg zu finden, wo eine Gaststätte vor nicht allzu langer Zeit etwas war, wo man bloß reigschmeckte Koga und Neureiche finden konnte.

Der Begriff „Wirtshaus“ oder „Wirtschaft“ mag tendenziell eher im oberdeutschen Sprachraum benutzt werden, aber es ist kein Wort aus einem obderdeutschen Dialekt. Vgl. hierzu Boiz (westlich), Boazn/Beisl (östlich). Oder einfach bloß „beim Wirtn“.

Je mehr ich über den Begriff meditiere, desto sinnleerer erscheint er mir. Was ist Wirtshauskultur?

Martin Walser hat einmal gezeigt, dass sinnleere Begriffe aus der Standardsprache entlarvt werden können, wenn man sie in einen Dialekt übertragen will: Es geht nicht.

Wenn es bei babelfish eine Option „Kakanisch“ gäbe, würde dort der Begriff „Wirtshauskultur“ eventuell übertragen in „Heislschmäh“. Wobei das Heisl notabene nur ein vergleichsweise kleines Gemach in einer Wirtschaft ist, aber das macht dem babelfish ja nicht so viel aus. Und würde hier sogar zu einem Zufallstreffer führen.

Und über diesen Bogen zurück zu Deiner Frage: Leute, die vor der Verwendung des genannten Begriffes nicht zurückschrecken, gibt es wohl nicht bloß in Österreich. Aber der Vergleich mit „Gaststättenkultur“ illustriert eine Art NW/SO-Tendenz.

Schöne Grüße

MM

Oh Gott!
„Wirtshauskultur“ ist eine Lebensart!

Man geht zum Wirten (in grauer Vorzeit Sonntags nach der Kirche, die Männer gleich nach der Kommunion ***grins***) um sich zu unterhalten, den Dorftratsch auszubreiten, etwas zu trinken,…; geht auch in Richtung Stammtischkultur - ganz bodenständig. Du bist mit dem Wirt „per du“, es wird Gemeindepolitik gemacht, … Also in diese Richtung.

Gegenteil ist Fastfood jeder Art, Ethno-Lokale, aber auch Gourmettempel - alles was halt kein „Wirtshaus“ ist.

lg. Christine

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Hallo Martin,
„Wirtshauskultur“ und „Gaststättenkultur“ ist nicht das gleiche. Wenn du ein „deutsches“ Pendent zum „Wirtshaus“ suchst, wird das eine Kneipe oder was in dieser Richtung sein, „Gaststätte“ ist viel zu allgemein. Und ehrlich gesagt, deinen Schwenk von der Wirtshauskultur zum Heislschmäh versteh ich nicht. Der Unterschied zwischen „Beisl“ und „Heisl“ (eigentlich „Häusl“) ist dir schon klar?
Grüße, Peter

Servus Christine,

was Du beschreibst, kenne und liebe ich natürlich auch. Wer aber gern in die Wirtschaft geht und Vergnügen daran hat, was sich da abspielt, wird den Begriff „Wirtshauskultur“ dafür nicht benutzen. Warum sollte er? Deine Beschreibung: Man geht hin, man kennt die, die immer da sind, man hat das besondere Verhältnis zum Wirt usw. - reicht dafür völlig aus.

Der Begriff „Wirtshauskultur“ ist ein Wort aus dem Lifestyle-Vokabular. Klar gibts in Wirtschaften, soweit sie den Rang einer Institution einnehmen, die Adabeis. Denen in der Regel ihr eigener Status gar nicht bewusst ist. Zu denen passt der Begriff ganz gut.

vgl. „Doppelkopfkultur“, „Binokelkultur“, „Jass-Kultur“, „Kegel-Kultur“ usw.: Diese Worte wirst Du von gestandenen Doppelkopfern, Binoklern etc. kaum hören. Wer dabei ist, macht keine Worte darüber.

Schöne Grüße

MM

Servus Peter,

„Wirtshauskultur“ und „Gaststättenkultur“ ist nicht das
gleiche. Wenn du ein „deutsches“ Pendant zum „Wirtshaus“
suchst, wird das eine Kneipe oder was in dieser Richtung sein,
„Gaststätte“ ist viel zu allgemein.

Hier gibt es viele regionalen Differenzierungen. Südlich Ulm, wo ich die Nuancen relativ gut kenne, gibts als Sammelbegriff die Wirtschaft. Aber den braucht man eigentlich nicht, sondern man geht zur Berta, zur Tina, in den Rebstock, in den Schwanen etc. Wenn man südlich des Mains auf eine „Kneipe“ stößt, muss man damit rechnen, dass der Wein abgestanden, das Bier nicht ordentlich gezapft und die Spielautomaten unerträglich laut sind. - Der vorgelegte Begriff ist einer, der nicht Verallgemeinerbares schubladisieren will und insofern zwangsläufig allgemein bleiben muss.

Daher mein

Schwenk von der Wirtshauskultur zum Heislschmäh -

der allerdings über ein paar Ecken rum assoziiert ist. Ich habe mir einen Soziologen vorgestellt, der über „Wirtshauskultur“ referiert und sich dabei ausgerechnet an den langen Tisch bei der Tina im Goldenen Rebstock verirrt hat. Und die Reaktion von der Tina darauf, die da möglicherweise gelautet hätte: „Di hont woll d’Zigainer em Trab verlora?“

In diesem Sinne

MM

Hallo!

Ist der Begriff Wirtshauskultur spezifisch österreichisch? Ich
wollte gerade danach suchen und bekam fast nur Ergebnisse von
österreichischen Seiten.

Nein, er ist nicht spezifisch österreichisch. Auf die ganzen .at-Seiten bist du wohl nur gestossen, weil unsre südöstlichen Nachbarn sich mehr mit dem allgemeinen Verfall regionaler Kultur beschäftigen - warum auch immer…

Aber wenn du beim googeln nur „Seiten aus Deutschland“ auswählst, kommst du auch auf über 900 Seiten…

Zu Martins Exkurs: Was ist eigentlich Wirtshauskultur?

Im Unterschied zu Martin, der offenbar unter Wirtshauskultur etwas „aufgesetztes“ versteht (Martin: bitte um Korrektur, falls ich´s doch falsch verstanden habe), sehe ich das anders:
Das Wirtshaus, das war „der“ Ort im Dorf bzw. Viertel (in der Stadt), der Hauptanlaufpunkt für die war, die gemütlich ein Bier (oder mehrere) trinken wollten, dort auf immer die gleichen Leute treffen wollten und ratschen, Karten spielen o.ä. wollten. Hat ja auch Christine schon geschrieben.
Die Betonung liegt auf „war“, denn die Dorfwirtshäuser (mein Vater war noch ein solcher Dorfwirt, deswegen glaub ich hier ganz gut mitreden zu können) sterben aus Mangel an Kundschaft langsam aber sicher aus - und damit die dazu gehörende Kultur.
Ein Beispiel: Die dort gespielte (besser: gemachte) Musik. Das war noch echtes Volksgut, deftig, anzüglich, mit Texten rund ums Saufen oder Kartenspielen. Das muss jetzt mühsam konserviert und ausgegraben werden. Und was manchmal in Touri-regionen als „Wirtshauskultur“ angepriesen wird, ist dann wieder was ganz was anderes…
Die echten Frühschoppen-Wirtshausgeher wissen aber genau, was Wirtshauskultur ist. Sie selber werden diesen eher volkskundlichen Begriff zwar kaum benutzen, sie wissen aber sicher haargenau, was er bedeutet. Jedenfalls nix mit Lifestyle. Der bringt wie gesagt die Wirtshauskultur grade zum Erlöschen.

Im Unterschied zum Wirtshaus konnte/kann man im Gasthaus auch übernachten, ins Restaurant gehen die Leute nur zum Essen. Das sind dann aber i.A. andere Leute als die, die ins Wirtshaus gehen.

Soweit mein „kurzer“ Exkurs, ich gebe zurück an die Zentrale…

Vg
Christian