Präpersonale vs. transpersonale Religion
Hi.
Ich bin überzeugt, dass die harten Fakten unserer Existenz (Sterblichkeit, Altern, Krankheit, Unbeständigkeit, Unkontrollierbarkeit) die Bedingung dafür ist, dass Menschen Religionen erschaffen oder Zuflucht darin suchen.
Stand 2015 werden Religionen nicht mehr erschaffen, sondern entweder übernommen oder modifiziert. Grundlegend Neues ist auch in Zukunft nicht zu erwarten. Der Ausdruck „Zuflucht“ reduziert das Phänomen auf das Marx´sche Opium des Volkes, was in Bezug auf das Christentum sicher seine Berechtigung hat, aber nicht dem ganzen Spektrum des Religiösen gerecht wird, wie du ja auch weißt (sofern ich deine bisherigen Ausführungen richtig verstehe).
Relevant für die ursprüngliche Entstehung des religiösen Denkens sind die psychologischen und sozialen Umstände der prähistorischen Menschheit im Paläolithikum (Genese des Schamanismus und des Urmutter-Kultes) und im mittleren Neolithikum (Genese erster männlicher Götter). Der schamanistische Aspekt ist ein dauerhafter, d.h. die Erforschung des Übersinnlichen bzw. Transzendenten wird immer ein Teil der menschlichen Kultur sein. Kulte um symbolische Gottheiten dagegen werden eines Tages der Geschichte angehören.
Dazu ein paar Auszüge aus einem älteren umfangreichen Beitrag von mir im RW-Board:
Die eigentliche Religiosität beginnt mit dem Bewusstwerden des Übernatürlichen. Dieses markiert den Beginn des Schamanismus, der hauptsächlich als Methode zu definieren ist, durch veränderte Bewusstseinszustände mit einer geistigen Welt in Kontakt zu treten, um das Wohl der eigenen Gruppe fördern. Die zu diesem Zweck angestrebten ekstatischen Zustände werden durch durch rhythmisches Tanzen, Gesang, nervenbelastende Initiationen und die Einnahme psychoaktiver Drogen ausgelöst.
(…)
Die Paläolithiker dachten analogisch: Ähnlich wie der menschliche Mutterschoß bringt auch die Erde Leben zyklisch hervor, also imaginierte man sie als einen alles gebärenden Mutterschoß, in den das Leben sterbend zurückkehrt, um in neuer Gestalt wiederzuerstehen, und übertrug diese Vorstellung auf die Kulthöhle, die somit den Mutterleib und die ´Mutter Erde´ repräsentiert. Noch viele Jahrtausende später wird man in Ägypten das Sterben als Rückkehr in den Schoß der göttlichen Urmutter Nut (= Vulva) ansehen, deren Bild die Deckel vieler Särge zierte. Vermutlich galt die paläolithische Urmutter auch als Ur-Ahnin aller menschlichen Mütter, d.h. alle matrilinearen Generationen gingen aus ihr hervor.
(…)
Im neolithischen Catal Hüyük (um 7000) sind, aus archäologischer Sicht erstmals, Indizien für einen maskulinen Gott erkennbar, der als stiergestaltiger Sohn der Urmutter verehrt wurde. Aus diesem Stiergott entwickelten sich nach und nach die unterschiedlichen Ausformungen männlicher Gottheiten, die zunächst vor allem eines waren: Fruchtbarkeitsgötter. Das lässt sich z.B. am Fruchtbarkeitsgott Enki erkennen, dem am frühesten nachweisbaren Mann-Gott der sumerischen Religion.
Zum Thema „Theismus und Buddhismus als Erziehungssysteme“ schrieb ich:
Beide Systeme bauen - zumindest in ihrem ursprünglichen Denken - auf eine unbedingte Hingabe (oder Sichfesthalten) an eine bestimmte Überzeugung.
Dann du:
Worin besteht deiner Meinung nach im ursprünglichen Denken des Buddhismus eine unbedingte Hinhabe an eine bestimmte Überzeugung? Meines Eindrucks nach hat Buddha nie eine unbedingte Hingabe an seine Lehre eingefordert. Eher im Gegenteil…
Ich schrieb „Hingabe (oder Sichfesthalten) an eine bestimmte Überzeugung“ und nicht „an seine (Buddhas) Lehre“. Mit „Überzeugung“ meine ich die innere Überzeugung eines Adepten von der Richtigkeit seiner Entscheidung, den buddhistischen Weg zu gehen. Es geht um ein konsequentes Festhalten daran auch in Momenten des Zweifels oder Überdrusses. Das ist formal vergleichbar mit dem unbeirrbaren Festhalten (aman) des Jahwe-Anhängers an seinem Gott oder, objektiv gesagt, an seiner Vorstellung des einen wahren Gottes.
Auch halte ich beide Systeme für „erzieherisch“, nicht nur den Buddhismus.
Ja, aber meines Erachtens ist Erziehung das zentrale Merkmal im Buddhismus. Auf den Punkt gebraucht geht es im Buddhismus darum, durch die eigene Erziehung in sīla (Tugend), samādhi (meditative Versenkung) und paññā (Weisheit) zur Erleuchtung zu gelangen. Es wird also im Buddhismus die eigene Initiative gefordert, sich in diesen Dingen zu Erziehen.
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Was du hier als typisch buddhistisch darstellst, trifft im großen und ganzen auch auf hinduistische Systeme wie z.B. Yoga zu, kann also kein „zentrales Merkmal im Buddhismus“ sein. Ein solches wäre in Abgrenzung von hinduistischen Systemen zu definieren.
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Die von dir angesprochene Selbst-Erziehung basiert auf Grundsätzen, die von außen, d.h. von der buddhistischen Lehre vorgegeben werden. Ist es nicht per definitionem das Ziel von Erziehung, dass der Betroffene lernt, sich mit Verhaltensformen, die ihm ein Erziehungssystem nahelegt (oder aufzwingt, je nachdem), innerlich zu identifizieren? Ich würde auch weniger von „eigener Initiative“ als vielmehr von „Selbstdisziplin“ sprechen, da „Initiative“ eine geistige Eigenständigkeit suggeriert, die ein Adept, der den Prinzipien einer Lehre folgt, gar nicht hat. Jedenfalls agiert der Adept als Ausführender einer externen (und ggf. verinnerlichten) Anweisung. Entsprechendes gilt für den Jahwisten oder Christen oder Muslim, welche die Dogmen und Anweisungen ihrer Religionen befolgen.
Das ist in den Glaubenssystemen anders, die (nach meinem Wissen und Verständnis dieser Religionen) die Verantwortung für das eigene Heil auf einen Gott abwälzen, der einen zum Heil führen wird, wenn man sich ihm bloß gehorsam hingibt.
Genau diese „gehorsame Hingabe“ ist viel leichter gesagt als getan. Warum drohen die Götter der monotheistischen Religionen denn mit sadistischen Strafen - im Christentum und Islam die ewige Hölle - für den Fall des Ungehorsams? Eben weil Gehorsam von der Sorte, die diese Götter (d.h. ihre Propheten und Priester) einfordern, alles andere als ein Selbstläufer ist. Das orthodoxe Judentum kennt, in Analogie zu einer Zwangsneurose, 613 strenge Verhaltensregeln (Mitzwot), die nicht verletzt werden dürfen, was im praktischen Leben fast unmöglich ist.
(Beispiele:
156. Dass man am Vorabend des Pessachfestes allen Sauerteig aus den Häusern wegschaffe. 157. Dass man am ersten Pessachabend die Geschichte des Auszugs aus Mizrajim seinen Kindern erzählen müsse.158. Dass man diesen Abend ungesäuertes Brot essen müsse (sowie den folgenden Tagen des Festes). 159. Dass man den ersten Pessachtag ruhen müsse. 160. Ebenso am siebenten Tage des Pessachfestes. 161. Dass man von der Ernte an 49 Tagen zählen solle. 162. Dass man am 50. Tage ruhen solle. 163. Dass man am ersten Tage des siebenten Monats ruhen soll. 164. Dass man am zehnten Tage desselben Monats sich peinigen müsse. 165. Dass man an diesem Festtage ruhen müsse. 166. Dass man am ersten Tag von Sukkoth ruhen müsse. 167. Ebenso am achten Tage desselben Festes. 168. Dass man an diesem Feste sieben Tage in Laubhütten wohne. 169. Dass man den ersten Tag dieses Festes einen Lulaw (Palmzweig) trage)
Auch das Für-nicht-existent-Halten anderer Götter und Göttinnen, ein notwendiger Bestandteil der „gehorsamen Hingabe“ an Jahwe, war zur Zeit der entstehenden jüdischen Religion alles andere als selbstverständlich. Die israelitischen Propheten und Jahwe-allein-Propagandisten kämpften vom 9. bis ins 6. Jahrhundert BCE mit Drohungen und Flüchen und teilweise offener Gewalt (z.B. Massenmord an 450 Baal-Anhängern) gegen das Festhalten des israelitischen Volkes am Polytheismus:
(1 Könige 18,40 Und Elia sagte zu ihnen: Packt die Propheten des Baal, keiner von ihnen soll entkommen! Und sie packten sie. Und Elia führte sie hinab an den Bach Kischon und schlachtete sie dort)
Sie forderten stattdessen die Alleinverehrung eines in kosmische Dimensionen aufgeblasenen narzisstischen Despoten, der, anders als die nur mit Königen verkehrenden Hochgötter des Polytheismus, Hinz und Kunz unter die Bettdecke schaut.
Fazit: Ich sehe nach wie vor keinen Grund, „belief“ und „education“ als entscheidende Kriterien der Unterscheidung zwischen Theismus und Mystik zu akzeptieren, 1) weil der Begriff Glaube / belief mit seinen heutigen Konnotationen die psychologische Realität des antiken Denkens völlig verfehlt, und 2) weil „education“ in beiden Systemen geschieht, im Theismus in ihrer „hard version“, in der Mystik als „soft version“.
Auf die Gefahr hin, stur zu erscheinen, halte ich die inhaltlichen Unterschiede, auf die ich in meinem ersten Beitrag Bezug nahm, für weit besser geeignet, die Differenzen zu charakterisieren.
A propos Mystik: Die Konnotation der Weltfremdheit haftet daran nur für Leute, die nichts davon verstehen, also für die allermeisten… Beim Term „Spiritualität“ ist es nicht anders.
„Präpersonale“ versus „transpersonale“ Religion in Anlehnung an die Theorie der Bewusstseinsebenen von Ken Wilber ist sicher eine sinnvolle Alternative, allerdings ebenfalls nur einer erlesenen Minderheit verständlich. „Präpersonal“ entspricht der primitiven magisch-mythischen, d.h. vor-rationalen Bewusstseinsform, wie sie typisch ist für Poly- und Monotheismus. „Personal“ entspricht einer rationalen, d.h. atheistisch-materialistischen und somit nicht-religiösen Denkweise. „Transpersonal“ geht über beide Bewusstseinsformen hinaus, indem sie Rationalität (= Negation des präpersonalen Magisch-Mythischen) mit einem Bewusstsein für das apersonale Transzendente verbindet (charakteristisch für Yoga, Vedanta und Buddhismus).
Chan