Hallo Janina,
Auch was das Nein-Sagen angeht, muss man da durchaus sehr
vorsichtig sein. Es gibt bei Traumatisierung einen Zustand,
den man Freeze nennt. Ein Zustand, in dem man „wie gelähmt“
ist. Man kann nicht fliehen. Nicht vor dem Tsunami, was die
teilweise irrational wirkenden Bilder erklärt, die man kennt,
wo die Leute in die nur noch 30. 40 m entfernte herantosende
Welle starren. Nicht unmittelbar vor oder bei einer
Vergewaltigung, was erklärt, warum sich tatsächlich
Vergewaltigungsopfer manchmal nicht wehren können - es geht in
diesem Zustand nicht. Das ist aber nicht gleichzusetzen damit,
während bestimmter Handlungen in eine Überlegungsschleife zu
geraten, die zur Abwägung führt, dass man jetzt lieber nichts
tut, weil sonst Menschen wach werden könnten, von denen man
nicht möchte, dass sie wach werden.
zwischen dem absoluten Freeze und absolut rationalen Abwägungen gibt es aber noch jede Menge Zwischenstufen. Auch wenn die im Nachhinein geschilderten Abwägungen rational erscheinen, müssen sie das keineswegs sein, sondern können völlig unlogisch sein und dem üblichen Alltagsverhalten deutlich widersprechen.
Ein Beispiel aus meinem Leben: Vor diversen Jahren wurde ich Opfer eines Gewaltverbechens, bei dem der Täter zunächst versuchte, mich umzubringen, und dann, als ihm dies nicht gelang, weil ich mich aus seiner Reichweite entfernte, meine Wohnung vollständig zerlegte. Obwohl ich zu dieser Zeit in einem großen Wohnblock mit vielen Mietparteien lebte und mich bereits aus meiner Wohnung entfernte hatte, kam mir in dieser Situation nicht der Gedanke, bei einem Nachbarn Hilfe zu suchen, ja, ich kehrte sogar in die Wohnung zurück, um den Täter von der Zerstörung abzuhalten. Dabei machte ich mir besonders Sorgen um völlig wertlosen Nippes, der zu Bruch ging, nicht etwa die Möbel oder Wertgegenstände oder gar mein eigenes Leben. Als mein Telefon zu Bruch ging, dachte ich nicht etwa daran, dass ich jetzt nicht mehr die Polizei rufen könnte (die schiere Existenz von Polizei war in meinem Gehirn nicht mehr vorhanden), sondern nur noch, dass ich jetzt nicht bei der Arbeit anrufen und Bescheid sagen konnte, dass ich später kommen würde. Als schließlich irgendwann alles vorbei war und meine Wohnung komplett zerstört, war meine größte Sorge, dass eine kleine Glasscherbe in der Sohle meines neuen Schuhs steckte.
Während des ganzen Geschehens machte ich scheinbar rationale Abwägungen - aber der Inhalt dieser Abwägungen war völlig irrational. Wenn du mich vorher gefragt hättest, ob ich mich so verhalten würde, hätte ich das weit von mir gewiesen; in anderen, mich nicht direkt betreffenden Fällen hatte ich bereits zuvor ganz selbstverständlich zum Telefon gegriffen und die Polizei gerufen.
Wichtig ist das aber auch, weil eine Ausdehnung dazu führen
kann, dass Frauen aus der Selbstverantwortung gehen. Hier wird
es heikel: Selbstverantwortung heißt nicht Schuld!!! Diese
Selbstverantwortung ist aber in der allgemeinen Prävention
(und dazu gehört auch Erziehung!) genauso wichtig wie in der
Arbeit danach, wenn man in der Arbeit mit Betroffenen diese
wieder in den Zustand bringen möchte, zu erkennen, wie sie
sich künftig durchaus wehrhaft zeigen können.
Natürlich ist es gut und sinnvoll und überaus wichtig, allen im Rahmen der Erziehung die Möglichkeiten und Mittel an die Hand zu geben, um in solchen Situationen für sich selbst einzustehen. Da gibt es auch sicherlich noch einiges zu tun. Ich halte es aber für bedenklich, so zu tun, als könnte man durch entsprechende Maßnahmen im Vorfeld den Ablauf eines sexuellen Übergriffs quasi rationalisieren. Es handelt sich dabei nun einmal um Ausnahmesituationen, in denen es geschehen kann, dass die eigenen Schutzmechanismen versagen. Dies sollte man den Opfern m.E. nicht zum Vorwurf machen.
denn diese
Frau hatte die Wahl. Sie war nicht im Freeze. Wenn, hätte sie
abgesehen von der Überlegungsschleife nicht einmal schubsen
können.
Wie gesagt, auch wenn die Überlegungen rational erscheinen mögen, sind sie es deshalb nicht unbedingt. Ich fände es sehr wünschenswert, wenn sich hier einmal ein Psychologie zu dem Thema äußern könnte.
In der beschriebenen Situation hätte es durchaus Raum für mehr
Abwehr gegeben. Dies nicht getan zu haben, entlastet den Täter
genauso wenig, wie es die Frau zur Mitschuldigen macht. Hier
geht es (aber) um die Selbstverantwortung der Frau (bzw. jedes
potenziellen Opfers, s.u.) Achtung: Selbstverantwortung für
ihr Tun. Nicht Verantwortung für das Tun des Täters. Dafür ist
der vollumfänglich selbst verantwortlich. Es ist für die
Verarbeitung nach einem solchen Vorfall ein wichtiger
Unterschied, ob die Betroffene das hat über sich ergehen
lassen und nur durch Ablassen ist es nicht zu noch Schlimmeren
gekommen, oder ob sie sich deutlicher gewehrt hätte und das
Ablassen eine Folge dessen, auch wenn es nachher ggf. noch zu
einem Kampf an der Uni gekommen wäre.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man sich, wenn man - gerade wenn man bislang eigentlich eher taff und lebenspraktisch mit Problemen aller Art umgegangen war (auch die Frau aus dem Artikel wirkt auf mich nicht wie ein generell hilfloses Girlie, da sie bereits vor dem Vorfall politisch aktiv war) - sich in einem solch scheinbar rationalen, in Wirklichkeit aber völlig irrationalen Gedankenstrudel erlebt hat, nach dem Geschehen bereits zur Genüge fragt, warum man sich nicht anders verhalten hat. Und dass es einen gewaltigen Unterschied ausmacht, ob man sich selbst das fragt oder ob es andere tun. Die Nachfragen anderer werden, selbst wenn sie eher Ausdruck des Erstaunens sind, durchaus als Vorwurf empfunden und führen nicht selten zur Retraumatisierung.
Deshalb ist es m.E. auch wichtig, dass diese Diskussion nicht
nur von einem bestimmten Kreis Feministinnen angeführt wird,
die das Thema m.E. ausschließlich für eigene Zwecke
instrumentalisieren. Denn in die Diskussion, wie man, wie
Gesellschaft damit umgeht, gehört viel mehr. Dazu gehör auch
der Blick zu anderen Bereich, die überhaupt nicht in der
Öffentlichkeit angesprochen werden: Männer als Opfer von
Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen. Damit auch Frauen
als Täter (übrigens auch von häuslicher Gewalt!) Sexuelle
Übergriffe von Patienten / Heimbewohnern gegenüber
Pflegepersonal. Sexueller Missbrauch von Behinderten. All dass
gehört in den Blick. Und nicht etwa erst dann, wenn die
Betroffenen selbst die Stärke gefunden haben für einen
medialen #Aufschrei!
Auch wenn mir im Verlaufe dieses Threads vorgewurfen wurde, mir ginge es darum, Frauen per se als Opfer und Männer als Täter darzustellen, habe ich schon frühzeitig gesagt, dass das Geschlecht von Täter und Opfer bei der Bewertung völlig irrelevant ist.
Ich finde es, ehrlich gesagt, auch etwas enervierend, dass in derartigen Diskussionen immer wieder unterstellt wird, es ginge darum, den Männern eins reinzuwürgen.
Ein anderer Umgang mit dem Thema täte wirklich Not. Wie sehr,
sieht man an diesem Diskussionsverlauf, in dem nur eine solche
Frage, wohl auch, weil sie von einem Mann gestellt wurde,
solch ein breites Echo an Aversion hervor ruft.
Ich kann nur für mich sprechen: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich genauso reagiert hätte, wie ich reagiert habe, wenn die Frage von einer Frau gestellt worden wäre, da ich auf die Formulierungen reagiert haben und nicht auf den Fragesteller (den ich im Allgemeinen mag und schätze). Und die Formulierungen im UP und weiteren Beiträgen finde ich nach wie vor nicht in Ordnung: Mit „vermeintlich“ wird der Wahrheitsgehalt des Geschehens in Zweifel gezogen, er spricht dem Opfer wegen des „nicht ausreichenden“ Wehrens das Recht ab, sich als Opfer zu fühlen, und liefert gleich im UP eine zynische Uminterpretation des Geschehens, die den sexuellen Übergriff negiert. Auch seine teilweise sehr heftigen Reaktionen und die Weigerung, auf Argumente einzugehen, finde ich ziemlich irritierend bis ärgerlich.
Beste Grüße
=^…^=