Liebe Jule,
ich weiß, wie schwer es ist, Dinge zu verstehen, die man nicht selbst erlebt hat.
Ich möchte jetzt nicht deinen gesamten Text aufgreifen: Aber warum ließ sich Natascha Kampusch über so viele Jahren missbrauchen? Warum lassen sich Kinder bis ins Erwachsenenalter missbrauchen, obwohl sie sich längst hätten wehren können?
Es ist die Angst vor dem, was passieren würde, wenn man die Flucht ergreifen würde. Da bleibt der Mensch ins seiner Einfältigkeit eben lieber in seinem ihm wohl bekannten Gefängnis (so habe ich immer mein Leben wie eine Strafgefangene erlebt ohne zu wissen, weswegen ich im Gefängnis saß.) als irgendwo zu sein, wo er die Gefahren nicht kennt und nicht weiß, wie er diesen Gefahren entgehen könnte…
Das hatte mir damals meine Psychologin so erklärt. Es leuchtet mir ein, ja ich weiß sogar, dass es genauso auch bei mir lief!
Klar, kennt man den Druck und die Tradition. Man lebt hier aber mitten in Europa und hat auch andere Menschen mit anderer Kultur vor Augen.
Man sieht sich mit 12 Jahren nicht anders an als die deutschen Schulkameradinnen. Auch mit 16 führt man ein doppeltes Leben. Eines, was der deutschen Kultur nahe kommt und eines gezwungener Maßen der türkischen!
Mit 18 ist man immer noch abhängig von den Eltern und noch lange nicht flügge. Wo soll man hin? Das als Mädchen, mit Ängsten, die einem während des ganzen Lebens eingetrichtert worden sind.
Wir alle wissen, zu was man Menschen bringen kann…
Weil man eben in zwei Kulturen groß wird und man eben auch bisschen Rebell ist, hat man doch Sex vor der Ehe, trinkt Alkohol und raucht, usw…
Das Reden mit solchen Eltern hat so viel Sinn wie einer Kuh Spanisch bei zu bringen; keinen nämlich.
Sie halten vielleich auch gerade aus Angst vor Veränderung an ihren längst überholten Traditionen fest. Diese sind in der Türkei selbst längst nicht mehr so eng wie hier.
Man muss auch bedenken, welche Menschen aus der Türkei hierher als Gastarbeiter kamen.
Es waren mit Sicherheit nicht die Akademiker oder Menschen mit einer richtigen Ausbildung.
Es waren Menschen, die teils bis heute nicht richtig lesen und schreiben können, die nicht mal ihre Schulpflicht von damals in den 70/80ern von 5 Jahren geschafft haben, die in ihrem Leben das erste Mal in Deutschland eine große Stadt gesehen haben, die damals quasi von den Bergen gestiegen und mitten in Europa gelandet sind.
Sie hatten und haben immer noch ihre Ängste.
Was soll man nun von solchen Menschen anderes erwarten als das, was sie hier jetzt und damals tun und taten?
Diesen Menschen kann man nicht erklären, wie falsch es ist, dass sie so ihre Kinder völlig „bekloppt“ machen.
Ich hatte damals von Verfolgungswahn bis Schlafwandeln allen möglichen Mist (und Alpträume, die waren immer das schlimmste!)
Es ist nicht nur so, dass man eingeschränkt und fast versklavt wird, nein es werden Ängste geschürt gegen die Menschen, die freier leben, also gegen die Deutsche Bevölkerung!!!
Wie böse die doch sind, und was die alles mit jungen Mädchen und Frauen anstellen…(ich will den Scheiß (Sorry für den Ausdruck) nicht weiter ausführen).
Wo will man dann noch hin? Die einen gefährden das geistige und körperliche Wohl(eigene Familie), die anderen noch vieles mehr, was man nicht mal kennt und nichts über die Gefahren weiß!
So leidet man oder versucht durch Suizid dem ein Ende zu setzen.
Wie ausweglos und alleine man sein kann auf einer wahnsinnig gefährlichen Welt und welche Todesängste man aussteht, kann man nur wissen, wenn man selbst in dieser Konstellation der Kulturen und einem Reigen aus Ignoranz und Intoleranz, Intrigen und Manipulation (sowohl auf der türkischen als auch auf der deutschen Seite)gelebt hat.
So einfach ist das leider auch nicht, wenn man 28 ist…
Es ist und bleibt schwierig.
Es muss sich was in den Köpfen der Frauen ändern, die sind nämlich diejenigen, die die Kinder meist allein erziehen. Sie müssen sie für eine freiere Kultur vorbereiten…ich hoffe dies nun seit 39 Jahren!
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich eines Tages feststelle, es werden keine Postings mehr veröffentlicht, wie die meiner 18-jährigen Landsmännin!
Ich will die Hoffnung nicht aufgeben…aber wenn ich sehe, wie die Türkei im Moment im Rückwärtsgang wieder Richtung Fundamentalismus rutsch, wird mir schlecht und ich habe Angst…(das ist aber ein anderes Kapitel).
Ich hoffe, ich konnte dir bisschen etwas von dem näher bringen, was wir so erleben und vor allem wie ich es erlebt habe.
Verständnis ist der wichtigste Schritt, den wir alle tun müssen.
Liebe Grüße
Ayse