Enkidu-Mythos und ödipale Situation
Hi FraLang.
Der berechtigte Gegenwind, der deinen unglücklichen Formulierungen hier entgegenschlägt, hat freilich noch keine substantiellen Antworten zur Frage der Mythosentstehung gebracht.
Hat das jüdische Volk irgendetwas an sich, sodass es immer
wieder zu diesen Problemen kommt?
„Volk“ ist eine Abstraktion. Es gibt nur Individuen. Das nennt man Nominalismus.
Entstand der Mythos um die Vertreibung aus dem Paradies in dem Bewusstsein und durch die Kenntnis dieser Problematik?
Unmöglich. Der entsprechende Text datiert etwa um 1000 v.u.Z. Welche Vertreibungsproblematik soll er reflektieren? Die ersten Deportationen durch das assyrische Großreich geschahen im 8. Jhd. v.u.Z., dann noch einmal im 6. Jhd. v.u.Z., das betraf ingesamt aber „nur“ 33.000 Juden aus der Oberschicht. Nach dem Bar-Kochba-Aufstand 135 u.Z. verloren die Juden das Siedlungsrecht in Israel und wurden ins ganze Römische Reich verstreut. Ich sehe keinen Bezug zu all dem in der Genesis-Story.
Es gibt im Gilgamesch-Epos eine Handlung, die dem biblischen Mythos wahrscheinlich Pate stand: die Story um Enkidu und die Tempeldienerin Samhat. Enkidu war wie Adam aus Lehm geformt worden und noch kein richtiger Mensch, er verbrachte seine Zeit damit, die wilden Tiere vor den Fallen der Menschen zu warnen. Da wurde Samhat auf ihn angesetzt, um ihn zu verführen und damit zu einem richtigen Mensch zu machen.
Das Ergebnis des Koitus war sein Austritt aus dem Naturparadies:
„Dann wandte er den Blick nach seinem Tier.
Doch nun, als die Gazellen Enkidu erblickten, flohen sie vor ihm davon.
Das Wild der Steppe wich vor ihm zurück, und Enkidu erschrak, sein Leib ward starr, die Knie wankten, und es war nicht wie zuvor, doch nun hatte Wissen; er begriff.
Umkehrend sank er zu der Dirne Füßen, erhob zu ihrem Antlitz seine Augen und hörte auf die Worte, die sie sprach.
Es hob die Dirne an zu Enkidu: Klug bist du nun, Enkidu, wie ein Gott.“
Er hatte also, wie Adam, Erkenntnis gewonnen, aber die Unmittelbarkeit des Natürlichen (symbolisiert durch sein inniges Verhältnis zu Tieren) verloren.
Last not least füge ich eine psychoanalytische Deutung an. Die Paradiesvertreibung ist eine Analogie des Übergangs von der Mutter-Kind-Dyade zur ödipalen Situation. Das Kind hat gelernt, dass seine narzisstische Symbiose mit der Mutter aufzugeben ist, da die Mutter dem Vater „gehört“. So tritt das Kind in die Welt des Gesetzes ein, d.h. der sozialen Notwendigkeiten. Im Genesis-Mythos wird das dadurch gezeigt, dass die Frau unter Schmerzen gebären muss und der Mann „im Schweiße seines Angesichts“ das Notwendige zum Leben erarbeiten muss.
Chan